Zu diesem Buch:
Dieses Buch ist eines der wichtigsten der letzten Jahrzehnte. Deshalb ist es so
wichtig und notwendig diese Publikation einer ganz breiten Öffentlichkeit zur
Verfügung stellen zu können, damit diese sich eine eigene Meinung bilden kann!
Am 2. Februar 1990, während den 2+4-Verhandlungen zur deutschen Einheit, gaben
der deutsche und der amerikanische Außenminister Genscher und Baker in
Washington, vor laufenden Kameras der Weltpresse bekannt, O-Ton Genscher: “Wir
waren uns einig, daß nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet
nach Osten auszudehnen. Das gilt im übrigen nicht nur im Bezug auf die DDR, die
wir da nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell!“
Wie wir alle
wissen, ist die Geschichte ganz anders verlaufen: Auf dem NATO-Gipfel in Madrid
1997 wurden erstmals Beitrittsverhandlungen mit den ehemaligen Warschauer Pakt
Staaten Polen, Tschechien und Ungarn angeboten, später folgten weitere
osteuropäische Staaten. Am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der
NATO bei. Im November 2002 lud die NATO, beim NATO-Gipfel in Prag, die Länder
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu
Verhandlungen über einen NATO-Beitritt ein. Am 29. März 2004 traten diese sieben
Länder der NATO offiziell bei.
Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde der Beitritt Albaniens und
Kroatiens offiziell beschlossen. Ihr Beitritt wurde für den NATO-Gipfel im April
2009 in Kehl und Straßburg geplant, von allen NATO-Mitgliedern ratifiziert und
am 1. April 2009 vollzogen. Moldawien, Georgien und der Ukraine wurden von den
USA und der NATO schon 2008 eine Mitgliedschaft angetragen. Was damals noch an
einem Veto Deutschlands scheiterte, mittlerweile aber wieder ins Blickfeld
gerückt wurde.
1997 erschien in Amerika auch dieses Buch hier mit dem Titel: „The Grand
Chessboard. American Primary and Its Geostrategic Imperatives“ von Zbigniew
Brzezinski, in Deutschland erschienen unter dem Titel: „Die einzige Weltmacht.
Amerikas Strategie der Vorherrschaft“. Es gilt als Strategiepapier und Blaupause
u. a. für die NATO-Osterweiterung und daher auch für den Umsturz in der Ukraine
im Februar 2013. Die Vereinigten Staaten als „erste, einzige wirkliche und
letzte Weltmacht“ müsse ihre Vorherrschaft auf dem „großen Schachbrett Eurasien“
sichern, um so eine neue Weltordnung zu ermöglichen.
Brzezinski rechnete in seinem Buch bereits 1997 damit, daß bis 1999 die ersten
neuen Mitglieder aus Mitteleuropa in die NATO und 2002 oder 2003 in die EU
aufgenommen würden. Bis 2005 würden die baltischen Staaten beitreten, vielleicht
auch Schweden und Finnland. Zwischen 2005 und 2010 „sollte die Ukraine für
Verhandlungen sowohl mit der EU als auch mit der NATO bereit sein.“ Um die
Vorherrschaft Amerikas in der ganzen Welt durchzusetzen, geht Brzezinski u. a.
davon aus, daß Rußland in mindestens drei Teile zerschlagen werden muß und dann
anschließend China entsprechend ins Visier genommen werden kann: „Somit wird
Amerika ungewollt, einfach durch seine nationale Identität und geographische
Lage, eher Chinas Gegner als sein natürlicher Verbündeter.“
Dreh- und Angelpunkt in der europäischen Ostpolitik ist die Eingliederung der
Ukraine in die westliche Einflußsphäre, da dieses ist zur Schwächung Rußlands
zunächst notwendig ist. In einem CNN-Interview vom 1.2.2015 gab US-Präsident
Barack Obama auch zum ersten Mal zu, daß „die USA einen Deal zur Machtübergabe
in der Ukraine ausgehandelt hatten“ und „damit Mr. Putin überrascht haben.“
Der EU, vor allen Dingen aber den „tributpflichtigen US-Vasallen“ Deutschland
und Japan, kommen wichtige Aufgaben zu, um die Hegemonie der USA über die Welt
wesentlich voranzutreiben und zu unterstützen.
Altbundeskanzler Helmut Schmidt warnt davor, Brzezinskis Zielsetzung oder die
Überzeugung zu übernehmen, „was gut ist für die USA, sei eo ipso gut für Frieden
und Wohlergehen der Welt.“ Für die „kontinentaleuropäischen Bürger sollte der
von Brzezinski erhobene Dominanzanspruch Amerikas ein zusätzlicher Ansporn sein
zum weiteren Ausbau der Europäischen Union in Richtung auf ein sich selbst
bestimmendes Europa.“
Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) hingegen bezeichnet das Buch in
seiner Rezension für die FAZ vom 26. 11. 1997 als „kühnen und wohl auch
provokativen, zugleich ausgezeichneten und wertvollen Beitrag“ zu einem neuen
„Denken in den Kategorien von Dialog und Austausch, regionaler und globaler
Kooperation, Vernetzung von Wirtschaft und Politik“. Seiner Meinung nach sollte
das Werk in „Wissenschaft, Medien und nicht zuletzt Regierungen“ studiert
werden. Auch Oliver Thränert von der SPD-nahen Friedrich Ebert Stiftung findet,
daß das Buch „schon der Lektüre wert ist“. Es sei kenntnisreich, oft
geschichtlich untermauert, nie langweilig und folge immer dem Leitfaden des
amerikanischen nationalen Interesses, was für den deutschen Leser aber etwas
ungewohnt sei. Die von Brzeziski entwickelte Strategie ist seiner Meinung nach
„stimmig und wahrhaft vorausschauend“.
Der Autor Zbigniew Kazimierz Brzeziski, wurde am 28. März 1928 in Warschau
geboren, ist ein polnisch US amerikanischer Politikwissenschaftler und zählt mit
Henry Kissinger und Samel Phillips Huntington zu den grauen Eminenzen unter den
US-amerikanischen Globalstrategen.
Er war 1966-1968 Berater Lyndon B. Johnsons und von 1977 bis 1981
Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter. Er gilt auch als der
wichtigste außenpolitische Berater von Barack Obama.
Er ist Professor für
US-amerikanische Außenpolitik an der School of Advanced International Studies
(SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, D.C., Berater am „Zentrum
für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) in Washington, D.C. und
Autor renommierter politischer Analysen. Daneben betätigt er sich als Berater
für mehrere große USamerikanische und internationale Unternehmen.
10.2.2015 JB
Zbigniew Brzezinski
DIE EINZIGE WELTMACHT
Amerikas Strategie der Vorherrschaft
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion existiert nur noch eine Supermacht auf
dieser Erde: die Vereinigten Staaten von Amerika. Und noch nie in der Geschichte
der Menschheit hat eine Nation über so große wirtschaftliche, politische und
militärische Mittel verfügt, um ihre Interessen durchzusetzen. Noch nie gelang
es einer Demokratie, zur ersten und einzigen Weltmacht aufzusteigen. Was
bedeutet dieses Faktum für Amerika und den Rest der Welt, insbesondere für
Deutschland, Europa und den europäischen Einigungsprozeß?
In einer brillanten strategischen Analyse legt Brzezinski dar, warum die
Vorherrschaft der USA die Voraussetzung für Frieden, Wohlstand und Demokratie in
der Welt ist, und wie Amerika sich verhalten muß, um seine Weltmachtstellung zu
erhalten. Brzezinski erklärt, warum Deutschland und Frankreich zentrale
geostrategische Rollen spielen werden, Großbritannien und Japan aber nicht;
warum Rußland nur eine Chance hat, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren,
nämlich sich nach Europa hin zu orientieren; warum Amerika nicht nur die erste
wirklich globale Supermacht ist, sondern auch die letzte sein wird, und welche
Verpflichtungen daraus resultieren.
Zbigniew Brzezinski, geboren 1928 in Warschau, war von 1977 bis 1981
Sicherheitsberater von US-Präsident Carter. Heute ist er Professor für
Amerikanische Außenpolitik an der Johns Hopkins Universität in Baltimore und
Berater am »Zentrum für Strategische und Internationale Studien« (CSIS) in
Washington D.C.
Zbigniew Brzezinski
DIE EINZIGE WELTMACHT
Amerikas Strategie der Vorherrschaft
Aus dem Amerikanischen von Angelika Beck
Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher
Fischer Taschenbuch Verlag
Meinen Studenten - möge das Buch ihnen dabei
helfen, die Welt von morgen zu gestalten.
4. Auflage: Oktober 2001
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Mai 1999
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Beltz Quadriga Verlages, Weinheim
und Berlin Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel ‘The
Grand Chessboard. American Primary and Its Geostrategic Imperatives“ bei Basic
Books, New York © 1997 by Zbigniew Brzezinski Karten von Kenneth Velasquez Für
die deutsche Ausgabe: © 1997 Beltz Quadriga Verlag, Weinheim und Berlin Druck
und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-14358-6
INHALT
Karten und Tabellen
Vorwort von Hans-Dietrich Genscher
Einleitung: Supermachtpolitik
1 | Eine Hegemonie neuen Typs Der kurze Weg zur globalen Vorherrschaft Die
einzige Weltmacht Das globale Ordnungssystem der USA |
2 | Das eurasische Schachbrett Geopolitik und Geostrategie Geostrategische
Akteure und geopolitische Dreh- und Angelpunkte Ernste Entscheidungen und
mögliche Herausforderungen |
3 | Der demokratische Brückenkopf Grandeur und Erlösung Amerikas zentrales
Ziel Europas historischer Zeitplan |
4 | Das Schwarze Loch Rußlands neuer geopolitischer Rahmen Geostrategische
Wunschvorstellungen Das Dilemma der einzigen Alternative |
5 | Der eurasische Balkan Der ethnische Hexenkessel Wettstreit mit vielen
Beteiligten USA im Wartestand |
6 | Der fernöstliche Anker China: Regionale, aber keine Weltmacht Japan:
Nicht regional, aber international Amerikas Anpassung an die geopolitische
Lage |
7 | Schlußfolgerungen Eine Geostrategie für Eurasien Ein transeurasisches
Sicherheitssystem Jenseits der letzten Supermacht |
Karten und Tabellen
Der chinesisch-sowjetische Block und die drei wichtigsten
strategischen Fronte
Das Römische Imperium auf dem Höhepunkt seiner Macht
Das Mandschu-Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht
Ungefähre Ausdehnung der
Mongolenherrschaft um 1280
Globale Vormachtstellung Europas um 1900
Britische Vorherrschaft 1860-1914
Globale Vormachtstellung der USA
Der
geopolitisch zentrale Erdteil und seine kritischen Randzonen
Eurasien im
Vergleich
Das eurasische Schachbrett
Latente Gefahrenherde im Nahen und
Mittleren Osten sowie in Zentralasien
Die europäischen Organisationen bis
1995
Besondere geopolitische Interessensphären Deutschlands und Frankreichs
Ist dies wirklich »Europa«
EU-Mitgliedschaft: Beitrittsantrag
Jenseits des Jahres 2010: Die kritische Zone für die Sicherheit Europas
Verlust ideologischer Kontrolle und imperialer Einflußsphären
Russische
Militärbasen in ehemaligen Sowjetrepubliken
Der eurasischen Balkan
Die
wichtigsten ethnischen Gruppen in Zentralasien
Der eurasische Balkan als
ethnisches Mosaik
Das Osmanische Reich und der Sprach- und Kulturraum der
Turkvölker
Die konkurrierenden Interessen Rußlands, der Türkei und des Iran
Öl-Pipelines vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer
Grenzkonflikte und
Gebietsstreitigkeiten in Ostasien
Asiatische Armeestärken
Politische
Reichweite der chinesischen Einflußsphäre
Überschneidung der Einflußsphären
Chinas und der einer amerikanisch japanischen Anti-China-Koalition
VORWORT von Hans-Dietrich Genscher
Jedem, der sich mit internationaler Politik befaßt, ist Zbigniew Brzezinski als
scharfsinniger Analytiker und als Sicherheitsberater Präsident Carters von 1977
bis 1980 bekannt. Wer ihn in enger Zusammenarbeit als Gesprächspartner schätzen
gelernt hat, der weiß, daß er Außenpolitik immer auch als intellektuelle
Herausforderung betrachtet.
In zahlreichen Büchern und Artikeln hat sich
Zbigniew Brzezinski mit anregenden, zuweilen auch provozierenden Thesen zu Wort
gemeldet, die regelmäßig ein breites Echo gefunden haben. Das ist auch für sein
neues Buch »Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft« zu
erwarten.
Nach dem Ende der Bipolarität des kalten Krieges stehen wir vor neuen
globalen Herausforderungen. Es geht darum, eine stabile Weltordnung im Zeitalter
der Globalisierung zu gestalten. Und es geht um die Frage, was wir tun müssen,
um dieses Ziel zu verwirklichen.
Vieles hängt dabei von Amerika, unserem
wichtigsten Verbündeten ab. Zbigniew Brzezinski gibt mit seinem Buch eine
amerikanische Antwort, die zum Nachdenken anregt, die Zustimmung, aber auch
Widerspruch hervorrufen wird.
Der Autor geht von der Feststellung aus, daß die USA die letzte verbliebene
Weltmacht nach dem Ende des Kalten Krieges sind, und charakterisiert Amerikas
Vormachtstellung als »Hegemonie neuen Typs«.
In der Tat: Amerikas
Weltmachtstellung gründet sich nicht — wie dies bei den Weltmächten früherer
Epochen der Fall war — auf die imperiale Unterwerfung kleinerer Staaten oder
lediglich auf seine gewaltige Militärmacht. Von ebenso großer Bedeutung wie
seine militärische Macht sind die Dynamik seiner Wirtschaft, sein
technologisches Innovationspotential und — das wird oft übersehen — die
scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft des »american way of life«.
Auf
dieser Grundlage ist es den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen, ein
internationales System zu errichten, das wesentlich durch amerikanische
Vorstellungen geprägt ist: die Ideale von Demokratie und die Einhaltung von
Menschenrechten, kollektive Sicherheitssysteme wie vor allem die NATO und
regionale Kooperation. Nicht das Streben nach globaler Monopolstellung, sondern
die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und Staatengruppen im Interesse globaler
Stabilität entspricht nach Zbigniew Brzezinski dem Selbstverständnis Amerikas
als einer demokratischen Macht.
Der Autor macht aus seiner Überzeugung kein Hehl, daß die weltweite Präsenz der
USA nicht nur im amerikanischen, sondern auch im globalen Interesse liegt. Diese
Einschätzung mag auch die für das außenpolitische Selbstverständnis Amerikas
typische Gemengelage von Idealismus und Interessen-Politik widerspiegeln. Sie
ist deshalb aber nicht weniger richtig.
Die europäischen Erfahrungen dieses
Jahrhunderts haben dies bestätigt — im guten wie im schlechten. Angesichts neuer
globaler Herausforderungen — Hunger und Not, der Bevölkerungsexplosion, der
Gefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, der Proliferation von
Massenvernichtungsmitteln — gilt mehr denn je Präsident Clintons Diktum über
Amerika als die »unentbehrliche« Nation. Umgekehrt gilt auch: Amerika allein
wird diese Herausforderungen nicht meistern können.
Von zentraler Bedeutung für die künftige amerikanische Außenpolitik ist nach
Zbigniew Brzezinski — und hier liegt das Originelle seines Ansatzes —
»Eurasien«, der Raum von Lissabon bis Wladiwostok. Will Amerika auch künftig
seine Weltmachtstellung behalten, so muß es seine ganze Aufmerksamkeit diesem
Gebiet zuwenden. Hier leben 75 Prozent der Weltbevölkerung, hier liegt der
größte Teil der natürlichen Weltressourcen einschließlich der Energievorräte,
und hier werden etwa 60 Prozent des Weltbruttosozialprodukts erwirtschaftet. Im
Raum von Lissabon bis Wladiwostok entscheidet sich deshalb das künftige
Schicksal Amerikas. Sein Ziel muß es deshalb sein, die politische und
wirtschaftliche Entwicklung Eurasiens in seinem Sinne mitzugestalten und eine
antiamerikanische Allianz eurasischer Staaten zu verhindern. Diese
Schlußfolgerung Zbigniew Brzezinskis ist ein entschiedenes Plädoyer gegen einen
neuen amerikanischen Isolationismus, gegen den Rückzug aus Europa und anderen
Gebieten in der Welt. Zugleich macht er jedoch auch klar: Imperiale
Machtentfaltung um ihrer selbst willen entspricht nicht dem Selbstverständnis
der amerikanischen Demokratie. Ziel einer globalenamerikanischen Strategie muß
eine institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit sein, die auf echten
Partnerschaften Amerikas, vor allem mit einer erweiterten Europäischen Union,
mit einem demokratischen Rußland, mit China und mit Indien als der größten
Demokratie der Welt, beruht. Auch wenn Brzezinski viel von der Vorherrschaft
Amerikas spricht: Er weiß um die Grenzen amerikanischer Macht und auch darum,
daß die Konzentration hegemonialer Macht in den Händen eines Staates im
Zeitalter der Globalisierung immer weniger zeitgemäß ist. Nicht umsonst spricht
er deshalb von den USA als der »letzten« Supermacht was wohl heißen soll, nicht
der ewigen.
Für die künftige Außenpolitik Amerikas gilt dem Autor Europa als natürlicher
Verbündeter der USA. Ein immer engeres transatlantisches Bündnis, die
fortschreitende Einigung Europas und die Erweiterung der Europäischen Union
liegen für ihn im vitalen Interesse Amerikas. Das bedeutet auch, daß Amerika
Europa als gleichwertigen Partner akzeptiert und bereit sein muß, gemeinsame
Verantwortung für gemeinsame Entscheidungen zu tragen. Man kann nur wünschen,
daß sich die Einsicht von der Gleichwertigkeit Europas im amerikanischen Denken
allgemein durchsetzt. Eine funktionierende transatlantische Partnerschaft
erfordert ein politisch und wirtschaftlich geeintes, handlungsfähiges Europa auf
der Grundlage der deutsch-französischen Freundschaft.
Deshalb plädiert Zbigniew
Brzezinski für ein stärkeres Engagement Amerikas bei der Einigung einer
größeren, um die Staaten Mittel- und Südosteuropas erweiterten Europäischen
Union.
Stabilität auf der eurasischen Landmasse kann nur mit, nicht ohne und schon gar
nicht gegen Rußland erreicht werden.
Deshalb spricht sich Brzezinski für eine
umfassende Partnerschaft des Westens mit einem demokratischen Rußland aus. Sie
muß dem größten Land der Erde die Möglichkeit geben, gleichberechtigt am Aufbau
einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung im Raum von Vancouver bis
Wladiwostok mitzuwirken, wobei jedoch die anderen Nachfolgestaaten der früheren
Sowjetunion nicht vergessen werden dürfen. Im Sinne eines »geopolitischen
Pluralismus« ist der Westen deshalb aufgerufen, die politische und
wirtschaftliche Entwicklung aller dieser Staaten zu Demokratie, Rechtsstaat und
Marktwirtschaft zu fördern.
Geopolitischer Pluralismus erfordert für Zbigniew Brzezinski auch einen
umfassenden Dialog Amerikas mit China. Das ist ebenso begründet wie eine klare
Absage an jeden — letztlich zum Scheitern verurteilten — Versuch, das
bevölkerungsreichste Land der Erde eindämmen oder gar isolieren zu wollen.
Anders als manche Protagonisten einer Politik der »Eindämmung« Chinas in den USA
sieht Brzezinski Amerika und China sogar als natürliche Verbündete. Wie dem auch
sei: China ist derzeit zwar noch keine Weltmacht; seine Größe und seine
gewaltigen Entwicklungsperspektiven machen es jedoch faktisch schon heute zu
einem »global player«. Viel spricht deshalb für Zbigniew Brzezinskis Anregung,
nach der Aufnahme Rußlands in die G7 nun auch eine Aufnahme Chinas in die Gruppe
der wichtigsten Industriestaaten in Betracht zu ziehen. Beachtung verdient auch
sein in die Zukunft gerichteter Vorschlag zur Schaffung eines Transeurasischen
Sicherheitssystems, das die NATO, die OSZE, Rußland, Indien, China und Japan
umfaßt.
Das Buch von Zbigniew Brzezinski ist — wie könnte dies anders sein — eine in
mancher Hinsicht sehr amerikanische Antwort auf die Frage nach der künftigen
Weltordnung. Sicherlich werden nicht alle seine Thesen Zustimmung finden.
Mancher Leser wird sich daran stoßen, daß die Terminologie des Autors in vielem
an das macht- und gleichgewichtspolitische Denken des 19. und des frühen 20.
Jahrhunderts erinnert.
Auch könnte man einwenden, daß die demonstrative
Forderung nach einer dauerhaften amerikanischen Vorherrschaft zu einer Stärkung
anti-amerikanischer Tendenzen im eurasischen Raum führen könnte. Die Geschichte
bietet genügend Beispiele dafür, daß Vorherrschaftsstreben in der Regel
Gegenmachtbildung hervorruft. Damit würde genau das Gegenteil von dem erreicht,
was Zbigniew Brzezinski für Amerika anstrebt.
Dennoch wäre es eine gefährliche Illusion, zu glauben, Stabilität in Europa
könne dauerhaft ohne die USA gewährleistet werden. Ebenso wenig ist dieses Ziel
jedoch ohne Europa selbst zu verwirklichen. Gewiß wirft manche amerikanische
Entscheidung der jüngsten Zeit die Frage auf, ob man Europa als gleichwertigen
Partner akzeptiert, aber oft ist solches Verhalten auch die Ausfüllung eines von
Europa verursachten Vakuums. Die Europäer sollten sich deshalb selbst immer
wieder fragen, ob es wirklich »zuviel Amerika« oder nicht vielmehr »zuwenig
Europa« gibt. Das Buch von Zbigniew Brzezinski ist auch ein Appell an die
Europäer, sich über ihren Beitrag zur künftigen Weltordnung Klarheit zu
verschaffen und entschlossen zu handeln. Sein Plädoyer, den Raum von Lissabon
bis Wladiwostok als Einheit zu betrachten, sollten alle jene bei uns beherzigen,
die glauben, auch heute noch Europa in Grenzen denken zu können. Nichts wäre im
Zeitalter der Globalisierung anachronistischer als eine Politik neuer
Abgrenzung. Nur eine immer intensivere Zusammenarbeit zwischen den Staaten von
Vancouver bis Wladiwostok kann auf Dauer Sicherheit, Wohlstand und Stabilität
garantieren.
Das Buch von Zbigniew Brzezinski wird ohne Zweifel eine wichtige Rolle spielen
bei der Diskussion über die Struktur einer künftigen dauerhaften und gerechten
Weltordnung. Diese kann nur das Gebot der Dauerhaftigkeit und Gerechtigkeit
erfüllen, wenn sie gegründet ist auf das gleichberechtigte Zusammenleben der
Völker und auf die gleichberechtigte und globale Zusammenarbeit der
Weltregionen. Beim Bau der neuen Weltordnung dürfen nicht die Fehler wiederholt
werden, die in Gestalt nationalen Vormachtstrebens am Ende des 19. und in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Europa ausgehend die Welt so stark
erschüttert haben. Dabei wird die Beachtung der Menschenrechtsabkommen der
Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielen.
Die Geschichte macht keine Pause und sie ist auch nicht an ihr Ende angelangt.
Aus dem Buch von Zbigniew Brzezinski spricht das Bewußtsein um die Größe der
Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, aber auch der Wille, sie geistig
und politisch zu bewältigen. Man kann nicht sagen, daß diese Haltung bei uns
sehr verbreitet wäre. Umso mehr sind dem anregenden Buch von Zbigniew Brzezinski
in Deutschland viele aufmerksame Leser zu wünschen.
*** *
EINLEITUNG
Supermachtpolitik
Seit den Anfängen der Kontinente übergreifenden politischen Beziehungen vor etwa
fünfhundert Jahren ist Eurasien stets das Machtzentrum der Welt gewesen. Zu
verschiedenen Zeiten drangen Völker die diesen Erdteil bewohnten — meistens die
an seiner westlichen, europäischen Peripherie ansässigen — in andere
Weltgegenden vor und unterwarfen sie ihrer Herrschaft. Dabei gelangten einzelne
eurasische Staaten in den Rang einer Weltmacht und in den Genuß entsprechender
Privilegien.
Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlage tief greifend
verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereurasischer Staat
nicht nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die
überragende Weltmacht schlechthin hervor. Mit dem Scheitern und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion stieg ein Land der westlichen Hemisphäre, nämlich
die Vereinigten Staaten, zur einzigen und im Grunde ersten wirklichen Weltmacht
auf.
Eurasien hat jedoch dadurch seine geopolitische Bedeutung keineswegs verloren.
In seiner westlichen Randzone — Europa — ballt sich noch immer ein Großteil der
politischen und wirtschaftlichen Macht der Erde zusammen; der Osten des
Kontinents — also Asien — ist seit einiger Zeit zu einem wichtigen Zentrum
wirtschaftlichen Wachstums geworden und gewinnt zunehmend politischen Einfluß.
Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt
aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen
Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird — und ob es dort
das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.
Folglich muß die amerikanische Außenpolitik den geopolitischen Aspekt der neu
entstandenen Lage im Auge behalten und ihren Einfluß in Eurasien so einsetzen,
daß ein stabiles kontinentales Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten als
politischem Schiedsrichter entsteht.
Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um
die globale Vorherrschaft abspielen wird. Erst 1940 hatten sich zwei Aspiranten
auf die Weltmacht, Adolf Hitler und Joseph Stalin, expressis verbis darauf
verständigt (während der Geheimverhandlungen im November jenes Jahres), daß
Amerika von Eurasien ferngehalten werden sollte. Jedem der beiden war klar, daß
seine Weltmachtpläne vereitelt würden, sollte Amerika auf dem eurasischen
Kontinent Fuß fassen. Beide waren sich einig in der Auffassung, daß Eurasien der
Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt
beherrsche. Ein halbes Jahrhundert später stellt sich die Frage neu:
Wird Amerikas Dominanz in Eurasien von Dauer sein, und zu welchen Zwecken könnte
sie genutzt werden?
Amerikanische Politik sollte letzten Endes von der Vision einer besseren Welt
getragen sein: der Vision, im Einklang mit langfristigen Trends sowie den
fundamentalen Interessen der Menschheit eine auf wirksame Zusammenarbeit
beruhende Weltgemeinschaft zu gestalten. Aber bis es soweit ist, lautet das
Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den
eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika
eine Bedrohung darstellen könnte.
Ziel dieses Buches ist es deshalb, im Hinblick
auf Eurasien eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie zu entwerfen.
Zbigniew Brzezinski Washington, DC. im April 1997
1
EINE HEGEMONIE NEUEN TYPS
Hegemonie ist so alt wie die Menschheit. Die gegenwärtige globale Vorherrschaft
der USA unterscheidet sich jedoch von allen früheren historischen Beispielen
durch ihr plötzliches Zustandekommen, ihr weltweites Ausmaß und die Art und
Weise, auf die sie ausgeübt wird. Bedingt durch die Dynamik internationaler
Prozesse hat sich Amerika im Laufe eines einzigen Jahrhunderts von einem relativ
isolierten Land der westlichen Hemisphäre in einen Staat von nie da gewesener
Ausdehnung und beispielloser Macht verwandelt.
Der kurze Weg zur globalen Vorherrschaft
Der spanisch-amerikanische Krieg 1898 war der erste Eroberungskrieg, den die USA
in Übersee führten. Er hatte einen Vorstoß amerikanischer Macht bis weit über
Hawaii und die Philippinen hinaus in den pazifischen Raum zur Folge. Um die
Jahrhundertwende entwickelten amerikanische Militärstrategen eifrig Theorien für
eine Vorherrschaft auf zwei Weltmeeren, und die amerikanische Kriegsmarine
machte sich daran, Britannien seine die Meere beherrschende Rolle streitig zu
machen. Mit dem Bau des Panamakanals, der eine Vorherrschaft sowohl über den
Atlantik als auch den Stillen Ozean erleichterte, bekräftigten die Vereinigten
Staaten ihre Ansprüche auf einen Sonderstatus als alleiniger Sicherheitsgarant
der westlichen Hemisphäre, den sie bereits Anfang des Jahrhunderts in der
Monroe-Doktrin verkündet und in der Folgezeit mit Amerikas angeblich
»offenkundigem Schicksale« gerechtfertigt hatten.
Das Fundament für Amerikas zunehmende geopolitische Ambitionen hatte die rasche
Industrialisierung der nationalen Wirtschaft gelegt. Beim Ausbruch des Ersten
Weltkriegs stellte die wachsende amerikanische Wirtschaftskraft bereits etwa ein
Drittel des globalen Bruttosozialproduktes und hatte Großbritannien den Rang als
führende Industriemacht abgelaufen. Begünstigt wurde diese beachtliche
wirtschaftliche Dynamik durch eine experimentierfreudige und innovatorische
Kultur. Amerikas politische Institutionen und seine freie Marktwirtschaft
eröffneten ehrgeizigen und himmelstürmenden Erfindern beispiellose
Möglichkeiten, da keine archaischen Privilegien und starren gesellschaftlichen
Hierarchien sie daran hinderten, ihre persönlichen Träume zu verwirklichen.
Kurzum, das kulturelle Klima in den USA war dem wirtschaftlichen Wachstum auf
einzigartige Weise förderlich; darüber hinaus zog die nationale Kultur die
begabtesten Menschen aus Europa an und ermöglichte dank ihrer integrativen
Wirkung die Ausdehnung nationaler Macht.
Der Erste Weltkrieg bot erstmals die Gelegenheit für einen massiven Einsatz
amerikanischer Militärmacht in Europa. Ein bis dahin ziemlich isolierter Staat
beförderte prompt mehrere starke Truppenkontingente über den Atlantik — eine
überseeische Militärexpedition, wie es sie in dieser Größenordnung und in diesem
Umfang nie zuvor gegeben hatte — und tat damit kund, daß nun ein neuer
Hauptakteur die internationale Bühne betrat. Nicht minder bedeutsam war, daß der
Krieg die USA auch zu ihrer ersten größeren diplomatischen Bemühung bewog, bei
der Suche nach einer Lösung der internationalen Probleme Europas amerikanische
Prinzipien ins Spiel zu bringen. Woodrow Wilsons berühmter Vierzehn-Punkte-Plan
symbolisierte gewissermaßen die Einschleusung amerikanischen idealistischen
Gedankenguts in die europäische Geopolitik. (Eineinhalb Jahrzehnte vorher hatten
die USA eine führende Rolle bei der Beilegung eines fernöstlichen Konflikts
zwischen Rußland und Japan gespielt und auch dadurch ihr zunehmend
internationales Gewicht geltend gemacht.) Die Verschmelzung von amerikanischem
Idealismus mit amerikanischer Macht kam somit auf der internationalen Ebene voll
zum Tragen.
Genau genommen war jedoch der Erste Weltkrieg ein überwiegend europäischer
Konflikt, kein Weltkrieg. Aber sein selbstzerstörerischer Charakter markierte
den Anfang vom Ende der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dominanz
Europas gegenüber dem Rest der Welt. Während des Krieges vermochte sich keine
der europäischen Mächte entscheidend durchzusetzen — erst der Eintritt der
aufsteigenden außereuropäischen Macht Amerika in den Konflikt hat den Ausgang
des Krieges nachhaltig beeinflußt. Danach sollte Europa zunehmend seine aktive
Rolle einbüßen und zum Objekt der Weltpolitik werden.
Diese kurze Anwandlung globaler Führerschaft hatte allerdings kein ständiges
Engagement der USA auf der internationalen Bühne zur Folge. Statt dessen zog
sich Amerika schnell in einer selbstgenügsamen Mischung aus Isolationismus und
Idealismus zurück. Obwohl Mitte der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre
totalitäre Regime auf dem europäischen Kontinent an Boden gewannen, behielt
Amerika, das inzwischen über eine schlagkräftige, auf zwei Weltmeeren präsente
Flotte verfügte, die der britischen Kriegsmarine eindeutig überlegen war, seine
unbeteiligte Haltung bei. Die Amerikaner zogen es vor, das Weltgeschehen aus der
Zuschauerperspektive zu verfolgen.
Im Einklang mit dem nationalen Sicherheitskonzept, das auf der Auffassung
gründete, Amerika sei eine kontinentale Insel, konzentrierte es sich strategisch
auf den Küstenschutz. Aufgrund dieses eng nationalen Zuschnitts zeigte die
amerikanische Politik wenig Interesse für internationale oder globale Faktoren.
Die entscheidenden Akteure auf dem internationalen Parkett waren nach wie vor
die europäischen Mächte und in immer stärkerem Maße Japan.
Das europäische Zeitalter der Weltgeschichte ging während des Zweiten
Weltkriegs, der erstmals wirklich ein »Weltkrieg« war, definitiv zu Ende. Auf
drei Kontinenten und zwei Weltmeeren gleichzeitig ausgefochten, trat sein
globales Ausmaß auf geradezu sinnbildliche Weise zutage, als sich britische und
japanische Soldaten Tausende Meilen von ihren Heimatländern entfernt an der
Grenze zwischen Indien und Birma heftige Gefechte lieferten. Europa und Asien
waren zu einem einzigen Schlachtfeld geworden.
Hätte der Krieg mit einem klaren Sieg des nationalsozialistischen Deutschlands
geendet, so wäre möglicherweise eine einzige europäische Macht mit weltweitem
Übergewicht daraus hervorgegangen. (Japans Sieg im Stillen Ozean hätte Nippon
die beherrschende Rolle im Fernen Osten eingetragen, aber aller
Wahrscheinlichkeit nach wäre es trotzdem eine nur regionale Hegemonialmacht
geblieben.) Statt dessen wurde Deutschlands Niederlage zum größten Teil durch
die beiden außereuropäischen Sieger, die Vereinigten Staaten und die
Sowjetunion, besiegelt. Sie meldeten nun, nachdem Europas Weltmachtstreben
gescheitert war, Ansprüche auf die globale Vorherrschaft an.
Die nachfolgenden fünfzig Jahre standen im Zeichen des amerikanisch-sowjetischen
Wettstreits um die globale Vormachtstellung. In mancherlei Hinsicht löste der
Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die
Lieblingstheorien der Geopolitiker ein: Er stellte die führende Seemacht, die
sowohl den Atlantik als auch den Pazifik beherrschte, der führenden Landmacht
gegenüber, die auf dem eurasischen Kerngebiet die überragende Rolle spielte (der
chinesisch-sowjetische Block umfaßte einen Raum, der auffallend an die
Ausdehnung des Mongolenreiches erinnerte). Die geopolitische Dimension hätte
nicht klarer sein können: Nordamerika versus Eurasien, und auf dem Spiel stand
die Welt. Der Sieger würde wirklich den Globus beherrschen.
Jeder der beiden Gegner warb weltweit für seine Ideologie, welche die
notwendigen Anstrengungen in seinen Augen historisch rechtfertigte und ihn in
seiner Überzeugung vom unvermeidlichen Sieg bestärkte. Die beiden Kontrahenten
waren in ihrem Einflußbereich unangefochten — anders als die Anwärter auf
globale Vorherrschaft im kaiserlichen Europa, von denen es keiner jemals
schaffte, auch nur in Europa die eindeutige Vormachtstellung zu erlangen. Um
seinen Einfluß auf die jeweiligen Vasallen und Tributpflichtigen zu festigen,
setzten beide Kontrahenten ihre Weltanschauung auf eine Art und Weise ein, die
an das Zeitalter der Glaubenskriege gemahnte.
Der globale geopolitische Rahmen verlieh im Verein mit dem Absolutheitsanspruch
der miteinander konkurrierenden Dogmen dem Machtkampf eine beispiellose
Intensität. Eine wirklich einzigartige Qualität erhielt dieser Wettstreit von
einem zusätzlichen Faktor von weltpolitischer Tragweite. Das Aufkommen von
Atomwaffen hatte zur Folge, daß ein direkter, herkömmlicher Krieg zwischen den
beiden Hauptkontrahenten nicht nur deren gegenseitige Vernichtung bedeutet,
sondern auch für einen erheblichen Teil der Menschheit tödliche Konsequenzen
gehabt hätte. Die Heftigkeit des Konflikts nötigte daher den beiden Gegnern
zugleich eine außerordentliche Selbstbeherrschung ab.
Geopolitisch wurde der Konflikt vor allem an den Rändern des eurasischen
Kontinents ausgetragen. Der chinesisch-sowjetische Block hatte den größten Teil
der eurasischen Landmasse unter Kontrolle, nicht jedoch ihre Randgebiete.
Nordamerika gelang es, sich sowohl an den westlichen Küsten als auch an denen
des Fernen Ostens festzusetzen. Die Verteidigung dieser kontinentalen
Brückenköpfe (die an der westlichen »Front« durch die Berlin-Blockade und an der
östlichen durch den Koreakrieg sinnfällig wurden) war somit der erste
strategische Test in dem Ringen, das nachfolgend als Kalter Krieg in die
Geschichte einging.
In dessen Endphase tauchte auf der eurasischen Landkarte eine dritte — südliche
»Verteidigungsfront« — auf (siehe Karte). Der sowjetische Einmarsch in
Afghanistan beschwor von seiten der USA prompt eine zweigleisige Reaktion
herauf: direkte Unterstützung des afghanischen Widerstands vor Ort, damit sich
die sowjetische Armee festfahre, und eine massive Steigerung amerikanischer
Militärpräsenz im Persischen Golf als Abschreckungsmaßnahme gegen jeden weiteren
südwärts gerichteten Vorstoß sowjetischer Macht. Entsprechend ihrer
Sicherheitsinteressen im Westen und Osten Eurasiens verpflichteten sich die
Vereinigten Staaten zur Verteidigung der Golfregion.
Das von amerikanischer Seite erfolgreich betriebene Eindämmen der Bemühungen des
eurasischen Blocks, den gesamten Kontinent unter seine Kontrolle zu bekommen —
bis zum Schluß scheuten beide Seiten ein militärisches Aufeinandertreffen aus
Angst vor einem nuklearen Krieg — bewirkte, daß der Wettstreit schließlich mit
nichtmilitärischen Mitteln entschieden wurde. Politische Energie1 ideologische
Flexibilität, wirtschaftliche Dynamik und kulturelle Attraktivität gaben
letztlich den Ausschlag.
Während die von Amerika angeführte Koalition ihre Geschlossenheit bewahren
konnte, brach der chinesisch-sowjetische Block in weniger als zwei Jahrzehnten
auseinander. Dies war nicht zuletzt auf die gegenüber dem hierarchischen und
dogmatischen — und zugleich brüchigen — Charakter des kommunistischen Lagers
größere Flexibilität der demokratischen Koalition zurückzuführen. Auch dieser
lagen gemeinsame Werte zugrunde, aber ohne programmatische Festlegung. Das
kommunistische Lager indes bestand dogmatisch auf der Bewahrung der reinen
Lehre, zu deren Auslegung nur eine einzige Zentrale befugt war. Amerikas
wichtigste Vasallen waren außerdem deutlich schwächer als die USA, während die
Sowjetunion China nicht auf unbestimmte Zeit als eine ihr untergeordnete Macht
behandeln konnte. Maßgeblich für den Ausgang des Kalten Krieges war ferner die
Tatsache, daß sich die amerikanische Seite in ökonomischer und technologischer
Hinsicht als wesentlich dynamischer erwies. Die Sowjetunion hingegen stagnierte
allmählich und konnte weder mit dem Wirtschaftswachstum noch mit der
Militärtechnologie der Gegenseite effektiv Schritt halten. Der wirtschaftliche
Niedergang wiederum leistete der ideologischen Demoralisierung Vorschub.
Tatsächlich verdeckte die sowjetische Militärmacht — und die Furcht, die sie im
Westen auslöste — lange Zeit das eigentliche Ungleichgewicht zwischen den beiden
Kontrahenten. Amerika war einfach viel reicher technologisch viel höher
entwickelt, auf militärischem Gebiet flexibler und innovativer und von seiner
Gesellschaftsform her kreativer und ansprechender. Indessen lähmten ideologische
Zwänge das schöpferische Potential der Sowjetunion; sie ließen das System
zunehmend erstarren, so daß seine Ökonomie immer unwirtschaftlicher und auf
technologischem Gebiet immer weniger konkurrenzfähig wurde. Solange kein beide
Seiten vernichtender Krieg ausbrach, mußte der sich hinziehende Wettstreit
schließlich zugunsten Amerikas ausgehen.
Der Ausgang war denn auch nicht unwesentlich von kulturellen Faktoren bestimmt.
Im großen und ganzen machte sich die von Amerika angeführte Koalition viele
Wesensmerkmale seiner politischen und sozialen Kultur zu eigen. Die beiden
wichtigsten Verbündeten der USA am westlichen beziehungsweise östlichen Rand des
eurasischen Kontinents, Deutschland und Japan, erholten sich wirtschaftlich und
zollten allem Amerikanischen eine nahezu schrankenlose Bewunderung. Weit und
breit sah man in den USA das Symbol und den Garanten für die Zukunft, eine
Gesellschaft, die Bewunderung und nachgeahmt zu werden verdient.
Im Gegensatz dazu wurde Rußland von den meisten seiner mitteleuropäischen
Vasallen und mehr noch von seinem wichtigsten und immer anmaßender auftretenden
östlichen Verbündeten China kulturell verachtet. Die Mitteleuropäer fühlten sich
unter russischer Vorherrschaft von ihrer philosophischen und kulturellen Heimat,
von Westeuropa und seiner christlich-abendländischen Tradition, isoliert.
Schlimmer noch, sie sahen sich von einem Volk beherrscht, dem sich die
Mitteleuropäer, oft zu Unrecht, kulturell überlegen fühlten.
Die Chinesen, für die der Name Rußland hungriges Land bedeutet, hielten mit
ihrer Verachtung nicht hinter dem Berg. Obwohl sie die von Moskau geltend
gemachte Allgemeinverbindlichkeit des sowjetischen Modells anfänglich nur
insgeheim bestritten hatten, stellten sie doch binnen eines Jahrzehnts nach der
kommunistischen Revolution Moskaus ideologischen Führungsanspruch ganz
entschieden in Frage, und scheuten sich nicht, ihre traditionelle
Geringschätzung für die barbarischen Nachbarn im Norden offen zu äußern.
Am Ende lehnten in der Sowjetunion die 50 Prozent der Bevölkerung, die keine
Russen waren, Moskaus Herrschaft ab. Im Zuge des allmählichen politischen
Erwachens des nichtrussischen Bevölkerungsteils nahmen Ukrainer, Georgier,
Armenier und Aserbaidschaner die Sowjetmacht als eine Form imperialistischer
Fremdherrschaft durch ein Volk wahr, dem sie sich kulturell durchaus nicht
unterlegen fühlten. In Zentralasien mögen nationale Bestrebungen weniger
ausgeprägt gewesen sein, doch nach und nach wuchs bei den dortigen Völkern das
Bewußtsein islamischer Identität, das durch das Wissen um die in anderen
Weltteilen fortschreitende Entkolonialisierung verstärkt wurde.
Wie so viele Weltreiche vor ihr brach die Sowjetunion schließlich in sich
zusammen und zerfiel: weniger das Opfer einer direkten militärischen Niederlage
als der durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Spannungen beschleunigten
Desintegration. Die zutreffende Beobachtung eines Politologen bestätigt ihr
Schicksal: Weltreiche sind von Natur aus politisch instabil, weil untergeordnete
Einheiten fast immer nach größerer Autonomie streben und Gegen-Eliten in solchen
Einheiten fast jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um größere Autonomie zu
erlangen. In diesem Sinn fallen Weltreiche nicht in sich zusammen; sie fallen
auseinander, zumeist sehr langsam, aber manchmal auch erstaunlich rasch.1
Die einzige Weltmacht
Der Zusammenbruch ihres Rivalen versetzte die Vereinigten Staaten in eine
außergewöhnliche Lage. Sie wurden gleichzeitig die erste und die einzig
wirkliche Weltmacht. Und doch erinnert Amerikas globale Vorherrschaft in
mancherlei Weise an frühere Weltreiche, ungeachtet deren begrenzterer
Ausdehnung. Diese Imperien gründeten ihre Macht auf eine Hierarchie von
Vasallenstaaten, tributpflichtigen Provinzen, Protektoraten und Kolonien; die
Völker jenseits der Grenzen betrachteten sie gemeinhin als Barbaren. Bis zu
einem gewissen Grad lassen sich diese anachronistischen Begriffe durchaus auf
einige Staaten anwenden, die sich gegenwärtig innerhalb des amerikanischen Orbit
befinden. Wie in der Vergangenheit beruht auch die imperiale Macht Amerikas in
hohem Maße auf der überlegenen Organisation und auf der Fähigkeit, riesige
wirtschaftliche und technologische Ressourcen umgehend für militärische Zwecke
einzusetzen, auf dem nicht genauer bestimmbaren, aber erheblichen kulturellen
Reiz des american way of life sowie auf der Dynamik und dem ihr innewohnenden
Wettbewerbsgeist der Führungskräfte in Gesellschaft und Politik.
Auch früheren Weltreichen waren diese Merkmale eigen. Dazu fällt einem als
erstes Rom ein. In einem Zeitraum von ungefähr zweieinhalb Jahrhunderten weitete
es sukzessive sein Gebiet nach Norden, dann nach Westen und Südosten aus und
beherrschte die gesamte Küstenregion des Mittelmeers. Seine größte geographische
Ausdehnung erreichte das Imperium um das Jahr 211 n. Chr. (siehe Karte).
Das Römische Reich war ein zentralistisches Staatswesen mit einer
autarken Wirtschaft. Mit einem hoch entwickelten System politischer und
wirtschaftlicher Organisation übte es seine imperiale Macht besonnen und gezielt
aus. Ein nach strategischen Gesichtspunkten angelegtes, von der Hauptstadt
ausgehendes Netz von Straßen und Schiff-Fahrtsrouten gestattete — im Falle einer
größeren Bedrohung — eine rasche Umverlegung und Konzentration der in den
verschiedenen Vasallenstaaten und tributpflichtigen Provinzen stationierten
römischen Legionen.
1 Donald Puchala: „The History of the Future of International Relations“ Ethics
and International Affairs 8 (1994), p. 183.
Auf dem Höhepunkt seiner Macht zählten die im Ausland eingesetzten römischen
Legionen nicht weniger als 300 000 Mann eine beachtliche Streitkraft, die dank
römischer Überlegenheit in Taktik und Bewaffnung wie auch dank der Fähigkeit des
Zentrums, seine Truppen relativ schnell umzugruppieren, noch tödlicher wurde.
(Erstaunlich ist, wenn man bedenkt, daß die über wesentlich mehr Einwohner
verfügende Supermacht Amerika 1996 die äußeren Bereiche ihrer Einflußsphäre
durch 296 000 in Europa stationierte Berufssoldaten schützte.)
Roms imperiale Macht beruhte indessen auch auf einem wichtigen psychologischen
Sachverhalt: Civis Romanus sum — ich bin römischer Bürger — war gewissermaßen
ein Ehrentitel, Grund, stolz zu sein, und für viele ein hohes Ziel. Schließlich
selbst jenen gewährt, die keine gebürtigen Römer waren, war der Status des
römischen Bürgers Ausdruck kultureller Überlegenheit, die dem imperialen
Sendungsbewußtsein als Rechtfertigung diente. Sie legitimierte nicht nur Roms
Herrschaft, sondern nährte auch in den ihr Unterworfenen den Wunsch, in die
Reichsstruktur aufgenommen und ihr assimiliert zu werden. Somit stützte die von
den Herrschern als selbstverständlich betrachtete und von den Beherrschten
anerkannte kulturelle Überlegenheit die imperiale Macht.
Dieses überragende und im wesentlichen unangefochtene Imperium hatte etwa
dreihundert Jahre Bestand. Mit Ausnahme der Herausforderung des nahen Karthagos
und, am östlichen Rand, des Partherreichs, war die Welt jenseits der römischen
Grenzen weitgehend unzivilisiert, schlecht organisiert, zumeist nur zu
sporadischen Angriffen fähig und kulturell klar unterlegen. Solange sich das
Imperium seine innenpolitische Energie und Geschlossenheit bewahren konnte,
erwuchs ihm von außen kein ernst zu nehmender Konkurrent um die Macht.
Der letzten Endes vollkommene Zerfall des Römischen Reiches ist im wesentlichen
auf drei Ursachen zurückzuführen. Erstens wurde das Reich zu groß, um von einem
einzigen Zentrum aus regiert zu werden, und die Aufteilung in eine westliche und
eine östliche Hälfte zerstörte automatisch die Monopolstellung seiner Macht.
Zweitens brachte die längere Phase kaiserlicher Hybris gleichzeitig einen
kulturellen Hedonismus hervor, der der politischen Elite nach und nach den
Willen zu imperialer Größe nahm. Drittens untergrub auch die anhaltende
Inflation die Fähigkeit des Systems, sich ohne soziale Opfer, zu denen die
Bürger nicht mehr bereit waren, am Leben zu erhalten. Das Zusammenwirken von
kulturellem Niedergang, politischer Teilung und Inflation machte Rom sogar
gegenüber den Barbarenvölkern in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wehrlos.
Nach heutigen Maßstäben war Rom keine wirkliche Weltmacht, sondern eine
regionale Macht. Doch angesichts der Tatsache, daß damals kein Zusammenhang
zwischen den verschiedenen Kontinenten der Erde bestand, war seine regionale
Macht unabhängig und in sich geschlossen, ohne unmittelbare oder selbst ferne
Gegner. Das römische Imperium war somit eine Welt für sich, und seine hoch
entwickelte politische Organisation und seine kulturelle Überlegenheit machten
es zu einem Vorläufer späterer Herrschaftsgebilde von noch größerer
geographischer Ausdehnung. Trotzdem war das römische Imperium nicht einzigartig
in seiner Zeit. Das Römische und das Chinesische Reich entstanden nahezu in
derselben Epoche, obwohl keines vom anderen wußte. Im Jahre 221 v. Chr. (zur
Zeit der Punischen Kriege zwischen Rom und Karthago), nachdem Qin die
bestehenden sieben Staaten zum ersten Chinesischen Reich vereinigt hatte, war
mit dem Bau der Großen Mauer in Nordchina begonnen worden, um das innere
Königreich von der Welt der Barbaren jenseits der Grenze abzuriegeln. Das
nachfolgende Han-Reich, das um 140 v. Chr. hervor zutreten begann, war in seiner
Ausdehnung und Organisation noch eindrucksvoller. Zu Beginn des christlichen
Zeitalters waren nicht weniger als 57 Millionen Menschen seiner Herrschaft
unterworfen. Diese riesige Bevölkerungszahl zeugte von einer außerordentlich
effizienten Zentralgewalt, die von einer straff organisierten Strafbürokratie
ausgeübt wurde. Das Einflußgebiet des Imperiums erstreckte sich bis zum heutigen
Korea, in die Mongolei hinein und umfasste einen Großteil des chinesischen
Küstenbereichs. Ähnlich wie im Falle Roms zersetzten innere Mißstände auch das
Han-Reich, und schließlich beschleunigte die Aufteilung des Territoriums in drei
unabhängige Königreiche im Jahre 220 n. Chr. seinen Untergang.
In Chinas weiterer Geschichte wechselten Perioden der Wiedervereinigung und
Ausdehnung mit solchen des Niedergangs und Zerfalls. Mehr als einmal gelang es
China, unabhängige, von der Außenwelt abgeschlossene Reiche zu errichten, die
mit keinem gut organisierten äußeren Gegner konfrontiert waren. Auf die
Dreiteilung des Han-Reiches folgte im Jahre 589 neuerlich ein dem früheren
Großreich vergleichbarer einheitlicher Staat. Die Zeit der größten
Machtentfaltung erlebte China jedoch erst unter den Mandschus, insbesondere
während der frühen QingDynastie. Im 18. Jahrhundert entfaltete sich China noch
einmal zu einem regelrechten Imperium, dessen Herrschaftszentrum von Vasallen
und tributpflichtigen Staaten einschließlich dem heutigen Korea, Indochina,
Thailand, Birma und Nepal umgeben war. Chinas Macht erstreckte sich vom heutigen
Fernen Osten Rußlands über das gesamte südliche Sibirien bis zum Baikalsee und
weiter bis in das derzeitige Kasachstan, von dort nach Süden bis zum Indischen
Ozean und wieder ostwärts über Laos und Nordvietnam (siehe nachfolgende Karte).
Wie Rom verfügte auch dieses Imperium über eine differenzierte Ordnung des
Finanz-, Wirtschafts- und Erziehungswesens sowie über ein System der
Herrschaftssicherung, mit deren Hilfe das riesige Territorium und die mehr als
300 Millionen Untertanen regiert wurden. Die Machtausübung lag in den Händen
einer politischen Zentralgewalt, die über einen erstaunlich leistungsstarken
Kurierdienst verfügte. Das gesamte Imperium war in vier, strahlenförmig von
Peking ausgehende Zonen eingeteilt, auf denen die Gebiete abgesteckt waren, die
ein Kurier in einer Woche, in zwei, drei und vier Wochen erreichen konnte. Eine
zentralisierte, professionell geschulte und durch Auswahlverfahren rekrutierte
Bürokratie, bildete die Hauptstütze der Einheit.
Gestärkt, legitimiert und erhalten wurde diese Einheit — ebenfalls wie im Falle
Roms — durch ein tiefempfundenes und fest verankertes Bewußtsein kultureller
Überlegenheit, das nicht zuletzt auf dem Konfuzianismus fußte. Die besondere
Betonung von Harmonie, Hierarchie und Disziplin empfahl ihn geradezu als
staatstragende Philosophie. China — das Himmlische Reich — galt seinen
Untertanen als der Mittelpunkt des Universums, an dessen Rändern und jenseits
derselben es nur noch Barbaren gab. Chinese zu sein bedeutete, kultiviert zu
sein und verpflichtete die übrige Welt, China die gebührende Verehrung zu
zollen. Dieses besondere Überlegenheitsgefühl kommt in der Antwort zum Ausdruck,
die der Kaiser von China — sogar in der Phase des fortschreitenden Niedergangs
im späten 18. Jahrhundert Georg III. von England zukommen ließ, dessen Gesandte
mit britischen Industrieprodukten als Zeichen britischer Gunstbezeugung China
für Handelsbeziehungen hatten gewinnen wollen: »Wir, durch die Gnade des Himmels
Kaiser, belehren den König von England, unsere Anklage zur Kenntnis zu nehmen:
Das Himmlische Reich, das alles beherrscht, was zwischen vier Meeren liegt ...
schätzt keine seltenen und kostbaren Dinge ... auch haben wir nicht den
geringsten Bedarf an Manufakturen Eueres Landes ... Daher haben wir Euren
Tributgesandten befohlen, sicher nach Hause zurückzukehren. Ihr, o König, sollt
einfach in Einklang mit unseren Wünschen handeln, indem Ihr Euere Loyalität
stärkt und ewigen Gehorsam schwört.«
Auch der Niedergang und Zusammenbruch der verschiedenen chinesischen Reiche ist
in erster Linie auf innerstaatliche Faktoren zurückzuführen. Ebenso wie die
Mongolen konnten sich später westliche »Barbaren« durchsetzen, weil innere
Ermüdung, Sittenverfall, Hedonismus und der Mangel an wirtschaftlichen wie auch
militärischen Ideen die Willenskraft der Chinesen schwächten und sie in
Selbstgenügsamkeit erstarren ließen. Äußere Mächte nutzten Chinas Siechtum aus.
Großbritannien im Opiumkrieg von 1839 bis 1842, Japan ein Jahrhundert später.
Aus dieser Erfahrung resultierte das tiefe Gefühl kultureller Demütigung, das
die Chinesen das ganze 20. Jahrhundert hindurch motiviert hat. Die Demütigung
war für sie deshalb so schmerzlich, weil ihr fest verankertes Bewußtsein
kultureller Überlegenheit mit der erniedrigenden politischen Wirklichkeit des
nachkaiserlichen Chinas zusammenprallte.
Ähnlich wie das einstige Römische Reich würde man heutzutage das kaiserliche
China als eine regionale Macht einstufen. Doch in seiner Blütezeit hatte China
weltweit nicht seinesgleichen, da keine andere Macht imstande war, ihm seine
Herrschaft streitig zu machen oder sich ihrer weiteren Ausdehnung gegen den
Willen der Chinesen zu widersetzen. Das chinesische System war unabhängig und
autark, gründete auf einer im wesentlichen ethnisch homogenen Bevölkerung und
zählte relativ wenig fremde Volksstämme in geographischer Randlage zu seinen
Tributpflichtigen.
Aufgrund seines großen und beherrschenden ethnischen Kerns gelang China von Zeit
zu Zeit immer wieder eine imperiale Restauration. In dieser Hinsicht unterschied
es sich von anderen Großreichen, in denen zahlenmäßig kleine, aber vom Willen
zur Macht getriebene Völker viel größeren ethnisch fremden Bevölkerungen eine
Zeitlang ihre Herrschaft auf zu zwingen vermochten. War jedoch einmal die
Herrschaft solcher Reiche mit kleiner Kernbevölkerung untergraben, kam eine
imperiale Restauration nicht mehr in Frage.
Um eine etwas genauere Analogie zu unserem heutigen Verständnis zu finden,
müssen wir uns dem erstaunlichen Phänomen des Mongolenreiches zuwenden. Es kam
unter heftigen Kämpfen mit größeren und gut organisierten Gegnern zustande. Zu
den Besiegten gehörten die Königreiche Polen und Ungarn, die Streitkräfte des
Heiligen Römischen Reichs, die russischen Fürstentümer, das Kalifat von Bagdad
und später sogar die chinesische Sung Dynastie.
Nach dem Sieg über ihre regionalen Kontrahenten errichteten Dschingis Khan und
seine Nachfolger eine zentralgesteuerte Herrschaft über das Gebiet, das spätere
Geopolitiker als das Herzstück der Welt oder den Dreh- und Angelpunkt für
globale Macht bezeichneten.
Ihr euroasiatisches Kontinentalreich erstreckte sich
von den Küsten des Chinesischen Meeres bis nach Anatolien in Kleinasien sowie
bis nach Mitteleuropa (siehe Karte). Erst in der stalinistischen Blütezeit des
chinesisch-sowjetischen Blocks fand das Mongolenreich auf dem eurasischen
Kontinent schließlich seine Entsprechung, soweit es die Reichweite der
Zentralgewalt über angrenzendes Gebiet betrifft.
Die Großreiche der Römer, Chinesen und Mongolen waren die regionalen Vorläufer
späterer Anwärter auf die Weltmacht. Wie bereits festgestellt, waren im Falle
Roms und Chinas die imperialen Strukturen sowohl in politischer als auch in
wirtschaftlicher Hinsicht hoch entwickelt, während die weitverbreitete
Anerkennung der kulturellen Überlegenheit des Zentrums eine wichtige Rolle für
den inneren Zusammenhalt spielte. Im Unterschied dazu erhielt das Mongolenreich
seine politische Macht dadurch aufrecht, daß es sich unmittelbarer auf die
militärische Eroberung verließ, der die Anpassung (ja, sogar Assimilation) an
die örtlichen Gegebenheiten folgte.
Die imperiale Macht der Mongolen gründete zum größten Teil auf militärischer
Vorherrschaft. Nachdem sie durch den brillanten und rücksichtslosen Einsatz
überlegener Militärtaktiken, die eine bemerkenswerte Fähigkeit zu schneller
Truppenbewegung und deren rechtzeitiger Konzentration verbanden, die Herrschaft
über die eroberten Gebiete erlangt hatten, bildeten die Mongolen kein
einheitliches Wirtschafts- oder Finanzsystem aus, noch leitete sich ihre
Autorität von irgendeinem Überlegenheitsgefühl kultureller Art ab. Die
Mongolenherrscher waren zahlenmäßig zu schwach, um eine sich selbst erneuernde
Herrscherkaste zu bilden. Da den Mongolen ein klar definiertes Selbstbewußtsein
in kultureller oder ethnischer Hinsicht fremd war, fehlte es ihrer Führungselite
auch an dem nötigen Selbstvertrauen.
Folglich erwiesen sich die mongolischen Herrscher als recht anfällig für die
allmähliche Assimilation an die oft höher zivilisierten Völker, die sie erobert
hatten. So wurde zum Beispiel einer der Enkel Dschingis Khans, der in dem
chinesischen Teil des Khan-Reichs Kaiser geworden war, ein glühender Verfechter
des Konfuzianismus; ein anderer bekehrte sich in seiner Eigenschaft als Sultan
von Persien zum Islam; und ein dritter wurde der von der persischen Kultur
geprägte Herrscher über den zentralasiatischen Raum.
Die Assimilation der Herrscher an die Beherrschten in Ermangelung einer eigenen
politischen Kultur sowie die ungelöste Nachfolge des großen Khans und
Reichsgründers führten schließlich zum Untergang des Imperiums. Das
Mongolenreich war zu groß geworden, um von einer einzigen Zentrale aus regiert
zu werden. Der Versuch, das Reich in mehrere unabhängige Gebiete zu teilen, um
seinem Auseinanderfallen zu begegnen, hatte eine noch schnellere Assimilation an
die örtlichen Gegebenheiten zur Folge und beschleunigte die Auflösung. Nachdem
sie zwei Jahrhunderte, von 1206 bis 1405, bestanden hatte, verschwand die größte
Landmacht der Welt spurlos von der historischen Bühne.
Danach wurde Europa sowohl zum Sitz globaler Macht als auch zum Brennpunkt der
Kämpfe um globale Macht. Innerhalb von etwa drei Jahrhunderten erlangte das
kleine nord-westliche Randgebiet des eurasischen Kontinents — durch den Vorstoß
seiner Seemacht — erstmals wirklich globale Vorherrschaft, als europäische Macht
sich bis in alle Kontinente der Erde erstreckte und sich dort behauptete.
Beachtenswert ist, daß die Hegemonialstaaten Westeuropas, gemessen an den Zahlen
der effektiv Unterworfenen, nicht sehr bevölkerungsreich waren. Noch zu Beginn
des 20. Jahrhunderts standen außerhalb der westlichen Hemisphäre, die zwei
Jahrhunderte zuvor ebenfalls unter westeuropäischer Herrschaft gestanden hatte
und vorwiegend von europäischen Emigranten und ihren Nachkommen besiedelt war,
nur China, Rußland, das Osmanische Reich und Äthiopien nicht unter
westeuropäischer Oberhoheit (siehe Karte).
Westeuropäische Vorherrschaft bedeutete jedoch nicht Aufstieg Westeuropas zur
Weltmacht. Die weltweite Verbreitung seiner Zivilisation verhalf Europa zu
seiner globalen Vormachtstellung, seine Macht auf dem Kontinent selbst war indes
bruchstückhaft. Anders als die Eroberung des eurasischen Herzlandes durch die
Mongolen oder das spätere Zarenreich war der europäische Imperialismus in
Übersee das Ergebnis unablässiger transozeanischer Erkundung und der Expansion
des Seehandels. Dieser Prozeß ging zudem mit einem andauernden Ringen der
führenden europäischen Staaten einher, und zwar nicht nur um die überseeischen
Gebiete, sondern auch um die Hegemonie in Europa selbst. Geopolitisch
betrachtet, war die globale Vormachtstellung Europas nicht aus der von einem
einzelnen Staat in Europa ausgeübten Hegemonie abgeleitet.
Bis, grob gesagt, Mitte des 17. Jahrhunderts blieb Spanien die herausragende
europäische Macht. Ende des 15. Jahrhunderts war es auch als bedeutende
Kolonialmacht mit weltweiten Ambitionen hervorgetreten. Die Religion diente als
verbindende Lehre und war Movens kaiserlichen Missionseifers. Daher bedurfte es
eines päpstlichen Schiedsgerichts zwischen Spanien und seinem maritimen
Nebenbuhler Portugal, um mit den Verträgen von Tordesilla (1494) und Saragossa
(1529) eine offizielle Aufteilung der Welt in spanische und portugiesische
Kolonialsphären festzuschreiben. Konfrontiert mit Herausforderungen von seiten
der Engländer, Franzosen und Holländer, konnte Spanien weder in Westeuropa
selbst noch in Übersee jemals eine echte Vormachtstellung behaupten.
Nach und nach büßte Spanien seine überragende Bedeutung ein, und Frankreich trat
an seine Stelle. Bis 1815 war Frankreich die dominierende europäische Macht,
obwohl seine europäischen Kontrahenten es auf dem Kontinent wie in Übersee
ständig in Schach zu halten versuchten. Unter Napoleon war Frankreich nahe
daran, ein echter europäischer Hegemonialstaat zu werden. Wäre es ihm gelungen,
so hätte es vielleicht auch den Status einer beherrschenden Weltmacht erlangen
können. Indessen stellte die Niederlage, die ihm eine Koalition europäischer
Staaten beibrachte, das kontinentale Machtgleichgewicht wieder her.
Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch übte Großbritannien weltweit die
Seeherrschaft aus. Bis zum Ersten Weltkrieg war London das international
wichtigste Finanz- und Handelszentrum und »beherrschte« die britische Marine die
Meere. Trotz seines Status als unbestrittene Kolonialmacht konnte das britische
Empire ebenso wenig wie die früheren europäischen Anwärter auf globale Hegemonie
Europa im Alleingang beherrschen. Statt dessen vertraute England auf eine
komplizierte Diplomatie des Machtgleichgewichts und schließlich auf eine
englisch-französische Entente, um eine Vorherrschaft Rußlands respektive
Deutschlands auf dem Kontinent zu verhindern.
Das britische Kolonialreich erwuchs aus einem Zusammenspiel von
Entdeckungsdrang, Handelsinteresse und Eroberungswillen. Aber wie bei seinen
römischen und chinesischen Vorläufern oder seinen französischen oder spanischen
Kontrahenten beruhte ein Gutteil seines Standvermögens auf dem Bewußtsein
kultureller Überlegenheit. Es entsprang nicht allein der subjektiven Wahrnehmung
einer arroganten Führungselite, sondern einer Einsicht, die viele
nicht-britische Untertanen teilten. Um die Worte des ersten schwarzen
Präsidenten Südafrikas, Nelson Mandela, zu zitieren: »Ich wurde in einer
britischen Schule erzogen, und damals war England die Heimat des Besten, was die
Welt zu bieten hatte. Ich habe den Einfluß, den England und die englische
Geschichte und Kultur auf uns ausübten, nie verleugnet.« Da diese kulturelle
Überlegenheit erfolgreich zur Geltung gebracht und stillschweigend anerkannt
wurde, bedurfte es keiner großen Militärmacht, um die Autorität der englischen
Krone aufrechtzuerhalten. Noch 1914 überwachten nur ein paar tausend britische
Soldaten und Verwaltungsbeamte etwa elf Millionen Quadratmeilen und hielten fast
400 Millionen nichtbritische Untertanen im Zaum.
Kurzum, Rom übte seine Macht in erster Linie dank einer ausgezeichneten
Militärorganisation und dem Reiz seiner kulturellen Errungenschaften aus. China
stützte sich auf eine leistungsfähige Verwaltung, um ein Reich zu regieren, das
auf einer gemeinsamen ethnischen Identität gründete und dessen Herrschaft durch
ein hoch entwickeltes Bewußtsein kultureller Überlegenheit untermauert wurde.
Das Mongolenreich basierte auf einer ausgefeilten, auf Eroberung abgestimmten
Militärtaktik und einem Hang zur Assimilation. Die Briten (wie auch die Spanier,
Niederländer und Franzosen) erlangten überragende Geltung, als sie in ihren
überseeischen Handelsniederlassungen ihre Flagge hißten und ihre Macht durch
eine überlegene Militärorganisation sowie durch ein anmaßendes Auftreten
festigten. Aber keines dieser Reiche beherrschte die Welt. Nicht einmal
Großbritannien war eine wirkliche Weltmacht. Es beherrschte Europa nicht,
sondern hielt es lediglich im Gleichgewicht. Ein stabiles Europa war für die
internationale Führungsrolle Großbritanniens von zentraler Bedeutung, und die
Selbstzerstörung der Alten Welt markierte zwangsläufig das Ende der britischen
Vormachtstellung.
Im Gegensatz dazu ist der Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika
einzigartig. Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und
Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten
mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zu halten, mit denen sie bis ins Innere
eines Landes vorstoßen und ihrer Macht politisch Geltung verschaffen können.
Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten
des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf. Wie
die folgende Karte zeigt, ist der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen
und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester
an Washington gebunden wären. Die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft schafft
die notwendige Voraussetzung für die Ausübung globaler Vorherrschaft.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war Amerika allen anderen Staaten
ökonomisch weit überlegen, stellte es doch mehr als 50 Prozent des weltweiten
Bruttosozialprodukts. Die wirtschaftliche Erholung Westeuropas und Japans und
die in den folgenden Jahrzehnten zutage tretende ökonomische Dynamik Asiens
schmälerten schließlich den in den ersten Nachkriegsjahren überproportional
hohen Anteil der USA am globalen Bruttosozialprodukt. Trotzdem hatte sich dieser
und, genauer gesagt, Amerikas Anteil an der Industrieproduktion nach dem Ende
des Kalten Kriegs bei etwa 30 Prozent stabilisiert, auf einem Niveau, das in
diesem Jahrhundert die meiste Zeit über die Norm gewesen war. Wichtiger noch,
die USA konnten ihren Vorsprung bei der Nutzung der neuesten
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu militärischen Zwecken behaupten, ja
sogar noch vergrößern. Infolgedessen verfügen sie heute über einen in
technologischer Hinsicht beispiellosen Militärapparat, den einzigen mit einem
weltweiten Aktionsradius. Die ganze Zeit über wahrte Amerika seinen starken
Wettbewerbsvorteil in den auf wirtschaftlichem Gebiet ausschlaggebenden
Informationstechnologien. Seine Überlegenheit in diesen zukunftsträchtigen
Wirtschaftsbereichen deutet darauf hin, daß es seine beherrschende Position auf
technologischem Sektor wahrscheinlich nicht so schnell einbüßen wird, zumal es
in den ökonomisch entscheidenden Bereichen seinen Produktivitätsvorteil
gegenüber den westeuropäischen und japanischen Konkurrenten halten oder sogar
noch ausbauen kann.
Natürlich behagt Rußland und China diese amerikanische Hegemonie ganz und gar
nicht. Daraus machten die Vertreter beider Staaten Anfang des Jahres 1996
während eines Peking-Besuchs des russischen Präsidenten Boris Jelzin keinen
Hehl. Überdies verfügen Rußland und China über Atomwaffenarsenale, die vitale
Interessen der USA bedrohen könnten. Das Dilemma der beiden ist allerdings, daß
jeder von ihnen einen selbstmörderischen Atomkrieg auslösen, ihn aber vorerst
und in absehbarer Zukunft nicht gewinnen kann. Da sie nicht in der Lage sind,
Truppenbewegungen über weite Entfernungen hinweg zu organisieren, um anderen
ihren politischen Willen aufzuzwingen, und sie den Vereinigten Staaten
technologisch weit hinterherhinken, fehlen ihnen schlicht und einfach die
Mittel, weltweit politischen Einfluß auszuüben.
Kurz, Amerika steht in den vier
entscheidenden Domänen globaler Macht unangefochten da: seine weltweite
Militärpräsenz hat nicht ihresgleichen, wirtschaftlich gesehen bleibt es die
Lokomotive weltweiten Wachstums, selbst wenn Japan und Deutschland in einigen
Bereichen eine Herausforderung darstellen mögen (wobei freilich keines der
beiden Länder sich der anderen Merkmale einer Weltmacht erfreut); es hält seinen
technologischen Vorsprung in den bahnbrechenden Innovationsbereichen, und seine
Kultur findet trotz einiger Mißgriffe nach wie vor weltweit, vor allem bei der
Jugend, unübertroffen Anklang. All das verleiht den Vereinigten Staaten von
Amerika eine politische Schlagkraft, mit der es kein anderer Staat auch nur
annähernd aufnehmen könnte. Das Zusammenspiel dieser vier Kriterien ist es, was
Amerika zu der einzigen globalen Supermacht im umfassenden Sinne macht.
Das globale Ordnungssystem der USA
Amerikas internationale Vorrangsstellung beschwört unweigerlich Erinnerungen an
ähnliche Herrschaftssysteme früherer Zeiten herauf, dennoch sind die
Unterschiede gravierend. Sie gehen über die Frage der territorialen Ausdehnung
hinaus. Der weltweite Einfluß der USA basiert auf einem globalen System
unverwechselbar amerikanischen Zuschnitts, das ihre innenpolitischen Erfahrungen
widerspiegelt. Für diese ist der pluralistische Charakter der amerikanischen
Gesellschaft und Politik von zentraler Bedeutung.
Die früheren Imperien waren das Werk aristokratischer politischer Eliten und
wurden in den meisten Fällen autoritär oder absolutistisch regiert. Das Gros
ihrer Bevölkerungen war entweder politisch gleichgültig oder ließ sich — wie in
der jüngeren Geschichte — von imperialistischen Stimmungen und Symbolen
mitreißen. Das Streben nach nationalem Ruhm, the white man's burden, la mission
civilisatrice, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten zu persönlicher
Bereicherung, diente dazu, Unterstützung für imperialistische Abenteuer zu
mobilisieren und hierarchische Machtstrukturen aufrechtzuerhalten. Die
öffentliche Meinung in den USA bezog zu der Frage, ob diese ihre Macht
international geltend machen sollten, viel weniger eindeutig Stellung. Den
Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg unterstützte die Öffentlichkeit
hauptsächlich wegen der Schockwirkung, die der japanische Angriff auf Pearl
Harbour ausgelöst hatte. Das Engagement der USA im Kalten Krieg fand anfangs bei
der Bevölkerung nur geringe Zustimmung, zu einem Meinungsumschwung kam es erst
mit der BerlinBlockade und dem nachfolgenden Koreakrieg. Auch daß die USA aus
dem Kalten Krieg als die einzige Weltmacht hervorgingen, löste in der
Öffentlichkeit keine übermäßige Schadenfreude aus; vielmehr wurde der Ruf nach
einer begrenzteren Definition amerikanischer Verantwortlichkeiten im Ausland
laut. Aus Meinungsumfragen in den Jahren 1995 und 1996 ging hervor, daß der
großen Mehrheit ein Weltmacht-Sharing mit anderen Staaten lieber wäre als eine
Monopolstellung der USA.
Aufgrund dieser innenpolitischen Faktoren stellt Amerikas globales
Ordnungssystem stärker auf die Methode der Einbindung ab (wie im Fall der
besiegten Gegner Deutschland und Japan und in jüngster Zeit sogar Rußland) als
die früheren Großmächte. Ebenso stark setzt es auf die indirekte Einflußnahme
auf abhängige ausländische Eliten, derweil es aus der Anziehungskraft seiner
demokratischen Prinzipien und Institutionen großen Nutzen zieht. Der massive,
aber nicht greifbare Einfluß, den die USA durch die Beherrschung der weltweiten
Kommunikationssysteme, der Unterhaltungsindustrie und der Massenkultur sowie
durch die durchaus spürbare Schlagkraft seiner technologischen Überlegenheit und
seiner weltweiten Militärpräsenz ausüben, verstärkt dieses Vorgehen noch.
Die kulturelle Komponente der Weltmacht USA ist bisweilen unterschätzt worden;
doch was immer man von ihren ästhetischen Qualitäten halten mag, Amerikas
Massenkultur besitzt, besonders für die Jugendlichen in aller Welt, eine
geradezu magnetische Anziehungskraft. Ihre Attraktion mag von dem hedonistischen
Lebensstil herrühren, den sie entwirft; ihr weltweit großer Anklang ist
jedenfalls unbestritten. Amerikanische Fernsehprogramme und Filme decken etwa
drei Viertel des Weltmarktes ab. Die amerikanische Pop-Musik ist ein ebenso
beherrschendes Phänomen, während Amerikas Marotten, Eßgewohnheiten, ja sogar
seine Mode zunehmend imitiert werden. Die Sprache des Internets ist Englisch,
und ein überwältigender Teil des Computer-Schnickschnacks stammt ebenfalls aus
den USA und bestimmt somit die Inhalte der globalen Kommunikation nicht
unwesentlich. Und schließlich ist Amerika zu einem Mekka für jene jungen Leute
geworden, die nach einer anspruchsvollen Ausbildung streben. Annähernd eine
halbe Million ausländischer Studenten drängen alljährlich in die USA, und viele
der Begabtesten kehren nie wieder nach Hause zurück. Absolventen amerikanischer
Universitäten sind in den Regierungskabinetten aller Herren Länder vertreten.
Überall auf der Welt imitieren demokratische Politiker Führungsstil und
Auftreten amerikanischer Vorbilder. Nicht nur John F. Kennedy fand im Ausland
eifrige Nachahmer, auch neuere (und weniger gepriesene) Politiker der USA wurden
zum Gegenstand sorgfältiger Studien und politischer Nachahmung. Politiker aus so
unterschiedlichen Kulturkreisen wie Japan und England (beispielsweise der
japanische Premierminister Mitte der neunziger Jahre, Ryutaro Hashimoto, und der
britische Premier Tony Blair — man beachte dabei das einem Jimmy Carter, Bill
Clinton oder Bob Dole nachgebildete Tony) halten es für angebracht, Bill
Clintons verbindlich joviale Art, sein volksnahes Auftreten und seine
PR-Techniken zu kopieren. Die allgemein mit der politischen Tradition Amerikas
verknüpften demokratischen Ideale intensivieren noch, was manche Leute als
Amerikas Kulturimperialismus wahrnehmen. In einer Zeit, da die demokratische
Regierungsform so weit verbreitet ist wie niemals zuvor, dient die politische
Erfahrung der USA gern als Vorbild. Die Bedeutung, die immer mehr Staaten einer
geschriebenen Verfassung und dem Vorrang der Legislative gegenüber dem
politischen Zweckdenken beimessen, stützt sich auf die Stärke des amerikanischen
Konstitutionalismus, wie trügerisch auch immer dies in der Praxis ist. Auch die
in jüngster Zeit bei den ehemals kommunistischen Staaten zu beobachtende höhere
Gewichtung des zivilen gegenüber dem militärischen Element (insbesondere als
Vorbedingung für eine Mitgliedschaft in der NATO) ist von dem für die USA
charakteristischen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Militär nachhaltig
beeinflußt.
Der Reiz und der Einfluß, die von der amerikanischen Demokratie ausgehen, werden
noch ergänzt durch die wachsende Zugkraft eines freien Unternehmertums, das auf
unbeschränkten Welthandel und ungehinderten Wettbewerb setzt. Da der
westeuropäische Wohlfahrtsstaat, einschließlich seiner deutschen Variante, die
auf Mitbestimmung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften abstellt, seinen
wirtschaftlichen Schwung zu verlieren droht, vertreten immer mehr Europäer die
Meinung, man müsse sich das stärker wettbewerbsorientierte und auch
rücksichtslose amerikanische Wirtschaftsmodell zum Vorbild nehmen, wenn Europa
nicht weiter zurückfallen solle. Selbst in Japan erkennt man allmählich, daß
größere Eigenverantwortung im Wirtschaftsgebaren ein notwendiger Begleitumstand
wirtschaftlichen Erfolges ist.
Der Nachdruck, den die USA auf Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung legen,
verbindet sich somit zu einer schlichten ideologischen Botschaft, die bei vielen
Anklang findet: Das Streben nach persönlichem Erfolg vergrößert die Freiheit und
schafft Wohlstand. Das ist der Nährboden einer unwiderstehlichen Mischung aus
Idealismus und Egoismus. Individuelle Selbstverwirklichung gilt als ein
gottgegebenes Recht, das gleichzeitig anderen zugute kommen kann, indem es ein
Beispiel setzt und Wohlstand erzeugt. Diese Lehre zieht alle jene unweigerlich
in ihren Bann, die Energie, Ehrgeiz und eine hohe Wettbewerbsbereitschaft
mitbringen.
Da der american way of life in aller Welt mehr und mehr Nachahmer findet,
entsteht ein idealer Rahmen für die Ausübung der indirekten und scheinbar
konsensbestimmten Hegemonie der Vereinigten Staaten. Und wie in der
amerikanischen Innenpolitik bringt diese Hegemonie eine komplexe Struktur
miteinander verketteter Institutionen und Verfahrensabläufe hervor, die
Übereinstimmung herstellen und ein Ungleichgewicht an Macht und Einfluß
verdecken sollen. Die globale Vorherrschaft Amerikas wird solchermaßen durch ein
ausgetüfteltes System von Bündnissen und Koalitionen untermauert, das
buchstäblich die ganze Welt umspannt.
Die Nordatlantische Allianz, die unter dem Kürzel NATO firmiert, bindet die
produktivsten und einflußreichsten Staaten Europas an Amerika und verleiht den
Vereinigten Staaten selbst in innereuropäischen Angelegenheiten eine wichtige
Stimme. Die bilateralen politischen und militärischen Beziehungen binden die
bedeutendste Wirtschaftsmacht Asiens an die USA, wobei Japan (zumindest vorerst)
im Grunde genommen ein amerikanisches Protektorat bleibt. Darüber hinaus ist
Amerika an den im Entstehen begriffenen transpazifischen multilateralen
Organisationen, wie dem Forum für asiatisch-pazifische Wirtschaftskooperation
(APEC), beteiligt und nimmt auf diesem Weg großen Einfluß auf die Belange dieser
Region. Da die westliche Hemisphäre generell gegenüber auswärtigen Einflüssen
abgeschirmt ist, können die USA in den bestehenden multilateralen Organisationen
auf dem amerikanischen Kontinent die Hauptrolle spielen. Besondere
Sicherheitsvorkehrungen im Persischen Golf, vor allem nach der kurzen
Strafexpedition gegen den Irak im Jahre 1991, haben diese wirtschaftlich vitale
Region in ein amerikanisches Militärgebiet verwandelt. Sogar der früher
sowjetische Raum ist mit verschiedenen von Amerika finanziell geförderten
Abkommen zur engeren Zusammenarbeit mit der NATO, wie zum Beispiel der
Partnerschaft für den Frieden, verknüpft.
Als Teil des amerikanischen Systems muß außerdem das weltweite Netz von
Sonderorganisationen, allen voran die internationalen Finanzinstitutionen,
betrachtet werden. Offiziell vertreten der Internationale Währungsfond (IWF) und
die Weltbank globale Interessen und tragen weltweit Verantwortung. In
Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert, die sie mit der Konferenz
von Bretton Woods im Jahre 1944 aus der Taufe hoben.
Anders als frühere Imperien ist dieses gewaltige und komplexe globale System
nicht hierarchisch organisiert. Amerika steht im Mittelpunkt eines ineinander
greifenden Universums, in dem Macht durch dauerndes Verhandeln, im Dialog, durch
Diffusion und in dem Streben nach offiziellem Konsens ausgeübt wird, selbst wenn
diese Macht letztlich von einer einzigen Quelle, nämlich von Washington, D.C.,
ausgeht. Das ist auch der Ort, wo sich der Machtpoker abspielt, und zwar nach
amerikanischen Regeln. Vielleicht das größte Kompliment, mit dem die Welt
anerkennt, daß im Mittelpunkt amerikanischer globaler Hegemonie der
demokratische Prozeß steht, ist das Ausmaß, in dem fremde Länder in die
amerikanische Innenpolitik verwickelt sind. Mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln bemühen sich ausländische Regierungen, jene Amerikaner zu mobilisieren,
mit denen sie eine besondere ethnische oder religiöse Identität verbindet. Die
meisten ausländischen Regierungen setzen auch amerikanische Lobbyisten ein, um
ihre Sache, vor allem im Kongreß, voranzubringen, gar nicht zu reden von den
etwa tausend ausländischen Interessengruppen, die in Amerikas Hauptstadt
registriert sind. Auch die ethnischen Gemeinschaften in den USA sind bestrebt,
die Außenpolitik ihres Landes zu beeinflussen, hierbei stechen die jüdischen,
griechischen und armenischen Lobmies als die am besten organisierten hervor.
Die Vormachtstellung Amerikas hat somit eine neue internationale Ordnung
hervorgebracht, die viele Merkmale des amerikanischen Systems als solchem im
Ausland nicht nur kopiert, sondern auch institutionalisiert: -ein kollektives
Sicherheitssystem einschließlich integrierter Kommando und
Streitkräftestrukturen (NATO, der Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan
usw.); -regionale Wirtschaftkooperation (APEC, NAFTA) und spezialisierte
Institutionen zu weltweiter Zusammenarbeit (die Weltbank, IWF,
Welthandelsorganisation, WTO); -Verfahrensweisen, die auf konsensorientierte
Entscheidungsfindung abzielen, selbst wenn die USA darin den Ton angeben; -die
Bevorzugung demokratischer Mitgliedschaft innerhalb der wichtigsten Bündnisse; -
eine rudimentäre weltweite Verfassungs- und Rechtsstruktur (angefangen mit dem
Internationalen Gerichtshof IGH bis hin zu einem Sondertribunal zur Ahndung
bosnischer Kriegsverbrechen).
Dieses System entstand bereits weitgehend in der Zeit des Kalten Krieges als
Teil der Bemühungen Amerikas, seinen Mitkonkurrenten um die globale
Vorherrschaft, die damalige Sowjetunion, in Schach zu halten. Seiner weltweiten
Anwendung stand daher nichts mehr im Wege, als der Gegner taumelte und Amerika
als erste und einzige Weltmacht hervortrat. Treffend faßte der Politologe G.
John Ikenberry die wesentlichen Züge dieses Systems wie folgt zusammen:»Es war
hegemonial, insofern es um die Vereinigten Staaten zentriert war und politische
Mechanismen und Organisationsprinzipien widerspiegelte, die die Handschrift der
USA trugen. Es war liberal, da es legitimiert und durch wechselseitige
Beziehungen geprägt war. Die Europäer [man könnte auch hinzufügen: die Japaner]
konnten ihre gesellschaftlichen Strukturen und Volkswirtschaften wieder aufbauen
und so integrieren, daß sie mit der amerikanischen Vorherrschaft im Einklang
standen, ihnen aber auch genug Spielraum ließen, um mit ihren eigenen autonomen
und halbautonomen politischen Systemen zu experimentieren ... Die Entwicklung
dieses komplexen Systems diente dazu, die Beziehungen der bedeutenden westlichen
Staaten zueinander zu domestizieren. Diese Staaten hatten sich immer wieder
bekriegt, der entscheidende Punkt aber ist, daß Konflikte innerhalb einer fest
verankerten, stabilen und immer besser gegliederten politischen Ordnung im Zaum
gehalten wurden ... Die Kriegsgefahr ist vom Tisch.«2
2 Aus seiner Studie „Creating Liberal Order: The Origins and Persistence of the
Postwar Western Settlement“, University of Pennsylvania, Philadelphia, November
1995.
Gegenwärtig gibt es niemanden, der diese beispiellose globale Vormachtstellung
der USA angreifen könnte. Aber wird sie auch in Zukunft unangefochten bleiben?
2DAS EURASISCHE SCHACHBRETT
Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. Ein halbes Jahrtausend lang
haben europäische und asiatische Mächte und Völker in dem Ringen um die
regionale Vorherrschaft und dem Streben nach Weltmacht die Weltgeschichte
bestimmt. Nun gibt dort eine nichteurasische Macht den Ton an — und der
Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab,
wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.
Auch diese politische Konstellation ist natürlich von begrenzter Dauer. Wie
lange sie bestehen und was auf sie folgen wird, ist nicht nur für Amerikas
Wohlergehen, sondern auch für den internationalen Frieden von entscheidender
Bedeutung. Das plötzliche Hervortreten der ersten und einzigen Weltmacht hat
eine Lage geschaffen, in der ein abruptes Ende ihrer Vorherrschaft — sei es,
weil sich die USA aus der Weltpolitik zurückziehen, sei es, weil plötzlich ein
erfolgreicher Gegner auftaucht — erhebliche internationale Instabilität auslösen
würde. Die Folge wäre weltweite Anarchie. Der Politologe Samuel P. Huntington
dürfte dann mit seiner kühnen Behauptung recht behalten:
»Ohne die Vorherrschaft der USA wird es auf der Welt mehr Gewalt und Unordnung
und weniger Demokratie und wirtschaftliches Wachstum geben, als es unter dem
überragenden Einfluß der Vereinigten Staaten auf die Gestaltung der
internationalen Politik der Fall ist. Die Fortdauer der amerikanischen
Vorherrschaft ist sowohl für das Wohlergehen und die Sicherheit der Amerikaner
als auch für die Zukunft von Freiheit, Demokratie, freier Marktwirtschaft und
internationaler Ordnung in der Welt von zentraler Bedeutung«.3 In diesem
Zusammenhang kommt es darauf an, wie Amerika mit Eurasien umgeht. Eurasien ist
der größte Kontinent der Erde und geopolitisch axial. Eine Macht, die Eurasien
beherrscht, würde über zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich
produktivsten Regionen der Erde gebieten. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um
zu erkennen, daß die Kontrolle über Eurasien fast automatisch die über Afrika
nach sich zöge und damit die westliche Hemisphäre und Ozeanien gegenüber dem
zentralen Kontinent der Erde geopolitisch in eine Randlage brächte (siehe Karte
Seite 55). Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in
seinem Boden wie auch Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen
Reichtums der Welt. Eurasien stellt 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts
und ungefähr drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen. (Siehe
Tabellen Seite 56).
Eurasien beherbergt auch die meisten der politisch maßgeblichen und dynamischen
Staaten. Die nach den USA sechs größten Wirtschaftsnationen mit den höchsten
Rüstungsausgaben liegen in Europa und Asien. Mit einer Ausnahme sind sämtliche
Atommächte und alle Staaten, die über heimliche Nuklearwaffenpotentiale
verfügen, in Eurasien zu Hause.
3 Samuel P. Huntington, „Why International Primary Matters“, International
Security (Spring 1993) : 83
Die beiden bevölkerungsreichsten Anwärter auf regionale Vormachtstellung und
weltweiten Einfluß sind in Eurasien ansässig. Amerikas potentielle
Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem Gebiet sind ausnahmslos
eurasische Staaten. Als Ganzes genommen stellt das Machtpotential dieses
Kontinents das der USA weit in den Schatten. Zum Glück für Amerika ist Eurasien
zu groß, um eine politische Einheit zu bilden.
Eurasien ist mithin das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft
auch in Zukunft ausgetragen wird. Obzwar man Geostrategie — den strategischen
Umgang mit geopolitischen Interessen — mit Schach vergleichen kann, tummeln sich
auf diesem Schachbrett nicht nur zwei, sondern mehrere, unterschiedlich starke
Spieler. Die wichtigsten Spieler operieren im Westen, im Osten, im Zentrum und
im Süden des Schachbretts. Sowohl die westlichen als auch die östlichen
Randgebiete sind dicht besiedelte Regionen, in denen sich auf relativ engem Raum
mehrere mächtige Staaten drängen. Unmittelbar präsent ist die Macht der USA in
der schmalen Zone an der westlichen Peripherie Eurasiens. Das fernöstliche
Festland hat ein immer mächtiger und unabhängig werdender Spieler inne, der eine
riesige Bevölkerung beherrscht, wohingegen das — auf eine Inselkette begrenzte —
Territorium seines energiegeladenen Rivalen sowie die Hälfte einer kleinen
fernöstlichen Halbinsel der US Macht als Stützpunkte dienen.
Zwischen den westlichen und östlichen Randgebieten dehnt sich ein gewaltiger,
dünn besiedelter, derzeit politisch instabiler und in organisatorischer
Auflösung begriffener mittlerer Raum, der früher von einem mächtigen
Konkurrenten der USA okkupiert wurde — einem Gegner, der sich einst dem Ziel
verschrieben hatte, Amerika aus Eurasien herauszudrängen. Südlich von diesem
großen zentraleurasischen Plateau liegt eine politisch anarchische, aber an
Energievorräten reiche Region, die sowohl für die europäischen als auch die
ostasiatischen Staaten sehr wichtig werden könnte und die im äußersten Süden
einen bevölkerungsreichen Staat aufweist, der regionale Hegemonie anstrebt.
Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett das sich von Lissabon
bis Wladiwostok erstreckt — ist der Schauplatz des global play. Wenn der
mittlere Bereich immer stärker in den expandierenden Einflußbereich des Westens
(wo Amerika das Übergewicht hat) gezogen werden kann, wenn die südliche Region
nicht unter die Herrschaft eines einzigen Akteurs gerät und eine eventuelle
Vereinigung der Länder in Fernost nicht die Vertreibung Amerikas von seinen
Seebasen vor der ostasiatischen Küste nach sich zieht, dürften sich die USA
behaupten können. Erteilen die Staaten im mittleren Raum dem Westen eine Abfuhr,
schließen sich zu einer politischen Einheit zusammen und erlangen die Kontrolle
über den Süden oder gehen mit dem großen östlichen Mitspieler ein Bündnis ein,
schwindet Amerikas Vorrangstellung in Eurasien dramatisch. Das gleiche wäre der
Fall, wenn sich die beiden großen östlichen Mitspieler irgendwie vereinigen
sollten. Würden schließlich die europäischen Partner Amerika von seinen
Stützpunkten an der westlichen Peripherie vertreiben, wäre das gleichzeitig das
Ende seiner Beteiligung am Spiel auf dem eurasischen Schachbrett, auch wenn das
wahrscheinlich hieße, daß der westliche Rand des Kontinents schließlich unter
die Knute eines wieder zum Leben erwachten Mitspielers geriete, der den
mittleren Raum beherrscht.
Die globale Hegemonie Amerikas reicht zugegebenermaßen weit, ist aber aufgrund
von innen- wie außenpolitischen Zwängen nicht sehr tief verankert. Amerikanische
Hegemonie besteht in der Ausübung von maßgeblichem Einfluß und, anders als bei
den Weltreichen der Vergangenheit, in keiner direkten Herrschaft. Die schiere
Größe und Vielfalt Eurasiens wie auch die Macht einiger seiner Staaten setzen
dem amerikanischen Einfluß und dem Umfang der Kontrolle über den Gang der Dinge
Grenzen. Dieser Megakontinent ist einfach zu groß, zu bevölkerungsreich,
kulturell zu vielfältig und besteht aus zu vielen von jeher ehrgeizigen und
politisch aktiven Staaten, um einer globalen Macht, und sei es der
wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch gewichtigsten, zu willfahren. Eine
solche Sachlage verlangt geostrategisches Geschick, den vorsichtigen, sorgfältig
ausgewählten und sehr besonnenen Einsatz amerikanischer Ressourcen auf dem
riesigen eurasischen Schachbrett.
Da Amerika im eigenen Land strikt auf Demokratie hält, kann es sich im Ausland
nicht autokratisch gebärden. Dies setzt der Anwendung von Gewalt von vornherein
Grenzen, besonders seiner Fähigkeit zu militärischer Einschüchterung. Nie zuvor
hat eine volksnahe Demokratie internationale Vormachtsstellung erlangt. Aber das
Streben nach Macht wird kein Volk zu Begeisterungsstürmen hinreißen, außer in
Situationen, in denen nach allgemeinem Empfinden das nationale Wohlergehen
bedroht oder gefährdet ist. Die für eine solche Anstrengung erforderliche
ökonomische Selbstbeschränkung (das heißt die Verteidigungsausgaben) und
Aufopferungsbereitschaft (auch Verluste unter Berufssoldaten) passen nicht ins
demokratische Empfinden. Die Staatsform Demokratie ist einer imperialen
Mobilmachung abträglich. Zudem schöpfen die meisten Amerikaner im großen und
ganzen keine besondere Genugtuung aus dem neuen Status ihres Landes als einziger
globaler Supermacht. Politisches Triumphgeschrei über den Sieg Amerikas im
Kalten Krieg erzeugte eher kühle Resonanz, liberale Kommentatoren machten es
sogar zur Zielscheibe eines gewissen Spottes. Mehr Anklang fanden zwei eher
unterschiedliche Einschätzungen der sich für Amerika aus seinem historischen
Erfolg im Wettstreit mit der früheren Sowjetunion abzuleitenden Folgerungen:
einerseits die Auffassung, das Ende des Kalten Krieges rechtfertige eine
bedeutende Verringerung des weltweiten Engagements der USA, ohne Rücksicht auf
die Folgen für Amerikas Position und Ansehen in der Welt; andererseits die
Meinung, nun sei die Zeit für echte multilaterale Zusammenarbeit gekommen und
Amerika müsse sogar etwas von seiner Souveränität abgeben. Beide Denkrichtungen
konnten sich auf treue Anhänger stützen.
Die Probleme, vor die sich die amerikanische Regierung gestellt sieht, werden
zudem durch die veränderte Weltlage erschwert: Vor dem direkten Einsatz von
Macht schreckt man heute mehr zurück als in der Vergangenheit. Angesichts der
Atomwaffen hat der Krieg als Mittel der Politik oder auch nur als Drohung
dramatisch an Sinn eingebüßt. Die wachsende wirtschaftliche Verflechtung der
einzelnen Staaten untereinander nimmt wirtschaftlichen Sanktionen ihre
politische Wirksamkeit. Somit sind politisches Taktieren, Diplomatie,
Koalitionsbildung, Mitbestimmung und der wohlerwogene Einsatz eigener
politischer Aktivposten zu wesentlichen Kriterien einer erfolgreichen
Geostrategie auf dem eurasischen Schachbrett geworden.
Geopolitik und Geostrategie
Amerika kann seine globale Vormachtstellung nur eingedenk des zentralen
Stellenwerts der politischen Geographie in der internationalen Politik zum
Tragen bringen. Napoleon soll einmal gesagt haben, daß man über die Außenpolitik
eines Landes Bescheid wisse, wenn man dessen geographische Lage kenne. Wir
müssen unser Verständnis von der Bedeutung politischer Geographie jedoch den
neuen Machtverhältnissen anpassen.
In der Geschichte der internationalen Beziehungen stand zumeist die Frage der
Gebietshoheit im Mittelpunkt politischer Konflikte. Ursache der meisten Kriege,
die seit dem Aufstieg des Nationalismus ausgefochten wurden, war entweder
übersteigerter Nationalismus über den Erwerb eines größeren Territoriums oder
verletzter Nationalstolz über den Verlust von geheiligtem Land. Ohne
Übertreibung läßt sich sagen, daß das Streben nach Gebietserweiterung der
wichtigste Impuls für das aggressive Verhalten von Nationalstaaten war. Manche
Reiche entstanden auch dadurch, daß man sich ganz behutsam entscheidender
geographischer Vorteile versicherte, wie zum Beispiel Gibraltars, des
Suez-Kanals oder Singapurs, die als verkehrswirtschaftliche Brückenköpfe
dienten.
Am augenfälligsten wurde die Verknüpfung von Nationalismus und Territorialbesitz
im nationalsozialistischen Deutschland und im kaiserlichen Japan. Der Versuch,
das tausendjährige Reich zu errichten, ging weit über das Ziel hinaus, alle
deutschsprachigen Völker unter einem politischen Dach wiederzuvereinen, und
verfolgte auch den Zweck, sich die Kornkammer Ukraine sowie andere slawische
Länder einzuverleiben, deren Bevölkerungen dem Deutschen Reich als billige
Lohnsklaven dienen sollten. Ebenso waren die Japaner von der Vorstellung
besessen, ihrem Reich um nationaler Machtentfaltung und internationalen
Prestiges willen die Mandschurei und später das als Erdölproduzent wichtige
Indonesien einzugliedern. Desgleichen verstand man in Rußland jahrhunderte lang
unter nationaler Größe die Fähigkeit zu Landerwerb, und selbst Ende des 20.
Jahrhunderts rechtfertigt die russische Führung ihr Beharren auf der Oberhoheit
über nichtrussische Völker wie die Tschetschenen, die im Umfeld einer
lebenswichtigen ÖlPipeline leben, mit der Behauptung, dies sei für Rußlands
Status als Großmacht unverzichtbar.
Nationalstaaten werden auch weiterhin die Bausteine der Weltordnung sein. Obwohl
sich die internationale Politik nach dem Niedergang des Großmachtnationalismus
und dem Verblassen der Ideologien versachlicht hat — und mit den Atomwaffen eine
erhebliche Zurückhaltung im Einsatz von Gewalt einherging wird das Weltgeschehen
weiterhin von Gebietsstreitigkeiten beherrscht, auch wenn diese gegenwärtig eher
in zivilisierteren Bahnen verlaufen. Für die außenpolitischen Prioritäten eines
Nationalstaates ist nach wie vor die geographische Lage bestimmend, und auch die
Größe des jeweiligen Territoriums bleibt eines der Hauptkriterien von Status und
Macht.
In jüngster Zeit allerdings hat die Frage des Territorialbesitzes für die
meisten Nationalstaaten an Bedeutung verloren. Wo Gebietsstreitigkeiten noch
immer die Außenpolitik einiger Staaten prägen, haben sie ihre Ursache weniger im
Streben nach nationaler Größe durch territorialen Zugewinn als im Groll darüber,
daß den ethnischen Brüdern das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird und
sie sich nicht dem Mutterland anschließen dürfen. Hinzu kommt die Klage über
angebliche Mißhandlungen ethnischer Minderheiten im benachbarten Ausland.
Die nationalen Führungseliten gelangen zunehmend zu der Erkenntnis, daß für den
internationalen Rang oder Einfluß eines Staates andere als territoriale Faktoren
ausschlaggebender sind. Wirtschaftliches Können und seine Umsetzung in
technologische Innovation kann ebenfalls ein Schlüsselkriterium von Macht sein,
wie das Beispiel Japans überzeugend belegt. Nichtsdestoweniger gibt in der Regel
immer noch die geographische Lage eines Staates dessen unmittelbare Prioritäten
vor und je größer seine militärische, wirtschaftliche und politische Macht ist,
desto weiter reichen auch (über die direkten Nachbarn hinaus) seine vitalen
geopolitischen Interessen, sein Einfluß und sein Engagement.
Bis vor kurzem noch debattierten die führenden Geopolitiker über die Frage, ob
Landmacht bedeutsamer sei als Seemacht und welche Region Eurasiens die
Herrschaft über den gesamten Kontinent gewährleistet. Einer der prominentesten
geopolitischen Theoretiker Harold Mackinder leistete Anfang dieses Jahrhunderts
Pionierarbeit, als er nacheinander die Begriffe eurasische Zentralregion (die
ganz Sibirien und einen Großteil Zentralasiens umfaßte) und
ostmitteleuropäisches Herzland prägte und jede dieser Regionen als Sprungbrett
zur Erlangung der Herrschaft über den Kontinent bezeichnete. Zum Durchbruch
verhalf er seiner Theorie mit dem berühmten Ausspruch:
Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland: Wer über das Herzland
herrscht, beherrscht die Weltinsel. Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht
die Welt. Auch einige führende deutsche Vertreter der politischen Geographie
beriefen sich auf die Geopolitik, um den Drang ihres Landes nach Osten zu
rechtfertigen, vor allem Karl Haushofer, der Mackinders Theorie den
strategischen Bedürfnissen Deutschlands anpaßte. Ein stark vergröbertes Echo
seiner Lehre konnte man aus Reden und Verlautbarungen Hitlers heraushören, in
denen er den für das deutsche Volk notwendigen Lebensraum hervorhob. Andere
europäische Gelehrte sagten bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
voraus, daß sich das geopolitische Gravitationszentrum nach Osten verlagern und
die Pazifikregion — insbesondere Amerika und Japan — wahrscheinlich die
schwindende Vormachtstellung Europas übernehmen würde. Um dem vorzubeugen,
sprach sich unter anderem der französische Geopolitiker Paul Demangeon schon vor
dem Ersten Weltkrieg für eine größere Einheit unter den Europäern aus.
Die geopolitische Frage lautet heute nicht mehr, von welchem Teil Eurasiens aus
der ganze Kontinent beherrscht werden kann, und auch nicht, ob Landmacht
wichtiger als Seemacht ist. In der Geopolitik geht es nicht mehr um regionale,
sondern um globale Dimensionen, wobei eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen
Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist. Die
Vereinigten Staaten, also eine außereurasische Macht, genießen nun
internationalen Vorrang; ihre Truppen sind an drei Randgebieten des eurasischen
Kontinents präsent, von wo aus sie einen massiven Einfluß auf die im eurasischen
Hinterland ansässigen Staaten ausüben. Aber das weltweit wichtigste Spielfeld —
Eurasien — ist der Ort, auf dem Amerika irgendwann ein potentieller Nebenbuhler
um die Weltmacht erwachsen könnte. Eine amerikanische Geostrategie, die die
geopolitischen Interessen der USA in Eurasien langfristig sichern soll, wird
sich somit als erstes auf die Hauptakteure konzentrieren und eine entsprechende
Einschätzung des Terrains vornehmen müssen.
Zwei grundlegende Schritte sind deshalb erforderlich: - erstens, die
geostrategisch dynamischen Staaten Eurasiens auszumachen, die die internationale
Kräfteverteilung möglicherweise entscheidend zu verändern imstande sind, sowie
die zentralen außenpolitischen Ziele ihrer jeweiligen politischen Eliten zu
entschlüsseln und die sich daraus wahrscheinlich ergebenden politischen
Konsequenzen zu antizipieren; des weiteren sind die geopolitisch kritischen
eurasischen Staaten ins Auge zu fassen, die aufgrund ihrer geographischen Lage
und/oder ihrer bloßen Existenz entweder auf die aktiveren geostrategischen
Akteure oder auf die regionalen Gegebenheiten wie Katalysatoren wirken;
- zweitens, eine spezifische US-Politik zu formulieren, die in der Lage ist, die
unter Punkt eins skizzierten Verhältnisse auszubalancieren, mitzubestimmen und
/oder unter Kontrolle zu bekommen, um unverzichtbare US-Interessen zu wahren und
zu stärken und eine umfassendere Geostrategie zu entwerfen, die auf globaler
Ebene den Zusammenhang zwischen den einzelnen Feldern der amerikanischen Politik
herstellt.
Kurz, eurasische Geostrategie bedeutet für die Vereinigten Staaten den taktisch
klugen und entschlossenen Umgang mit geostrategisch dynamischen Staaten und den
behutsamen Umgang mit geopolitisch katalytischen Staaten entsprechend dem
Doppelinteresse Amerikas an einer kurzfristigen Bewahrung seiner einzigartigen
globalen Machtposition und an deren langfristiger Umwandlung in eine zunehmend
institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit. Bedient man sich einer
Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so
lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen
den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu
bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und
dafür zu sorgen, daß die »Barbarenvölker« sich nicht zusammenschließen.
Geostrategische Akteure und geopolitische Dreh- und Angelpunkte
Geostrategische Akteure sind jene Staaten, die die Kapazität und den nationalen
Willen besitzen, über ihre Grenzen hinaus Macht oder Einfluß auszuüben, um den
geopolitischen Status quo in einem Amerikas Interessen berührenden Ausmaß zu
verändern. Sie sind in geopolitischer Hinsicht potentiell und/oder tendenziell
unberechenbar. Aus welchem Grund immer — ob im Streben nach nationaler Größe,
zur Verwirklichung einer Ideologie, aus religiösem Sendungsbewußtsein oder um
wirtschaftlicher Erweiterung willen trachten einige Staaten tatsächlich nach
regionaler Vorherrschaft oder nach Weltrang. Sie sind von tiefverwurzelten und
vielschichtigen Motiven getrieben, die sich, um mit Robert Browning zu sprechen,
am besten so erklären lassen: ... der Mensch soll nach mehr streben, als er
erreichen kann, denn wozu gibt es einen Himmel? Sie schätzen Amerikas Macht
sorgfältig ab, ermitteln, inwieweit sich ihre Interessen mit denen Amerikas
decken oder kollidieren, und entwerfen ihre eigenen, begrenzteren eurasischen
Zielsetzungen manchmal in Absprache mit der Politik der Vereinigten Staaten,
manchmal aber auch im Widerspruch zu ihr. Diesen solcherart motivierten
eurasischen Staaten muß das besondere Augenmerk der USA gelten.
Geopolitische Dreh- und Angelpunkte hin wiederum sind Staaten, deren Bedeutung
nicht aus ihrer Macht und Motivation resultiert, sondern sich viel mehr aus
ihrer prekären geographischen Lage und aus den Folgen ergeben, die ihr Verhalten
aufgrund ihrer potentiellen Verwundbarkeit bestimmen. Geopolitische Angelpunkte
sind meistens durch ihre Geographie geprägt, der sie in einigen Fällen insoweit
eine Sonderrolle verdanken, als sie entweder den Zugang zu geopolitisch
wichtigen Gebieten festlegen oder einem geostrategisch bedeutsamen Akteur
bestimmte Ressourcen verweigern können. In einigen Fällen mag ein geopolitischer
Dreh- und Angelpunkt für einen dynamischen Staat oder sogar eine Region als
Verteidigungsschild fungieren. Manchmal hat die schiere Existenz eines
geopolitischen Angelpunkts für einen benachbarten geostrategischen Akteur
erhebliche politische und kulturelle Folgen. Die wichtigsten geopolitischen
Dreh- und Angelpunkte Eurasiens nach dem Ende des Kalten Kriegs zu bestimmen und
sie zu schützen ist mithin ein weiterer entscheidender Gesichtspunkt in der
globalen Geostrategie der USA.
Zu bedenken ist auch, daß zwar alle geostrategischen Akteure danach streben, in
den Rang einflußreicher und mächtiger Länder aufzurücken, nicht aber alle
wichtigen und mächtigen Länder automatisch geostrategische Akteure sind. Während
man diese relativ leicht bestimmen kann, bedarf deshalb der Umstand, daß in der
folgenden Liste einige zweifelsohne wichtige Länder nicht aufgenommen wurden,
eingehender Begründung.
Unter den gegenwärtigen globalen Gegebenheiten lassen sich mindestens fünf
geostrategische Hauptakteure und fünf geopolitische Dreh- und Angelpunkte (von
denen zwei vielleicht zum Teil auch als Akteure in Frage kommen) auf der neuen
politischen Landkarte Eurasiens ermitteln. Frankreich, Deutschland, Rußland,
China und Indien sind Hauptakteure, während Großbritannien, Japan, Indonesien,
obzwar zugegebenermaßen ebenfalls sehr wichtige Länder, die Bedingungen dafür
nicht erfüllen. Die Ukraine, Aserbaidschan, Südkorea, die Türkei und der Iran
stellen geopolitische Dreh- und Angelpunkte von entscheidender Bedeutung dar,
wenngleich sowohl die Türkei als auch der Iran in einem gewissen Umfang —
innerhalb ihrer begrenzteren Möglichkeiten — geostrategisch aktiv sind. Darauf
wird in den folgenden Kapiteln näher einzugehen sein.
An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, daß die wichtigsten und dynamischsten
geostrategischen Akteure an Eurasiens westlicher Peripherie Frankreich und
Deutschland heißen. Beide sind von der Vision eines geeinten Europas beseelt,
obschon sie in der Frage, wie stark und in welcher Form ein solches Europa an
Amerika gebunden sein sollte, unterschiedliche Auffassungen vertreten. Beide
jedoch haben den Ehrgeiz, etwas Neues in Europa zu gestalten und somit den
Status quo zu verändern.
Vor allem Frankreich hat ein eigenes geostrategisches Konzept für Europa, das
sich in einigen wesentlichen Punkten von den Vorstellungen der Vereinigten
Staaten unterscheidet. Es neigt zu taktischen Schachzügen, mit denen es Rußland
gegen Amerika und Großbritannien gegen Deutschland auszuspielen versucht, obwohl
es auf die deutsch-französische Partnerschaft angewiesen ist, um die eigene
vergleichsweise schwache Position auszugleichen.
Überdies sind sowohl Frankreich als auch Deutschland mächtig und selbstbewußt
genug, um innerhalb eines größeren regionalen Wirkungsbereichs ihren Einfluß
geltend zu machen. Frankreich strebt nicht nur eine zentrale politische Rolle in
einem geeinten Europa an, sondern sieht sich auch als Nukleus einer Gruppe von
Mittelmeeranrainern und nordafrikanischen Staaten, die gleiche Probleme haben.
Deutschland ist sich in zunehmendem Maße seines besonderen Status als
wichtigster Staat Europas bewußt — als wirtschaftlicher Motor der Region und
künftige Führungsmacht der Europäischen Union (EU). Gegenüber dem jüngst aus der
sowjetischen Bevormundung entlassenen Mitteleuropa empfindet es eine besondere
Verantwortung, die vage an frühere Vorstellungen von einem von Deutschland
geführten Mitteleuropa erinnert.
Zudem fühlen sich sowohl Frankreich als auch Deutschland dazu berufen, die
europäischen Interessen in ihren Beziehungen mit Rußland zu vertreten, und
Deutschland hält wegen seiner geographischen Lage an der Option einer besonderen
bilateralen Vereinbarung mit Rußland fest. Im Unterschied dazu ist
Großbritannien kein geostrategischer Akteur. Es hat weniger Optionen, hegt keine
ehrgeizige Vision von der Zukunft Europas und ist aufgrund seines relativen
Niedergangs heute auch nicht mehr in der Lage, wie früher die Rolle eines
Schiedsrichters in Europa zu spielen. Seine ambivalente Haltung gegenüber einer
europäischen Einigung und sein Festhalten an einer verblassenden Sonderbeziehung
zu Amerika haben Großbritannien bei den großen Entscheidungen über Europas
Zukunft zusehends bedeutungslos werden lassen. London hat sich weitgehend aus
dem europäischen Spiel verabschiedet.
Sir Roy Denman, früher ein hochrangiger britischer Beamter in der Europäischen
Kommission, erinnert sich in seinen Memoiren, daß bereits bei der Konferenz von
Messina 1955, die der Schaffung einer Europäischen Union vorausging, der
offizielle Sprecher für Großbritannien gegenüber den versammelten
Möchtegern-Architekten Europas rundweg behauptete:
»Der zukünftige Vertrag, den Sie hier gerade erörtern, hat keine Chance,
angenommen zu werden; sollte er Zustimmung finden, hätte er keine Chance,
angewandt zu werden. Und wenn er angewandt werden würde, wäre er für England
völlig unannehmbar ... au revoir et bonne chance.«4
4 Roy Denman. Missed Chances (London: Cassell, 1996).
Mehr als vierzig Jahre, nachdem diese Äußerungen gefallen sind, beschreiben sie
im wesentlichen noch immer die britische Grundeinstellung gegenüber einem
wirklich geeinten Europa. Großbritanniens Widerwille, an der für Januar 1999
angepeilten Wirtschafts- und Währungsunion teilzunehmen, spiegelt seine
mangelnde Bereitschaft wider, das britische Schicksal mit dem Europas
gleichzusetzen. Die Kernaussage dieser Haltung wurde Anfang der neunziger Jahre
in folgenden Punkten zusammengefaßt:
- Großbritannien lehnt das Ziel einer politischen Vereinigung ab. -
Großbritannien tritt für ein auf Freihandel basierendes Modell wirtschaftlicher
Integration ein. - Großbritannien bevorzugt eine Außen- und Sicherheitspolitik
und eine Verteidigungskoordination außerhalb des institutionellen Rahmens der
Europäischen Gemeinschaft. - Großbritannien hat seinen Einfluß in der EG optimal
verstärkt.5
5 In Robert Skidelskys Beitrag über „Great Britain and the New Europe“ in: From
the Atlantic to the Urals, ed. David P. CaIleo and Philip H. Gordon (Arlington,
Va.: 1992), S. 145.
Natürlich bleibt Großbritannien für Amerika dennoch ein wichtiger Partner. Über
das Commonwealth übt es weiterhin einen gewissen globalen Einfluß aus, aber es
ist weder eine umtriebige Großmacht noch wird es von einer ehrgeizigen Vision
beflügelt. Es ist die wichtigste Stütze der USA, ein sehr loyaler Verbündeter,
eine unerläßliche Militärbasis und ein enger Partner bei heiklen
Geheimdienstaktivitäten. Seine Freundschaft muß gepflegt werden, doch seine
Politik fordert keine dauernde Aufmerksamkeit. Es ist ein aus dem aktiven Dienst
ausgeschiedener geostrategischer Akteur, der sich auf seinem prächtigen Lorbeer
ausruht und sich aus dem großen europäischen Abenteuer weitgehend heraushält,
bei dem Frankreich und Deutschland die Fäden ziehen.
Die anderen europäischen Staaten mittlerer Größe, die in ihrer Mehrzahl
Mitglieder der NATO und/oder der Europäischen Union sind, folgen entweder
Amerikas Beispiel oder stellen sich still und heimlich hinter Deutschland oder
Frankreich. Ihre Politik hat keinen weit reichenden Einfluß auf die Region, und
sie befinden sich auch in keiner Position, in der sie ihre politische
Orientierung grundlegend ändern könnten. Derzeit sind sie weder geostrategische
Akteure noch geopolitische Dreh- und Angelpunkte. dasselbe gilt für das
wichtigste potentielle Nato- und EU Mitglied Mitteleuropas, nämlich für Polen.
Es ist politisch und wirtschaftlich zu schwach, um als geostrategischer Akteur
auftreten zu können, und es hat nur eine Wahl: in den Westen integriert zu
werden. Zudem gewinnt Polen nach dem Untergang des alten Russischen Reichs und
durch seine sich vertiefenden Bindungen zur Nordatlantischen Allianz und
Europäischen Union eine historisch einmalige Sicherheit, während sich seine
strategischen Möglichkeiten dadurch verringern.
Rußland, dies braucht nicht eigens betont zu werden, bleibt ein geostrategischer
Hauptakteur — trotz seiner derzeitigen Schwäche und seiner wahrscheinlich
langwierigen Malaise. Seine bloße Gegenwart beeinträchtigt die seit kurzem
unabhängigen Staaten innerhalb des riesigen eurasischen Raumes der früheren
Sowjetunion ganz massiv. Es nährt ehrgeizige geopolitische Ziele, die es immer
offener verkündet. Wenn es erst einmal seine alte Stärke wiedergewonnen hat,
wird es auch auf seine westlichen und östlichen Nachbarn erheblichen Druck
ausüben. Zudem steht Rußland immer noch vor der geostrategischen Entscheidung,
wie es sich künftig gegenüber den USA verhalten wird: als Freund oder als Feind?
Es mag durchaus der Auffassung zuneigen, daß seine Chancen auf dem eurasischen
Kontinent größer seien. Viel hängt von seiner innenpolitischen Entwicklung ab,
und vor allem davon, ob Rußland eine europäische Demokratie oder wieder ein
eurasisches Imperium wird. In jedem Fall bleibt es eindeutig ein
geostrategischer Akteur, auch wenn es einige seiner Teile sowie einige
Schlüsselpositionen auf dem eurasischen Schachbrett inzwischen eingebüßt hat.
Ebenfalls unstrittig ist Chinas Stellung als Hauptakteur. China ist bereits eine
bedeutende regionale Macht und strebt aufgrund seiner Geschichte als Großmacht
und seiner Überzeugung, daß der chinesische Staat der Mittelpunkt der Welt sei,
wahrscheinlich nach höheren Zielen. Die von seiner Führung getroffenen
Entscheidungen beginnen sich bereits jetzt auf die geopolitische Machtverteilung
in Asien auszuwirken, während sein wirtschaftlicher Aufschwung bestimmt mit noch
größerer Macht und wachsenden Ambitionen einhergehen wird. Der Aufstieg eines
größeren Chinas wird die Taiwan-Frage wieder aufwerfen und für die amerikanische
Position im Fernen Osten nicht folgenlos bleiben. Die Demontage der Sowjetunion
hat an Chinas westlichem Rand eine Reihe von Staaten entstehen lassen, denen
gegenüber die chinesischen Führer nicht gleichgültig sein können. Wenn China
sich auf der internationalen Bühne stärker geltend macht, wird davon auch
Rußland betroffen sein.
An der östlichen Peripherie Eurasiens besteht eine paradoxe Situation. Japan ist
fraglos eine internationale Großmacht, und das amerikanischjapanische Bündnis
hat man häufig — zu Recht — die wichtigste bilaterale Beziehung der USA genannt.
Als eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt könnte Japan zweifellos
enorme politische Macht ausüben. Dennoch handelt es nicht danach, da es keine
regionale Vorherrschaft anstrebt, sondern statt dessen lieber unter
amerikanischem Schutz agiert. Wie Großbritannien im Hinblick auf Europa, zieht
es Japan vor, sich aus dem politischen Geschehen auf dem asiatischen Festland
herauszuhalten, nicht zuletzt deshalb, weil viele Asiaten jedem japanischen
Streben nach einer regional beherrschenden politischen Rolle nach wie vor mit
Feindseligkeit begegnen.
Diese von Zurückhaltung und Selbstdisziplin geprägte Politik der Japaner
verschafft wiederum den USA die Möglichkeit, in Fernost eine zentrale Rolle in
Fragen der Sicherheit zu spielen. Japan ist somit kein geostrategischer Akteur,
obwohl sein unverkennbares Potential, schnell einer zu werden — insbesondere
dann, wenn entweder China oder Amerika ihre gegenwärtige Politik plötzlich
ändern sollten -, den Vereinigten Staaten einen pfleglichen Umgang mit ihrem
japanischen Verbündeten zur besonderen Pflicht macht. Nicht die japanische
Außenpolitik muß Amerika im Auge behalten, sondern es muß vielmehr Japans
Selbstbeherrschung sehr subtil kultivieren. Jeder merkliche Abbau in den
amerikanisch-japanischen Beziehungen würde unmittelbar die Stabilität in der
Region beeinträchtigen.
Leichter läßt sich begründen, weshalb Indonesien nicht zur Gruppe der
dynamischen geostrategischen Akteure zählt. Indonesien ist zwar das wichtigste
Land in Südostasien, vermag aber aufgrund seiner relativ unterentwickelten
Wirtschaft, der innenpolitischen Unsicherheiten, des weit verstreuten Archipels
und dessen Anfälligkeit für ethnische Konflikte, die durch die zentrale Rolle
der chinesischen Minderheit im nationalen Finanzleben noch verschärft werden, in
der Region nur beschränkt Einfluß auszuüben. Irgendwann könnte Indonesien zu
einem wichtigen Hindernis für Chinas südwärts gerichtete Expansionsbestrebungen
werden. Diesen Aspekt hatte bereits Australien erkannt, das einst einen
indonesischen Expansionismus fürchtete, in letzter Zeit jedoch für eine engere
australisch-indonesische Zusammenarbeit in Fragen der regionalen Sicherheit
eintritt. Bevor Indonesien aber als ein in der Region dominierender Akteur
betrachtet werden kann, muß es erst eine Phase der politischen Konsolidierung
und des fortdauernden wirtschaftlichen Erfolges durchlaufen.
Im Gegensatz dazu befindet sich Indien gerade in einem Prozeß, sich als
regionale Macht zu etablieren, und begreift sich potentiell als einen wichtigen
Akteur auf der internationalen Bühne. Außerdem versteht es sich als Rivale
Chinas. Indien mag darin seine langfristigen Möglichkeiten überschätzen, aber es
ist unstreitig der mächtigste südasiatische Staat, gewissermaßen eine regionale
Hegemonialmacht. Es ist zudem eine halboffizielle Atommacht. Mit diesem
Rüstungspotential will es nicht nur Pakistan einschüchtern, sondern vor allem
den nuklearen Arsenalen Chinas etwas Gleichwertiges entgegensetzen. Indien hat
eine geostrategische Vision von seiner Rolle in der Region, sowohl gegenüber
seinen Nachbarn als auch in Bezug auf den Indischen Ozean. Zum gegenwärtigen
Zeitpunkt tangieren seine Ambitionen die amerikanischen Interessen in Eurasien
nur am Rande, und so bietet Indien, als geostrategischer Akteur, keinen Anlaß zu
geopolitischen Bedenken — zumindest nicht im selben Maße wie Rußland oder China.
Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist
ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als
unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist
Rußland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen
Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das
aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden
Zentralasiaten hineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich
erlangten Eigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderen islamischen
Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden. Auch China würde sich angesichts
seines zunehmenden Interesses an den dortigen neuerdings unabhängigen Staaten
voraussichtlich jeder Neuauflage einer russischen Vorherrschaft über
Zentralasien widersetzen. Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine
mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum
Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Rußland automatisch die Mittel,
ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine
ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde
Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten
Europas werden lassen.
Auch das relativ kleine, dünn besiedelte Aserbaidschan ist mit seinen riesigen
Energiequellen unter geopolitischem Aspekt nicht zu unterschätzen. Es ist
gewissermaßen der Korken in der Flasche, die die Schätze des Kaspischen Beckens
und Zentralasiens enthält. Wenn Aserbaidschan gänzlich der Herrschaft Moskaus
unterworfen wird, kann die Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten
bedeutungslos werden. Ist Aserbaidschans Unabhängigkeit erst einmal aufgehoben,
können auch seine enormen Ölvorkommen der Kontrolle Moskaus unterworfen werden.
Ein unabhängiges Aserbaidschan, das mit den Märkten des Westen durch Pipelines,
die nicht durch russisch kontrolliertes Gebiet verlaufen, verbunden ist, wird
außerdem für die hoch entwickelten, auf Energie angewiesenen Volks- wirtschaften
ein Einfallstor zu den energiereichen zentralasiatischen Republiken sein. Fast
wie im Fall der Ukraine ist auch die Zukunft Aserbaidschans und Zentralasiens
für das Wohl und Wehe Rußlands bestimmend.
Die Türkei und der Iran sind gerade dabei, sich den Rückzug russischer Macht
zunutze zu machen und einen gewissen Einfluß in der Region um das Kaspische Meer
und Zentralasien aufzubauen. Aus diesem Grund könnte man sie als geostrategische
Akteure betrachten. Beide Staaten haben jedoch mit ernsten innenpolitischen
Schwierigkeiten zu kämpfen, und ihre Möglichkeiten, in der Machtverteilung
größere regionale Verschiebungen zu bewirken, sind begrenzt. Sie verstehen sich
außerdem als Gegner und neigen daher dazu, sich gegenseitig Einfluß streitig zu
machen. So war zum Beispiel in Aserbaidschan, wo die Türkei großen Einfluß
gewonnen hat, die iranische Haltung (resultierend aus Sorge über einen möglichen
nationalen Aufruhr der Aseris im Iran) für die Russen hilf reicher.
Sowohl die Türkei als auch der Iran sind freilich in erster Linie wichtige
geopolitische Dreh- und Angelpunkte. Die Türkei stabilisiert das Gebiet ums
Schwarze Meer, kontrolliert den Zugang von diesem zum Mittelmeer, bietet Rußland
im Kaukasus Paroli, bildet immer noch ein Gegengewicht zum islamischen
Fundamentalismus und dient als der südliche Anker der NATO. Eine destabilisierte
Türkei würde wahrscheinlich mehr Gewalt im südlichen Balkan entfesseln und es
zugleich den Russen erleichtern, den seit kurzem unabhängigen Staaten im
Kaukasus erneut ihre Herrschaft auf zu zwingen. Trotz seiner zweideutigen
Haltung gegenüber Aserbaidschan unterstützt der Iran die neue politische
Vielfalt des mittelasiatischen Raumes auf ähnlich stabilisierende Weise. Er
beherrscht die östliche Küstenlinie des Persischen Golfes, während seine
Unabhängigkeit, ungeachtet aller gegenwärtigen Feindseligkeiten gegenüber den
Vereinigten Staaten, jeder langfristigen russischen Bedrohung der amerikanischen
Interessen in der Golfregion einen Riegel vorschiebt.
Südkorea schließlich ist ein geopolitischer Angelpunkt in Fernost. Seine enge
Bindung an die Vereinigten Staaten versetzt die Amerikaner in die Lage, ohne
anmaßende Präsenz im Land selbst Japan abzuwehren und daran zu hindern, sich zu
einer unabhängigen und größeren Militärmacht aufzuschwingen. Jede wichtige
Veränderung im Status von Südkorea, sei es durch Vereinigung und/oder durch eine
Verlagerung in eine sich ausdehnende chinesische Einflußsphäre, würde
unweigerlich Amerikas Rolle im Fernen Osten und somit auch die Japans dramatisch
verändern. Zudem wird Südkorea aufgrund seiner wachsenden Wirtschaftsmacht zu
einem wichtigeren Raum sui generis, den unter Kontrolle zu bekommen zunehmend an
Bedeutung gewinnt.
Die obige Aufstellung von geostrategischen Akteuren und geopolitischen Dreh- und
Angelpunkten ist weder endgültig noch starr. Möglicherweise kommt der eine oder
andere Staat irgendwann hinzu oder fällt weg. In mancherlei Hinsicht könnte man
sicherlich Taiwan oder Thailand, Pakistan, vielleicht auch Kasachstan oder
Usbekistan in die letztere Kategorie aufnehmen. Derzeit scheint dies jedoch in
keinem der genannten Fälle zwingend. Würde sich am Status eines dieser Staaten
etwas verändern, so stünden größere Ereignisse dahinter, die gewisse
Verschiebungen in der Machtverteilung mit sich brächten, aber es ist fraglich,
ob dies weit reichende Folgen katalytischer Art hätte. Losgelöst von China
betrachtet, könnte die einzige Ausnahme das Taiwan-Problem darstellen. Doch
problematisch würde es erst dann, wenn China den Vereinigten Staaten zum Trotz
zur Eroberung der Insel massive Gewalt einsetzen sollte, weil dadurch die
politische Glaubwürdigkeit der USA in Fernost ganz allgemein in Gefahr geriete.
Die Wahrscheinlichkeit, daß dergleichen eintritt, scheint gering, dennoch muß
man diesen Gesichtspunkt im Auge behalten, wenn man eine Politik der USA
gegenüber China entwirft.
Ernste Entscheidungen und mögliche Herausforderungen
Stehen die Hauptakteure und wichtigsten Dreh- und Angelpunkte erst einmal fest,
so kann man die großen Verlegenheiten, in denen sich die Politik der USA
befindet, benennen und die wichtigsten Herausforderungen, vor die sie auf dem
eurasischen Kontinent gestellt sein könnte, besser vorausberechnen. Bevor wir
diese Probleme in den folgenden Kapiteln umfassender erörtern, kann man sie in
fünf großen Fragen-komplexen zusammenfassen:
- Welches Europa sollte sich Amerika wünschen und mithin fördern? - Welches
Rußland ist in Amerikas Interesse, und was kann Amerika dazu beitragen? - Wie
stehen die Aussichten, daß im Zentrum Eurasiens ein neuer Balkan entsteht, und
was sollte Amerika tun, um die daraus entstehenden Risiken zu minimieren? - Zu
welcher Rolle in Fernost sollte man China ermutigen, und welche Folgerungen sind
aus dem bisher Gesagten nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern auch für
Japan abzuleiten? - Welche neuen eurasischen Koalitionen sind denkbar, die den
Interessen der USA überaus gefährlich werden könnten, und was muß getan werden,
um sie auszuschließen?
Die Vereinigten Staaten haben immer ihr aufrichtiges Interesse an einem
vereinten Europa bekundet. Seit den Tagen der Kennedy-Administration wurde
gebetsmühlenhaft gleichberechtigte Partnerschaft beschworen. Das offizielle
Washington wurde nicht müde, seinen Wunsch zu beteuern, Europa zu einer Einheit
zusammenwachsen zu sehen, die mächtig genug wäre, um sich mit Amerika die
Verantwortung wie auch die Lasten einer globalen Führungsrolle zu teilen.
Soweit die herrschende Sprachregelung zu diesem Thema. In der Praxis haben sich
die Vereinigten Staaten weniger klar und eindeutig verhalten. Wünscht sich
Washington wirklich ein Europa, das als ein gleichberechtigter Partner im
Weltgeschehen auftritt, oder ist ihm ein ungleiches Bündnis im Grunde lieber?
Sind die USA beispielsweise bereit, sich mit Europa die Führung im Nahen Osten
zu teilen, einer Region, die nicht nur geographisch viel näher an Europa liegt
als an Amerika, sondern in der einzelne europäische Staaten zudem seit langem
eigene Interessen verfolgen? In diesem Zusammenhang fällt einem sofort das
Problem Israel ein. Auch die euroamerikanischen Meinungsverschiedenheiten über
die Haltung gegenüber Iran und Irak wurden von den USA nicht als eine strittige
Angelegenheit zwischen gleichgestellten Partnern, sondern als ein Fall von
Insubordination behandelt.
Die mehrdeutige Haltung in der Frage nach dem Ausmaß amerikanischer
Unterstützung für die europäische Einheit schloß auch das Problem mit ein, wie
Europas Einheit definiert werden und welches Land, wenn überhaupt eines, in dem
Einigungsprozeß die Führung übernehmen sollte. Washington hat London nicht davon
abgebracht, in den Verhandlungen über die europäische Integration Uneinigkeit zu
stiften, obwohl es andererseits deutlich zu erkennen gab, daß es die deutsche
Führungsrolle einer Frankreichs vorziehe. Angesichts des traditionellen Tenors
der französischen Politik ist dies verständlich, hatte aber zur Folge, daß damit
der gelegentliche Anschein einer taktischen Entente zwischen Engländern und
Franzosen gefördert wurde, um Deutschland einen Strich durch die Rechnung zu
ziehen, wie auch einen zeitweiligen Flirt Frankreichs mit Moskau, um die
amerikanisch-deutsche Koalition wettzumachen. Das Entstehen eines wirklich
geeinten Europas — vor allem, wenn dies mit konstruktiver Unterstützung Amerikas
geschehen sollte — wird bedeutsame Veränderungen in der Struktur und den
Entscheidungsprozessen der NATO, des wichtigsten Verbindungsglieds zwischen
Amerika und Europa, erforderlich machen. Die NATO bietet nicht nur den
institutionellen Rahmen für die Ausübung amerikanischen Einflusses auf
europäische Angelegenheiten, sondern auch die Grundlage für die politisch
entscheidende Militärpräsenz der USA in Westeuropa. Im Zuge der europäischen
Einigung wird jedoch diese Verteidigungsstruktur an die neue Wirklichkeit eines
Bündnisses angepaßt werden müssen, das auf einer mehr oder minder
gleichberechtigten Partnerschaft beruht und eben nicht mehr eine Allianz ist, in
der es, um traditionelle Begriffe zu gebrauchen, einen Hegemon und dessen
Vasallen gibt. Trotz der bescheidenen Schritte, die 1996 unternommen wurden, um
innerhalb der NATO die Rolle der Westeuropäischen Union (WEU), des
Militärbündnisses der westeuropäischen Staaten, zu verbessern, ist dieses
Problem bisher weitgehend umgangen worden. Eine wirkliche Entscheidung für ein
vereintes Europa wird folglich eine weit reichende Neuordnung der NATO
erzwingen, die unweigerlich die Vormachtstellung der USA innerhalb des
Bündnisses schwächen wird.
Kurzum, eine langfristige amerikanische Geostrategie für Europa wird die Fragen
der europäischen Einheit und echter Partnerschaft mit Europa mit aller
Bestimmtheit angehen müssen. Ein Amerika, das ein geeintes und somit
unabhängigeres Europa wirklich will, wird sich mit seinem ganzen Gewicht für
jene europäischen Kräfte einsetzen müssen, denen die politische und
wirtschaftliche Integration Europas ein echtes Anliegen ist. Eine solche
Strategie bedeutet aber auch, sich von den Relikten eines einstmals geheiligten
Sonderverhältnisses zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich zu
verabschieden.
Eine Politik für ein geeintes Europa wird sich außerdem — wenn auch gemeinsam
mit den Europäern — der hochsensiblen Frage nach Europas geographischer
Ausdehnung stellen müssen. Wie weit sollte sich die Europäische Union nach Osten
erstrecken? Und sollten die Ostgrenzen der EU zugleich die östliche Frontlinie
der NATO sein? Ersteres ist mehr eine europäische Entscheidung, wird sich aber
unmittelbar auf eine NATO-Entscheidung auswirken. Diese allerdings betrifft auch
die Vereinigten Staaten, und die Stimme der USA ist in der NATO noch immer
maßgebend. Da zunehmend Konsens darüber besteht, daß die Nationen Mitteleuropas
sowohl in die EU als auch in die NATO aufgenommen werden sollten, richtet sich
die Aufmerksamkeit auf den zukünftigen Status der baltischen Republiken und
vielleicht bald auf den der Ukraine.
Dieses europäische Dilemma überschneidet sich weitgehend mit dem zweiten, bei
dem es um Rußland geht. Es ist leicht, auf die Frage nach Rußlands Zukunft mit
der Beteuerung zu antworten, daß man ein demokratisches, eng an Europa
gebundenes Rußland bevorzuge. Vermutlich brächte ein demokratisches Rußland den
von Amerika und Europa geteilten Werten mehr Sympathie entgegen und würde
demgemäß auch mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Juniorpartner bei der
Gestaltung eines stabileren und kooperativeren Eurasien. Aber Rußland hegt
womöglich weitergehende Ambitionen und gibt sich nicht damit zufrieden, als
Demokratie Anerkennung und Respekt zu erlangen. Innerhalb der russischen
Außenamtsbehörde (die zum größten Teil aus früheren Sowjetbürokraten besteht)
lebt und gedeiht ungebrochen ein tief sitzendes Verlangen nach einer Sonderrolle
in Eurasien, die folgerichtig mit einer neuerlichen Unterordnung der nun
unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken gegenüber Moskau einherginge.
In diesem Zusammenhang wittern einige einflußreiche Mitglieder der russischen
Politbürokratie sogar hinter einer freundlichen Politik des Westens die Absicht,
Rußland seinen rechtmäßigen Anspruch auf Weltmachtstatus streitig zu machen, was
zwei russische Geopolitiker folgendermaßen ausdrückten:
»Die Vereinigten Staaten und die Länder der NATO sind dabei — ob zwar unter
größtmöglicher Rücksichtnahme auf Rußlands Selbstachtung, aber
nichtsdestoweniger entschieden und beständig -, die geopolitischen Grundlagen zu
zerstören, die, zumindest theoretisch, Rußland die Hoffnung lassen könnten, sich
in der Weltpolitik den Status der Nummer zwei zu erwerben, den früher die
Sowjetunion innehatte.«
Überdies wird Amerika unterstellt, es verfolge eine Politik, in der »die vom
Westen betriebene Neuordnung des europäischen Raumes im Grunde von dem Gedanken
geleitet ist, in diesem Teil der Welt neue, relativ kleine und schwache
Nationalstaaten durch deren mehr oder weniger enge Bindung an die NATO, die EU
und dergleichen zu stützen.«6
6 A. Bogaturow und W. Kremenjuk (beide Hochschullehrer am
Amerika-Kanada-Institut der Akademie der Wissenschaften) in „Current Relations
and Prospects for Interaction Between Russia and the United States“,
Nszawissimaja Gaseta, 28. Juni 1996
Die zitierten Stellen beschreiben zutreffend, wenn auch nicht ohne eine gewisse
Feindseligkeit, das Dilemma, mit dem es die Vereinigten Staaten zu tun haben.
Wie weit sollte die Wirtschaftshilfe für Rußland gehen — die das Land politisch
und wirtschaftlich zwangsläufig stärkt -, und in welchem Maße sollte parallel
dazu den neuerdings unabhängigen Staaten geholfen werden, ihre Unabhängigkeit zu
verteidigen und zu festigen? Kann Rußland gleichzeitig ein mächtiger Staat und
eine Demokratie sein? Sollte es seine frühere Macht wieder erlangen, wird es
dann nicht sein verloren gegangenes Reichsgebiet zurückgewinnen wollen, und kann
es dann sowohl ein Weltreich als auch eine Demokratie sein?
Eine Politik der USA gegenüber den wichtigen geopolitischen Angelpunkten Ukraine
und Aserbaidschan kann dieses Problem nicht umgehen, daher sieht sich Amerika,
was das taktische Gleichgewicht und die strategische Zielvorstellung angeht, in
einer Zwickmühle. Rußlands innenpolitische Erholung ist die wesentliche
Voraussetzung für seine Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung.
Aber jede Erholung seines imperialen Potentials wäre beiden Zielen abträglich.
Zudem könnte es über diese Fragen zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Vereinigten Staaten und einigen europäischen Staaten kommen, besonders bei einer
Erweiterung von EU und NATO. Sollte Rußland als Anwärter auf eine Mitgliedschaft
in einer diesen beiden Strukturen in Betracht gezogen werden? Und was wäre dann
mit der Ukraine? Bei einem Ausschluß Rußlands könnte der dafür zu entrichtende
Preis hoch sein — die Russen würden sich in ihren Vorurteilen und Ängsten
bestätigt fühlen, eine Art von self-fulfilling-prophecy griffe um sich -, aber
eine Aufweichung der EU oder der NATO könnte sich nicht minder destabilisierend
auswirken. Eine weitere große Unsicherheit droht in dem geopolitisch im Fluß
befindlichen zentraleurasischen Raum, die durch die potentielle Verwundbarkeit
der Angelpunkte Türkei und Iran noch verstärkt wird. In dem auf der folgenden
Karte eingezeichneten Gebiet von der Krim im Schwarzen Meer geradewegs entlang
der neuen südlichen Grenzen Rußlands nach Osten bis zur chinesischen Provinz
Xinjiang, von da südlich zum Indischen Ozean hinab, weiter nach Westen bis zum
Roten Meer, nach Norden zum östlichen Mittelmeer und zurück zur Halbinsel Krim,
leben an die 400 Millionen Menschen in etwa 25 Staaten, die fast allesamt sowohl
ethnisch als auch in ihrem religiösen Bekenntnis heterogen und politisch
weitgehend instabil sind. Einige dieser Staaten sind womöglich gerade dabei,
sich Atomwaffen zu beschaffen.
In diesem von leicht entflammbaren Haßgefühlen zerrissenen und von miteinander
konkurrierenden mächtigen Nachbarn umgebenen Raum werden sich vermutlich Kriege
zwischen Nationalstaaten wie auch, was noch wahrscheinlicher ist, langwierige
ethnische und religiöse Konflikte abspielen. Deren regionale Ausdehnung wird
maßgeblich davon abhängen, ob Indien als Hemmnis wirkt oder ob es von der einen
oder anderen Gelegenheit Gebrauch macht, Pakistan seinen Willen aufzuzwingen.
Die innenpolitischen Spannungen der Türkei und des Irans werden sich
wahrscheinlich zuspitzen und beide Staaten weitgehend um ihre stabilisierende
Rolle bringen, die sie in dieser unruhigen Region zu spielen vermögen. Derartige
Entwicklungen wiederum werden die Assimilierung der neuen zentralasiatischen
Staaten an die internationale Gemeinschaft erschweren und auch die bisher vor
allem von den USA gewährleistete Sicherheit der Golfregion nachhaltig
beeinträchtigen. Hier jedenfalls könnten Amerika und die internationale
Gemeinschaft mit einer Herausforderung konfrontiert werden, die die gegenwärtige
Krise im früheren Jugoslawien weit in den Schatten stellen wird.
Teil des Problems in dieser instabilen Region könnte eine Bedrohung der
amerikanischen Vormachtstellung durch den islamischen Fundamentalismus werden.
Unter Ausnutzung der religiösen Feindseligkeit gegenüber dem american way of
life und des arabisch-israelischen Konflikts könnte der islamische
Fundamentalismus einige prowestliche Regierungen im Nahen Osten unterminieren
und schließlich amerikanische Interessen in der Region, besonders am Persischen
Golf, gefährden. Ohne politischen Zusammenhalt und ohne die Rückendeckung eines
wirklich mächtigen islamischen Staates fehlte es dem islamischen
Fundamentalismus an einem geopolitischen Kern, deshalb würde die von ihm
ausgehende Kampfansage sich wahrscheinlich eher in diffuser Gewalt Bahn brechen.
Ein geostrategisch grundlegendes Problem wirft Chinas Aufstieg zur Großmacht
auf. Die beste Lösung wäre es, wenn man ein zur Demokratie findendes,
marktwirtschaftlich organisiertes China in einen größeren Rahmen regionaler
Zusammenarbeit einbinden könnte. Doch was ist, wenn China nicht demokratisch,
aber wirtschaftlich und militärisch immer mächtiger wird? Ein größeres China
wird es wohl geben, ganz gleich, was seine Nachbarn sich wünschen oder
ausrechnen, und alle Bemühungen, dies zu verhindern, könnten einen sich
verschärfenden Konflikt mit China heraufbeschwören. Ein solcher Konflikt könnte
die amerikanisch-japanischen Beziehungen belasten — denn es ist keineswegs
sicher, ob Japan Amerikas Versuch, China Paroli zu bieten, mittragen würde und
Tokios Definition seiner Rolle in der Region mit womöglich revolutionären
Konsequenzen ändern, ja, vielleicht sogar das Ende der amerikanischen Präsenz in
Fernost einläuten.
Eine Übereinkunft mit China wird jedoch ihren Preis fordern. China als regionale
Macht zu akzeptieren heißt mehr, als nur einem Schlagwort beizupflichten. Jede
derartige regionale Vorherrschaft wird ein gewisses Gewicht haben müssen. Um es
ganz deutlich zu formulieren: Wie groß sollte Chinas Bannkreis sein und wohin
sollte sich die chinesische Einflußsphäre erstrecken, die Amerika bereit wäre,
als Teil einer Politik der Einbindung Chinas in die Weltpolitik zu akzeptieren?
Welche der heute außerhalb seines politischen Radius liegenden Gebiete müßten
möglicherweise dem Herrschaftsbereich des wieder auferstehenden Himmlischen
Reiches zugestanden werden?
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Festhalten Amerikas an seiner militärischen
Präsenz in Südkorea besondere Bedeutung. Ohne sie ist der Fortbestand des
amerikanisch-japanischen Verteidigungsabkommens in seiner gegenwärtigen Form
schwer vorstellbar, denn Japan wäre dann zwangsläufig militärisch stärker auf
sich gestellt. Hingegen dürfte jeder Schritt zu einer Wiedervereinigung Koreas
die Grundlage für eine fortdauernde militärische Präsenz der USA in Südkorea
stören. Ein wiedervereinigtes Korea könnte sich möglicherweise gegen eine
Fortdauer des US-militärischen Schutzes entscheiden; und in der Tat könnte das
der Preis sein, den China dafür verlangt, daß es seinen Einfluß für die
Wiedervereinigung der Halbinsel geltend macht. Kurz, das Verhältnis der USA zu
China wird unweigerlich unmittelbare Auswirkungen auf die trilaterale
Sicherheitspartnerschaft zwischen den USA, Japan und Korea haben.
Schließlich sollte noch auf ein paar Eventualfälle zukünftiger politischer
Ausrichtungen hingewiesen werden, die in den jeweiligen Kapiteln ausführlicher
erörtert werden. In der Vergangenheit haben die Kämpfe einzelner Staaten um die
regionale Vorherrschaft die internationale Politik weitgehend bestimmt. Von nun
an steht Amerika vor der Frage, wie es mit regionalen Koalitionen fertig wird,
die es aus Eurasien hinauswerfen wollen und damit seinen Status als Weltmacht
bedrohen. Ob sich solche Koalitionen tatsächlich bilden, um die amerikanische
Vormacht herauszufordern, wird allerdings in sehr hohem Maße davon abhängen, wie
die USA auf die hier dargelegten Zwangslagen reagieren. Das gefährlichste
Szenario wäre möglicherweise eine große Koalition zwischen China, Rußland und
vielleicht dem Iran, ein nicht durch Ideologie, sondern durch die tief sitzende
Unzufriedenheit aller Beteiligten geeintes antihegemoniales Bündnis. Ein solches
Bündnis würde in Größenordnung und Reichweite an die Herausforderung erinnern,
die einst von dem chinesischsowjetischen Block ausging, obgleich diesmal
wahrscheinlich China die Führung übernähme und Rußland sich dieser anschlösse.
Um diese Eventualität, wie fern sie auch sein mag, abzuwenden, müssen die
Vereinigten Staaten gleichzeitig an der westlichen, östlichen und südlichen
Peripherie Eurasiens geostrategisches Geschick beweisen.
Eine geographisch begrenztere, womöglich aber noch folgenreichere
Herausforderung könnte eine chinesisch-japanische Achse bedeuten, sollte
Amerikas Stellung im Fernen Osten zusammenbrechen und sich Japans Weltsicht auf
revolutionäre Weise ändern. Eine solche Achse verbände die Macht zweier
außerordentlich produktiver Völker und könnte sich eine gewisse Form von
»Asianismus« als eine beide Partner vereinigende antiamerikanische Lehre zunutze
machen. Angesichts der beiderseitigen historischen Erfahrung scheint es jedoch
unwahrscheinlich, daß China und Japan in absehbarer Zukunft miteinander ein
Bündnis eingehen; allerdings sollte eine weit blickende amerikanische Politik in
Fernost sehr wohl in der Lage sein, das Eintreten eines solchen Falles zu
verhindern.
Nicht minder abseitig, aber nicht völlig auszuschließen ist die Möglichkeit
einer großen europäischen Neuorientierung, die entweder eine deutsch-russische
Absprache oder eine französischrussische Entente zur Folge hätte. Für beide gibt
es in der Geschichte eindeutige Präzedenzfälle, und zu einer von beiden könnte
es kommen, wenn die europäische Einigung ins Stocken geriete und sich die
Beziehungen zwischen Europa und Amerika ernsthaft verschlechtern sollten.
Tatsächlich könnte man sich im letzteren Falle eine europäisch-russische
Übereinkunft vorstellen, die Amerika vom Kontinent ausschlösse. Gegenwärtig
scheinen alle diese Varianten unwahrscheinlich, andernfalls müßten sich nicht
nur die Amerikaner in ihrer Europapolitik schwer vertun, sondern auch auf seiten
der wichtigsten europäischen Staaten müßte eine dramatische Umoder
Neuorientierung erfolgen. Was die Zukunft auch bringen mag, der Schluß liegt
nahe, daß die amerikanische Vormachtstellung auf dem eurasischen Kontinent durch
Turbulenzen und vielleicht zumindest sporadische Ausbrüche von Gewalt
erschüttert werden wird. Sie könnte neuen Herausforderungen ausgesetzt sein, sei
es von Anwärtern auf regionale Machtpositionen, sei es von neuen
Konstellationen. Das gegenwärtig herrschende globale System der USA, innerhalb
dessen die Kriegsgefahr vom Tisch ist, bleibt aller Wahrscheinlichkeit nur in
jenen Teilen der Welt stabil, in denen sich die von einer langfristigen
Geostrategie gelenkte Vormachtstellung Amerikas auf vergleichbare und
wesensverwandte soziopolitische Systeme stützt, die miteinander durch
multilaterale, von Amerika dominierte Strukturen verbunden sind.
3DER DEMOKRATISCHE BRÜCKENKOPF
Europa ist Amerikas natürlicher Verbündeter. Es teilt dieselben Werte und, im
wesentlichen, dasselbe religiöse Erbe; es ist demokratischen Prinzipien
verpflichtet und ist die ursprüngliche Heimat der großen Mehrzahl Amerikaner.
Bei dem Versuch der Integration von ehemaligen Nationalstaaten in eine
gemeinsame supranationale Wirtschafts- und schließlich auch politische Union
weist Europa außerdem den Weg zu größeren Formen postnationaler Organisation,
jenseits der engstirnigen Visionen und zerstörerischen Leidenschaften, die dem
Zeitalter des Nationalismus sein Gepräge gaben. Es ist bereits die am
multilateralsten organisierte Weltregion (siehe Tabelle Seite 90). Eine
erfolgreich verlaufende politische Vereinigung würde etwa 400 Millionen Menschen
unter einem demokratischen Dach zusammenschließen, die einen den Vereinigten
Staaten vergleichbaren Lebensstandard genießen. Ein solches Europa müßte
zwangsläufig eine Weltmacht werden.
Außerdem dient Europa als Sprungbrett für die fortschreitende Ausdehnung
demokratischer Verhältnisse bis tief in den euroasiatischen Raum hinein. Europas
Osterweiterung würde den Sieg der Demokratie in den neunziger Jahren festigen.
Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene entspräche sie im wesentlichen dem
europäischen Zivilisationsgebiet — dem einstigen römisch-christlichen Europa-,
das durch das gemeinsame, christlich-abendländische Erbe Europas definiert
wurde. Ein solches Europa hat es schon einmal gegeben, vor dem Zeitalter der
Nationalstaaten und der nachfolgenden Teilung des Kontinents in eine
amerikanisch und eine sowjetisch dominierte Hälfte. Ein solches größeres Europa
könnte eine magnetische Anziehung auf die weiter im Osten liegenden Staaten
ausüben und mit der Ukraine, Weißrußland und Rußland ein Beziehungsgeflecht
aufbauen, sie zu einer immer engeren Zusammenarbeit bewegen und im gleichen Zuge
für die gemeinsamen demokratischen Prinzipien gewinnen. Schließlich könnte ein
solches Europa sogar ein Eckpfeiler einer unter amerikanischer Schirmherrschaft
stehenden größeren eurasischen Sicherheits- und Kooperationsstruktur werden.
Vor allen Dingen aber ist Europa Amerikas unverzichtbarer geopolitischer
Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent. Die Alte Welt ist für die USA von
enormem geostrategischen Interesse. Anders als die Bindungen an Japan verankert
das Atlantische Bündnis den politischen Einfluß und die militärische Macht
Amerikas unmittelbar auf dem eurasischen Festland. Beim derzeitigen Stand der
amerikanisch-europäischen Beziehungen, da die verbündeten europäischen Nationen
immer noch stark auf den Sicherheitsschild der USA angewiesen sind, erweitert
sich mit jeder Ausdehnung des europäischen Geltungsbereichs automatisch auch die
direkte Einflußsphäre der Vereinigten Staaten. Umgekehrt wäre ohne diese engen
transatlantischen Bindungen Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin.
Seine Kontrolle über den Atlantischen Ozean und die Fähigkeit, Einfluß und Macht
tiefer in den euroasiatischen Raum hinein geltend zu machen, wären dann äußerst
begrenzt.
Das Problem besteht jedoch darin, daß es ein rein europäisches Europa gar nicht
gibt. Es ist eine Vision, eine Vorstellung und ein Ziel, aber noch nicht
Wirklichkeit. Westeuropa ist bereits ein gemeinsamer Markt, aber weit davon
entfernt, eine politische Einheit zu bilden. Ein politisches Europa muß erst
noch entstehen. Die Krise in Bosnien bot hierfür einen traurigen Beweis, sofern
es denn eines solchen bedurft hätte. Tatsache ist schlicht und einfach, daß
Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches
Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige
von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für
die europäischen Nationen.
Das Ganze wird dadurch verschlimmert, daß in Europa ein Nachlassen innerer
Vitalität bedenklich um sich greift. Neben der Legitimität des bestehenden
sozioökonomischen Systems scheint sogar das oberflächliche Bewußtsein
europäischer Identität verwundbar zu sein. In mehreren europäischen Staaten läßt
sich eine Vertrauenskrise und ein Verlust kreativen Schwungs feststellen, die
mit einer auf die größeren Probleme in der Welt isolationistisch und
eskapistisch reagierenden inneren Einstellung einhergeht. Es ist nicht klar, ob
die meisten Europäer überhaupt eine künftige Großmacht Europa wollen und ob sie
bereit sind, das für ihr Zustandekommen Nötige zu tun. Selbst der noch in Resten
bestehende, gegenwärtig recht schwache europäische Antiamerikanismus ist
merkwürdig zynisch: Die Europäer beklagen die Hegemonie der USA, nehmen deren
Schutz aber durchaus in Anspruch.
Die politische Dynamik zur europäischen Vereinigung ging einmal von drei
wesentlichen Impulsen aus: der Erinnerung an die beiden zerstörerischen
Weltkriege, dem Wunsch nach wirtschaftlicher Erholung sowie der Unsicherheit
infolge der sowjetischen Bedrohung. Mitte der neunziger Jahre waren diese
Impulse verpufft. Die wirtschaftliche Erholung ist im großen und ganzen
eingetreten; das eigentliche Problem, das Europa in zunehmendem Maße zu schaffen
macht, ist ein extrem belastendes Sozialsystem, das die Wirtschaftskraft
schwächt, während der leidenschaftliche Widerstand, den einzelne
Interessengruppen jedweder Reform entgegensetzen, die politische Aufmerksamkeit
Europas nach innen lenkt. Die sowjetische Bedrohung ist verschwunden, wohingegen
das Anliegen einiger Europäer, sich von der amerikanischen Bevormundung zu
befreien, nicht in ein unwiderstehliches Verlangen nach kontinentaler Einigung
umgesetzt wurde.
Der Auftrieb zu einem geeinten Europa geht mehr und mehr von dem riesigen
Behördenapparat aus, den die Europäische Gemeinschaft und ihrer Nachfolgerin,
die Europäische Union, hervorgebracht hat. Der Gedanke der Einheit erfreut sich
bei der Bevölkerung noch immer bemerkenswert breiter Unterstützung, aber er ist
eher lau, es fehlt ihm an Begeisterung und Sendungsbewußtsein. Im allgemeinen
macht das heutige Westeuropa den Eindruck einer Reihe von gequälten,
unzusammenhängenden, bequemen und dennoch sozial unzufriedenen und bekümmerten
Gesellschaften, die keine zukunftweisende Vision mehr haben. Die europäische
Einigung ist zunehmend ein Prozeß, und kein Faktum.
Dennoch engagieren sich die politischen Eliten zweier führender europäischer
Nationen weiterhin in ihrer großen Mehrheit für das Ziel, ein Europa zu
gestalten und vertraglich festzulegen, das diesen Namen wirklich verdient. Sie
sind die wichtigsten Architekten Europas. Aus ihrer Zusammenarbeit könnte ein
seiner Vergangenheit und seiner Möglichkeiten würdiges Europa entstehen. Indes
tritt jeder für eine etwas andere Vorstellung und Bauweise ein, und keiner der
beiden ist stark genug, sich durchzusetzen.
Diese Sachlage sollte die Vereinigten Staaten zu einem entschiedenen Eingreifen
veranlassen. Sie erzwingt geradezu ein Engagement Amerikas für Europas Einheit,
denn der Einigungsprozeß könnte sonst ins Stocken geraten und sich allmählich
sogar wieder rückläufig entwickeln. Ehe sich die USA aber am Bau Europas
beteiligen, müssen sie sich darüber im klaren sein, welche Art Europa sie wollen
und zu fördern bereit sind -einen gleichberechtigten oder einen Juniorpartner -,
und wie weit Europäische Union und NATO reichen sollen. Es erfordert zudem einen
behutsamen Umgang mit den beiden wichtigsten Architekten Europas.
Grandeur und Erlösung
Frankreich erhofft sich durch Europa seine Wiedergeburt, Deutschland seine
Erlösung. Diese unterschiedlichen Motivationen helfen ein gutes Stück weiter,
die Ziele der alternativen deutschen und französischen Europa-Entwürfe zu
erklären und zu bestimmen.
Für Frankreich ist Europa das Mittel, seine einstige Größe wiederzuerlangen.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg machten sich ernst zu nehmende französische
Politikwissenschaftler Sorgen über den fortschreitenden Verfall der zentralen
Rolle Europas in der Weltpolitik. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges schlug
diese Sorge in Groll über die angelsächsische Dominanz über den Westen um, ganz
zu schweigen von der Verachtung für die damit einhergehende Amerikanisierung der
westlichen Kultur. Die Schaffung eines authentischen Europa — mit den Worten
Charles de Gaulles vom Atlantik bis zum Ural — sollte diesen beklagenswerten
Zustand beheben. Und da in einem solchen Europa Paris die Führung übernehmen
müßte, würde Frankreich zugleich jene grandeur zurückgewinnen, die die Franzosen
immer noch für das besondere Los ihrer Nation halten. Deutschland sieht im
Engagement für Europa die Grunde für nationale Erlösung, während es
sicherheitspolitisch auf eine enge Bindung an Amerika nicht verzichten kann.
Folglich ist ein Europa, das seine Unabhängigkeit von Amerika stärker
hervorkehrt, keine brauchbare Alternative. Für Deutschland bedeutet Erlösung +
Sicherheit = Europa + Amerika. Diese Formel umreißt seine Haltung und Politik,
macht es zugleich zu Europas Musterknaben und zum stärkeren Anhänger Amerikas in
Europa.
Deutschland versteht sein glühendes Eintreten für Europa als historische
Reinigung, als Wiederherstellung seiner moralischen und politischen Reputation.
Indem es sich mit Europa entsühnt, stellt Deutschland seine Größe wieder her,
während es zugleich eine Mission übernimmt, die nicht automatisch europäische
Ressentiments und Ängste gegen die Deutschen mobilisiert. Verfolgen die
Deutschen nämlich ihr eigenes nationales Interesse, so laufen sie Gefahr, die
anderen 'Europäer vor den Kopf zu stoßen'; fördern sie jedoch das gemeinsame
Interesse Europas, trägt ihnen das die Unterstützung und den Respekt der anderen
Europäer ein. In den zentralen Fragen des Kalten Krieges war Frankreich ein
loyaler, engagierter und entschlossener Verbündeter. Es stand, wenn es darauf
ankam, Seite an Seite mit Amerika. Ob während der beiden Berlin-Blockaden oder
während der Kuba-Krise, es gab keinen Zweifel an Frankreichs Festigkeit. Diese
Unterstützung der NATO wurde jedoch durch das gleichzeitige Bestreben
Frankreichs gedämpft, eine politische Identität eigener Art zu behaupten und
sich im wesentlichen seine Handlungsfreiheit zu bewahren, insbesondere in
Belangen, die mit Frankreichs Status in der Welt oder der Zukunft Europas zu tun
hatten.
Es hat etwas wahnhaft Obsessives, wie stark die französische Politelite der
Gedanke beschäftigt, daß Frankreich immer noch eine Weltmacht ist. Als
Premierminister Alain Juppé im Mai 1995 vor der Nationalversammlung erklärte,
daß »Frankreich seinen Ruf als Weltmacht behaupten kann und muß« (womit er
nichts anderes sagte als seine Vorgänger), brach die Versammlung in spontanen
Beifall aus. Mit seinem Beharren auf einer eigenen atomaren Abschreckung wollte
Frankreich vor allem seine Handlungsfreiheit vergrößern und gleichzeitig
Entscheidungen auf Leben und Tod, die die Amerikaner in Sicherheitsfragen für
die Allianz insgesamt trafen, beeinflussen können. Sich gegenüber der
Sowjetunion zu profilieren lag Frankreich fern, denn seine atomare Abschreckung
war für die sowjetische Kriegsmaschinerie allenfalls von marginaler Bedeutung.
Vielmehr meinte Paris, durch eigene Atomwaffen eine Rolle in den hochrangigsten
und gefährlichsten Entscheidungsfindungsprozessen des Kalten Krieges einnehmen
zu können.
Nach französischer Überzeugung untermauerte der Besitz von Nuklearwaffen
Frankreichs Anspruch, eine Weltmacht zu sein und eine Stimme zu haben, die
weltweit Respekt genießt. Tatsächlich stärkte er Frankreichs Position als eines
der fünf Vetoberechtigten Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, die ebenfalls
Atommächte sind. Aus französischer Perspektive war die nukleare Abschreckung
Großbritanniens nur der verlängerte Arm der amerikanischen Atommacht, vor allem
da sich die Briten auf ihr besonderes Verhältnis zu den USA festlegten und sich
bei den Bemühungen, ein unabhängiges Europa zu bauen, entsprechend
zurückhielten. (daß das französische Atomprogramm von heimlicher US Hilfe
deutlich profitierte, war in den Augen der Franzosen für das strategische Kalkül
der grande nation ohne Belang.) Eine eigene atomare Abschreckung festigte nach
französischem Verständnis auch Frankreichs beherrschende Position als führende
Macht auf dem europäischen Kontinent, die als einziger kontinentaleuropäischer
Staat über Atomwaffen verfügt.
Einen weiteren Ausdruck fanden Frankreichs globale Ambitionen in den
entschiedenen Anstrengungen der französischen Regierungen, in den meisten
französischsprachigen Ländern Afrikas weiterhin als Sicherheitsmacht präsent zu
sein. Trotz des nach langwierigen Kämpfen eingetretenen Verlusts von Vietnam und
Algerien und der Preisgabe weiterer Kolonien hat diese Sicherheitsmission sowie
die fortbestehende Kontrolle über verstreute Inseln im Pazifik (auf denen die
umstrittenen französischen Atomtests stattfanden) die französische Elite in
ihrer Überzeugung bestärkt, daß Frankreich eigentlich immer noch eine globale
Rolle zu spielen habe, obwohl es im Grunde eine postimperiale europäische Macht
mittlerer Ordnung ist.
All dies hat Frankreichs Anspruch auf die Insignien europäischer Führung
aufrechterhalten und motiviert. Angesichts eines Großbritanniens, das sich
selbst an den Rand manövrierte und im wesentlichen ein Anhängsel der US Macht
ist, und eines Deutschlands, das während des Kalten Krieges lange Zeit geteilt
und durch seine jüngere Vergangenheit noch immer gehandikapt war, konnte
Frankreich die europäische Idee auf greifen, sich zu eigen machen und sie als
gleichbedeutend mit seiner Vorstellung von sich selbst usurpieren. Das Land, das
die Idee eines souveränen Nationalstaats erfunden und Nationalgefühl zu einer
Art weltlichen Religion gemacht hatte, fand es somit ganz natürlich, sich selbst
— mit derselben emotionalen Hingabe, die einst la patrie galt — als die
Verkörperung eines unabhängigen, aber geeinten Europa zu sehen. Die Größe eines
von Paris geführten Europas fiele dann auf Frankreich selbst zurück.
Diese aus einem tiefen Bewußtsein historischer Bestimmung gespeiste und von
einem ungemeinen Stolz auf die eigene Kultur bekräftigte besondere Berufung hat
bedeutende politische Implikationen. Der geopolitische Raum, den Frankreich
seiner Einflußsphäre vorbehalten — oder dessen Beherrschung durch einen
mächtigeren Staat es zumindest verhindern — muß, läßt sich auf der Landkarte als
Halbkreis einzeichnen. Er umfaßt die Iberische Halbinsel, die nördlichen Küsten
des westlichen Mittelmeers sowie Deutschland bis hin zum östlichen Mitteleuropa
(siehe Karte Seite 107). Das ist nicht nur der kleinste französische
Sicherheitsradius, ihm gilt auch das größte politische Interesse Frankreichs.
Nur wenn die Unterstützung der südeuropäischen Staaten gewährleistet und die
Rückendeckung durch Deutschland garantiert ist, kann das Ziel, die Schaffung
eines vereinigten und unabhängigen, von Frankreich geführten Europas, wirksam
verfolgt werden. Und es liegt auf der Hand, daß innerhalb dieses geopolitischen
Orbits der Umgang mit einem zunehmend mächtiger werdenden Deutschland am
schwierigsten sein wird.
Nach französischer Vorstellung kann das zentrale Ziel eines geeinten und
unabhängigen Europa dadurch erreicht werden, daß die Vereinigung Europas unter
französischer Führung mit dem allmählichen Abbau der amerikanischen
Vorrangstellung auf dem Kontinent einhergeht. Wenn jedoch Frankreich Europas
Zukunft gestalten soll, muß es Deutschland mit einbeziehen, zugleich aber an die
Kette legen, während es Washington seine politische Führungsrolle in
europäischen Angelegenheiten Schritt für Schritt abzunehmen sucht. Daraus
ergeben sich für Frankreich zwei große Dilemmas: wie läßt sich ein
amerikanisches Sicherheitsengagement für Europa bewahren — das Frankreich
weiterhin für unverzichtbar hält — und dabei die amerikanische Präsenz ständig
reduzieren; wie läßt sich die deutsch-französische Partnerschaft als
ökonomischpolitischer Motor der europäischen Einigung erhalten und dabei eine
deutsche Führung in Europa verhindern?
Wäre Frankreich eine wirkliche Weltmacht, so dürfte die Lösung dieser Zwiespalte
in der Verfolgung seines zentralen Ziels nicht schwer fallen. Mit Ausnahme
Deutschlands ist kein anderer europäischer Staat von einem solchen Ehrgeiz
beseelt oder von einem solchen Sendungsbewußtsein getrieben. Selbst Deutschland
ließe sich vielleicht dazu verleiten, eine französische Führungsrolle in einem
vereinten, aber (von Amerika) unabhängigen Europa zu akzeptieren, doch nur, wenn
es in Frankreich tatsächlich eine Weltmacht sähe, die Europa die Sicherheit
verschaffen könnte, die es selbst nicht gewährleisten kann, wohl aber die USA.
Deutschland kennt indessen die wahren Grenzen französischer Macht. Frankreich
ist wirtschaftlich viel schwächer als Deutschland, und sein Militärapparat (wie
der Golfkrieg 1991 gezeigt hat) nicht sehr leistungsfähig. Er reicht gerade aus,
um Staatsstreiche in afrikanischen Satellitenstaaten niederzuschlagen, doch kann
er weder Europa schützen noch fern von Europa nachhaltigen Einfluß ausüben.
Frankreich ist nicht mehr und nicht weniger als eine europäische Macht mittleren
Kalibers. Für die Schaffung eines gemeinsamen Europas war daher Deutschland
bereit, Frankreichs Stolz versöhnlich zu stimmen, in der Frage der Sicherheit
Europas war es hingegen nicht bereit, der Führung Frankreichs blindlings zu
folgen. Es besteht weiterhin darauf, daß Amerika für Europas Sicherheit
unverzichtbar sei.
Dieser für die hohe Selbsteinschätzung der Franzosen schmerzliche Tatbestand
trat nach der deutschen Wiedervereinigung deutlicher zutage. Zuvor erweckte die
deutschfranzösische Versöhnung den Eindruck, als fahre die politische Führung
Frankreichs ganz gut mit der deutschen Wirtschaftsdynamik. Dieser Eindruck wurde
auch tatsächlich beiden Parteien gerecht. Der deutsch-französische Gleichklang
milderte die traditionellen europäischen Ängste vor Deutschland und bestärkte
die Franzosen in ihren Illusionen, weil der Eindruck entstand, die Gestaltung
Europas finde unter der Führung Frankreichs und der Mitwirkung eines
wirtschaftlich dynamischen Westdeutschlands statt.
Die deutsch-französische Versöhnung war, trotz ihrer Mißverständnisse, eine
positive Entwicklung für Europa, und ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug
bewertet werden. Sie hat sich als eine entscheidende Grundlage für alle in dem
schwierigen Prozeß der Einigung bisher erzielten Fortschritte erwiesen. Insofern
entsprach sie auch voll und ganz den Interessen der USA und stand im Einklang
mit dem langjährigen Engagement der Amerikaner, eine transnationale
Zusammenarbeit in Europa voranzubringen. Ein Scheitern der deutsch-französischen
Kooperation wäre ein fataler Rückschlag für Europa und ein Desaster für die
Position der Vereinigten Staaten in Europa.
Stillschweigende Unterstützung von seiten der USA ermöglichte es Frankreich und
Deutschland, den Prozeß der europäischen Einigung voranzutreiben. Die deutsche
Wiedervereinigung war für Frankreich ein zusätzlicher Ansporn, Deutschland in
ein verbindliches Rahmenwerk einzugliedern. So legten sich am 6. Dezember 1990
der französische Präsident und der deutsche Kanzler auf das Ziel eines föderalen
Europa (Europa der Bundesstaaten) fest, und zehn Tage später erteilte der EU
Gipfel über die politische Union in Rom — ungeachtet britischer Vorbehalte — den
zwölf Außenministern der europäischen Gemeinschaft den Auftrag, einen
Vertragsentwurf für eine politische Union vorzubereiten.
Darüber hinaus veränderte Deutschlands Wiedervereinigung die tatsächlichen
Parameter europäischer Politik erheblich. Für Rußland wie für Frankreich
bedeutete sie eine geopolitische Niederlage. Das vereinte Deutschland war nun
nicht nur mehr der politische Juniorpartner Frankreichs, es wurde automatisch
die unbestreitbar erste Macht in Westeuropa und — vor allem wegen seiner
beträchtlichen Beitragszahlungen zur Unterstützung der wichtigsten
internationalen Institutionen sogar teilweise eine Weltmacht.7 Die neue Realität
bewirkte auf beiden Seiten eine gewisse Ernüchterung, denn Deutschland war
jetzt, immer noch als Frankreichs Partner, aber nicht mehr als dessen Protegé,
in der Lage und Willens, seine Vision eines zukünftigen Europas zu artikulieren
und voranzutreiben.
Da Frankreich nunmehr weniger politische Druckmittel in der Hand hatte, sah es
sich zu verschiedenen Konsequenzen gezwungen. In irgendeiner Form mußte es
größeren Einfluß innerhalb der NATO gewinnen — von der es sich aus Protest
außerdem seine relative Schwäche mit größeren diplomatischen Manövern
kompensieren. Eine Rückkehr in die NATO könnte Frankreich mehr
Einflußmöglichkeiten auf Amerika einräumen, gelegentliche Flirts mit Moskau oder
London könnten sowohl auf Amerika als auch auf Deutschland von außen Druck
erzeugen.
Infolgedessen kehrte Frankreich, eher aus taktischen Gründen denn aus
Überzeugung, in die Kommandostruktur der NATO zurück. De facto beteiligte es
sich bereits 1994 wieder aktiv an den politischen und militärischen
Entscheidungsprozessen der NATO; seit Ende 1995 sind der französische Außen- und
der Verteidigungsminister regelmäßig bei den Sitzungen des
Verteidigungsbündnisses anwesend. Allerdings zu einem entsprechenden Preis:
Nachdem sie erst einmal voll integriert waren, bekräftigten sie erneut ihre
Entschlossenheit, die Struktur des Bündnisses zu reformieren, um auf mehr
Gleichgewicht zwischen der amerikanischen Führung und den europäischen
Teilnehmern hinzuwirken.
7 Beispielsweise bestreitet Deutschland einen Prozentanteil am Gesamtbudget der
EU von 28,5%, der NATO von 22,8 %, der UN von 8,93 %; zudem ist es der größte
Aktionär der Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung.
Die Franzosen wünschten ein ausgeprägteres Profil und eine größere Rolle für
eine kollektive europäische Komponente, wie der französische Außenminister Hervé
de Charette in einer Rede vom 8. April 1996 darlegte: »Für Frankreich besteht
das grundlegende Ziel [der Annäherung] darin, eine europäische Identität
innerhalb des Bündnisses geltend zu machen, die operationell glaubwürdig und
politisch sichtbar ist.« Gleichzeitig scheute sich Paris keineswegs, seine
traditionell guten Beziehungen zu Rußland taktisch auszuschlachten, um die
Amerikaner in ihrer Europapolitik unter Druck zu setzen und, wann immer
zweckdienlich, die alte französisch-britische Entente wiederzubeleben, um
Deutschlands wachsender Vormachtstellung in Europa zu begegnen. Der französische
Außenminister war nahe daran, dies offen auszusprechen, als er im August 1996
erklärte, daß »Frankreich, wenn es eine internationale Rolle spielen will,
bereit ist, von der Existenz eines starken Rußlands zu profitieren, sowie ihm zu
helfen, sich wieder als Großmacht zu behaupten«, und damit den russischen
Außenminister zu der Entgegnung veranlaßte, daß »von allen Regierungschefs der
Welt die Franzosen diejenigen sind, die in ihrem Verhältnis zu Rußland noch am
ehesten eine konstruktive Haltung einnehmen«.8
Frankreichs anfänglich lauwarme Unterstützung einer NATO-Osterweiterung —
konkret, seine kaum unterdrückte Skepsis, ob sie überhaupt erstrebenswert sei —
war somit teilweise eine Taktik, die ihm bei den Verhandlungen mit den
Vereinigten Staaten mehr Druckmittel in die Hand geben sollte. Eben weil Amerika
und Deutschland die Hauptbefürworter einer NATO-Erweiterung waren, gefiel sich
Frankreich darin, Gelassenheit zu demonstrieren, widerstrebend zuzustimmen,
Bedenken über die mögliche Auswirkung dieser Initiative auf Rußland vorzutragen
und sich als Europas verständnisvollster Gesprächspartner mit Moskau zu
gerieren. Bei einigen Mitteleuropäern erweckten die Franzosen sogar den
Eindruck, als hätten sie nichts gegen eine russische Einflußsphäre in Osteuropa.
Die russische Karte hielt nicht nur Amerika in Schach und sandte eine nicht
allzu verblümte Botschaft an die Adresse Deutschlands, sondern verstärkte auch
den Druck auf die USA, die französischen Vorschläge für eine Reform der NATO
wohlwollend zu betrachten.
8 Zitiert in Le Nouvel Observateur, 12. August 1996.
Letztlich werden einer NATO-Erweiterung alle 16 Mitglieder zustimmen müssen.
Paris wußte, daß seine Einwilligung für diese Einstimmigkeit ebenso unabdingbar
war wie Frankreichs Unterstützung gebraucht wurde, um Obstruktion von seiten
anderer Bündnismitglieder zu vermeiden. So machte es denn auch kein Hehl aus
seiner Absicht, die Unterstützung einer NATOErweiterung davon abhängig zu
machen, ob sich Amerika schließlich der französischen Entschlossenheit beugt,
das Machtgleichgewicht innerhalb der Allianz sowie auch deren Grundstruktur zu
verändern.
Ähnlich lau war zunächst Frankreichs Befürwortung einer Osterweiterung der
Europäischen Union. Hier übernahm Deutschland, unterstützt von den USA, die
Führung, allerdings in diesem Fall nicht mit demselben Engagement wie in der
Frage der NATO-Erweiterung. Obwohl Frankreich in der NATO gern argumentierte,
daß eine erweiterte EU eine passendere Dachorganisation für die früheren
kommunistischen Staaten biete, meldete es, als Deutschland auf eine schnellere
Erweiterung der EU nach Mitteleuropa hin drang, technische Bedenken an und
forderte außerdem, daß die EU Europas ungeschützter mediterraner Südflanke die
gleiche Aufmerksamkeit widme. (Diese Meinungsverschiedenheiten traten bereits
bei dem deutsch-französischen Gipfel im November 1994 zutage.) Der Nachdruck,
den die Franzosen auf den letzten Punkt legten, sicherte ihnen zudem die
Unterstützung südeuropäischer NATO Mitglieder zu und optimierte Frankreichs
Verhandlungsposition insgesamt. Der Preis dafür war indes eine immer größer
werdende Kluft zwischen den von Frankreich beziehungsweise Deutschland
vertretenen geopolitischen Vorstellungen Europas, eine Kluft, die sich nur
teilweise schloß, als Frankreich in der zweiten Hälfte des Jahres 1996 dem
Beitritt Polens zur NATO und der EU mit Verspätung zustimmte.
Diese Kluft war angesichts des sich verändernden historischen Umfelds
unvermeidlich. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das demokratische
Deutschland erkannt, daß diese deutsch-französische Aussöhnung die Voraussetzung
für die Schaffung einer europäischen Gemeinschaft innerhalb den westlichen
Hälfte des geteilten Europas war. Diese Versöhnung war nicht zuletzt für
Deutschlands historische Rehabilitierung von zentraler Bedeutung. Von daher war
die Akzeptanz der französischen Führungsrolle ein angemessener Preis.
Gleichzeitig machte die fortdauernde sowjetische Bedrohung eines verwundbaren
Westdeutschlands die Loyalität gegenüber Amerika zu einer überlebenswichtigen
Voraussetzung — was selbst die Franzosen erkannten. Nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion war für die Bildung eines größeren und geeinteren Europa eine
Unterordnung unter Frankreich aber weder notwendig noch von Vorteil. Eine
gleichberechtigte deutsch-französische Partnerschaft, in der das
wiedervereinigte Deutschland nun tatsächlich der stärkere Partner war, war für
Paris mehr als ein faires Geschäft; Frankreich würde Deutschlands Vorliebe für
eine direkte Sicherheitsschiene zu seinem transatlantischen Verbündeten und
Beschützer einfach hinnehmen müssen.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs bekam das Verhältnis zu den USA für Deutschland
eine neue Bedeutung. In der Vergangenheit hatte es Deutschland vor einer
äußeren, aber sehr unmittelbaren Bedrohung geschützt und war die notwendige
Voraussetzung für die schließlich eingetretene Wiedervereinigung des Landes
gewesen. Nach der Auflösung der Sowjetunion bot die Verbindung zu Amerika dem
wiedervereinigten Deutschland den Schirm, unter welchem es offener eine
Führungsrolle in Mitteleuropa übernehmen konnte, ohne dadurch gleichzeitig seine
Nachbarn zu bedrohen. Die Beziehung zu den USA stellte mehr als ein Zeugnis für
gutes Benehmen aus: Sie versicherte den deutschen Nachbarn, daß ein enges
Verhältnis zu Deutschland auch ein engeres Verhältnis zu Amerika bedeutete. All
das erleichterte es Deutschland, eigenen geopolitischen Prioritäten unumwunden
offen zu legen.
Deutschland — fest in Europa verankert und harmlos, aber durch die sichtbare
militärische Präsenz der Amerikaner sicherer geworden — konnte nun die
Integration des jüngst befreiten Mitteleuropas in europäische Strukturen
vorantreiben. Es würde nicht mehr das alte Mitteleuropa des deutschen
Imperialismus sein, sondern eine friedliebende Gemeinschaft wirtschaftlicher
Erneuerung, die durch deutsche Investitionen und Handelsbeziehungen angespornt
und von einem Deutschland ermuntert wird, das außerdem als Befürworter der
schließlich auch offiziellen Einbindung des neuen Mitteleuropa in EU und NATO
auftritt. Da die deutsch-französische Allianz für Deutschland die unverzichtbare
Plattform darstellt, um eine entschiedenere Rolle in der Region zu spielen,
braucht es keine Hemmungen mehr zu haben, sich im Bereich seines besonderen
Interesses zu behaupten.
Auf der Europa-Karte könnte die Zone, die für Deutschland von besonderem
Interesse ist, in der Form eines Rechtecks eingezeichnet werden, das im Westen
natürlich Frankreich einschließt und im Osten die erst vor kurzem in die
Freiheit entlassenen postkommunistischen Staaten Mitteleuropas einschließlich
der baltischen Republiken, Weißrußlands und der Ukraine umfaßt, und sogar bis
nach Rußland hineinreicht. In vielerlei Hinsicht entspricht dieses Gebiet dem
historischen Einflußbereich konstruktiver deutscher Kultur, den in
pränationalistischer Zeit deutsche Städtegrün der und bäuerliche Siedler im
östlichen Mitteleuropa und in den heutigen baltischen Republiken geformt hatten,
die sämtlich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs vertrieben wurden. Wichtiger
noch, die Bereiche, die für die Franzosen (wie oben erörtert) und die Deutschen
von besonderem Belang sind, entsprechen, wenn man sie wie auf der folgenden
Karte gemeinsam betrachtet, den westlichen und östlichen Grenzen Europas,
während die Überschneidungen zwischen beiden die entscheidende geopolitische
Bedeutung der deutschfranzösischen Beziehungen als unverzichtbaren Kern Europas
unterstreichen.
Der entscheidende Durchbruch für ein selbstbewußteres Auftreten Deutschlands in
Mitteleuropa wurde durch die während der neunziger Jahre zustande gekommene
deutsch-polnische Versöhnung erzielt. Trotz eines gewissen anfänglichen
Widerstrebens erkannte das wiedervereinigte Deutschland (gedrängt von den USA)
die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze zu Polen an, und dieser Schritt
beseitigte den einzigen substantiellen Vorbehalt Polens gegen engere Beziehungen
zum deutschen Nachbarn. Nach einigen weiteren Gesten des guten Willens und der
Vergebung auf beiden Seiten wandelte sich das Verhältnis durchschlagend. Der
deutsch-polnische Handel explodierte förmlich (1995 überflügelte Polen Rußland
als Deutschlands größten Handelspartner im Osten), Deutschland trat am
entschiedensten für eine Mitgliedschaft Polens in der EU und (zusammen mit den
Vereinigten Staaten) für seine Aufnahme in die NATO ein. Ohne Übertreibung kann
man behaupten, daß spätestens Mitte des Jahrzehnts die deutschpolnische
Versöhnung eine geopolitische Bedeutung in Mitteleuropa gewonnen hat, die den
früheren Auswirkungen der deutschfranzösischen Versöhnung auf Westeuropa
durchaus entspricht.
Dank Polen konnte der deutsche Einfluß nach Norden — in baltischen Staaten —
sowie nach Osten — bis in die Ukraine und Weißrußland — ausstrahlen. Der
Geltungsbereich der deutsch polnischen Aussöhnung wurde überdies dadurch etwas
erweitert, daß man Polen bei wichtigen deutsch-französischen Gesprächen über die
Zukunft Europas mit einbezog. Das so genannte Weimarer Dreieck (nach der Stadt
benannt, der die ersten hochrangigen trilateralen deutsch-französisch-polnischen
Konsultationen stattfanden, die seither regelmäßig wiederholt werden) schuf eine
möglicherweise bedeutsame geopolitische Achse auf dem europäischen Kontinent,
die etwa 180 Millionen Menschen aus drei Nationen mit einem hoch entwickelten
Nationalbewußtsein umfaßt. Auf der einen Seite stärkte dies Deutschlands
dominierende Rolle in Mitteleuropa noch weiter, die andererseits durch die
Teilnahme Frankreichs und Polens an dem dreiseitigen Dialog wiederum etwas
ausbalanciert wurde. Das unverkennbare deutsche Engagement für eine
Osterweiterung der wichtigsten europäischen Institutionen hat die Akzeptanz
einer deutschen Führung in Mitteleuropa — die bei den kleineren
mitteleuropäischen Staaten noch stärker vorhanden ist — erleichtert. Mit seinem
entschiedenen Einsatz übernahm Deutschland eine historische Mission, die von
einigen recht tief verwurzelten westeuropäischen Auffassungen erheblich
abweicht, denen zufolge alles, was östlich von Deutschland und Österreich
passiert, als für das eigentliche Europa ohne Belang erschien. Diese Meinung —
im frühen 18. Jahrhundert von Lord Bolingbroke9 geäußert, der erklärte,
politische Gewalt im Osten sei für die Westeuropäer ohne Bedeutung — tauchte im
Münchner Abkommen 1938 wieder auf; eine traurige Neuauflage erlebte sie in der
Haltung der britischen und französischen Regierung während des Bosnien-Konflikts
Mitte der neunziger Jahre und ist unter der Oberfläche der laufenden Debatten
über die Zukunft Europas immer noch virulent.
Im Unterschied dazu ging es in der deutschen Diskussion eigentlich nur darum, ob
zuerst die NATO oder die EU erweitert werden sollte — der Verteidigungsminister
bevorzugte ersteres, der Außenminister sprach sich für letzteres aus — mit dem
Ergebnis, daß Deutschland der unbestrittene Apostel eines größeren und
geeinteren Europas wurde. Der deutsche Kanzler sprach vom Jahr 2000 als dem
Zieldatum der ersten EU Osterweiterung, und der deutsche Verteidigungsminister
gehörte zu den ersten, die den fünfzigsten Jahrestag der NATO-Gründung als das
passende symbolische Datum für eine Ausdehnung des Bündnisses nach Osten
vorschlug.
9 Vgl. seine History of Europe, from the Pyrenean Peace to the Death of Louis
XIV.
Deutschlands Konzeption einer Zukunft Europas unterschied sich somit von der
seiner wichtigsten europäischen die Briten sprachen sich für ein größeres Europa
aus, weil sie in einer Erweiterung ein Mittel sahen, Euro-Einheit zu verwässern;
die Franzosen befürchteten, daß solche Erweiterung Deutschlands Rolle stärken
würde, plädierten daher für eine begrenztere Integration. Deutschland machte
sich für beides stark und erlangte dadurch in Mitteleuropa ein ganz eigenes
Ansehen.
Amerikas zentrales Ziel
Für die USA lautet die zentrale Frage: Wie baut man ein auf der
deutsch-französischen Partnerschaft basierendes, lebensfähiges Europa, das mit
Amerika verbunden bleibt und den Geltungsbereich des demokratischen Systems
internationaler Zusammenarbeit erweitert, auf das ihre wirkungsvolle Wahrnehmung
seiner globalen Vorrangstellung so sehr angewiesen ist? Es geht also nicht
darum, die Wahl zwischen Deutschland oder Frankreich zu treffen. Ohne
Deutschland wird es ebenso wenig ein Europa geben wie ohne Frankreich.
Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich drei Schlußfolgerungen:
1. Das Engagement der USA für die Sache der europäischen Einigung ist vonnöten,
um die moralische und Sinnkrise, die Europas Lebenskraft geschwächt hat, wieder
wettzumachen, um den weit verbreiteten Verdacht der Europäer, Amerika wolle
letztendlich gar keine wirkliche europäische Einheit, zu entkräften und um dem
europäischen Unterfangen die notwendige Dosis demokratischer Begeisterung
einzuflößen. Dies erfordert ein klares Bekenntnis Amerikas, Europa als seinen
globalen Partner zu akzeptieren.
2. Kurzfristig ist eine taktische Opposition gegen die französische Politik und
eine Unterstützung der deutschen Führungsrolle gerechtfertigt; langfristig wird
ein geeintes Europa zu einer klareren politischen und militärischen Identität
finden müssen, wenn ein echtes Europa tatsächlich Wirklichkeit werden soll. Dies
erfordert eine gewisse Annäherung an den französischen Standpunkt hinsichtlich
der Machtverteilung in den transatlantischen Institutionen.
3.Weder Frankreich noch Deutschland ist stark genug, um Europa nach seinen
Vorstellungen zu bauen oder mit Rußland die strittigen Probleme zu lösen, die
eine Festlegung der geographischen Reichweite Europas zwangsläufig aufwirft.
Dies erfordert ein energisches, konzentriertes und entschlossenes Einwirken
Amerikas besonders auf die Deutschen, um die Ausdehnung Europas zu bestimmen und
um mit — vor allem für Rußland — derart heiklen Angelegenheiten wie dem etwaigen
Status der baltischen Staaten und der Ukraine innerhalb des europäischen
Staatenbundes fertig zu werden.
Ein Blick auf die Karte der riesigen eurasischen Landmasse offenbart die
geopolitische Bedeutung des europäischen Brückenkopfes für Amerika — und auch
seine bescheidenen geographischen Ausmaße. Die Erhaltung dieses Brückenkopfes
und seine Erweiterung zum Sprungbrett für Demokratie sind für die Sicherheit
Amerikas von unmittelbarer Relevanz. Die zwischen Amerikas weltweitem Interesse
an Stabilität sowie der damit verbundenen Verbreitung demokratischer Prinzipien
und der scheinbaren Gleichgültigkeit der Europäer gegenüber diesen Fragen
(Frankreichs selbstproklamiertem Status als Weltmacht zum Trotz) bestehende
Kluft muß überwunden werden; dies kann nur geschehen, wenn Europa mehr und mehr
den Charakter eines Bundesstaates annimmt. Aufgrund der Zählebigkeit seiner
verschiedenen nationalen Traditionen kann Europa kein Nationalstaat werden, wohl
aber eine Einheit, die mit gemeinsamen politischen Institutionen im zunehmenden
Maße allen gemeinsame demokratische Werte widerspiegelt. Indem sie deren
allgemeine Verbreitung zu ihrem ureigenen Anliegen macht, übt sie eine
magnetische Anziehungskraft auf all jene aus, die, zusammen mit ihr, den
euroasiatischen Raum bevölkern.
Sich selbst überlassen, laufen die Europäer Gefahr, von ihren sozialen Problemen
völlig vereinnahmt zu werden. Die wirtschaftliche Erholung Europas hat die
langfristigen Kosten des scheinbaren Erfolgs verschleiert. Diese Kosten wirken
sich ökonomisch und politisch schädigend aus. Die Krise der politischen
Glaubwürdigkeit und des Wirtschaftswachstums, die Westeuropa zunehmend zu
schaffen macht — und die es nicht zu überwinden vermag -, ist in der alle
gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Ausweitung des sozialstaatlichen
Systems, das Eigenverantwortlichkeit klein schreibt und Protektionismus und
Engstirnigkeit begünstigt, tief verwurzelt. Die Folge ist eine kulturelle
Lethargie, eine Kombination von eskapistischem Hedonismus und geistiger Leere -,
die nationalistische Extremisten oder dogmatische Ideologen für ihre Zwecke
ausnützen könnten.
Dieser Zustand könnte sich, wenn er andauerte, für die Demokratie und die
europäische Idee als tödlich erweisen. Beide sind nämlich eng miteinander
verbunden, denn die neuen Probleme Europas — sei es die Zuwanderung oder die
wirtschaftlich technologische Wettbewerbsfähigkeit mit Amerika oder Asien, gar
nicht zu reden von der Notwendigkeit einer politisch dauerhaften Reform der
bestehenden sozioökonomischen Strukturen — können nur in einem zunehmend
kontinentalen Kontext bewältigt werden. Ein Europa, das größer ist als die Summe
seiner Teile — das heißt, ein Europa, das seine Aufgabe in der Welt darin sieht,
die Demokratie voranzubringen und den Menschenrechten immer breitere Geltung zu
verschaffen -, verspricht mit höherer Wahrscheinlichkeit politischem
Extremismus, engstirnigem Nationalismus oder gesellschaftlichem Hedonismus den
Nährboden zu entziehen. Es bedarf weder der Beschwörung alter Ängste vor einem
Sonderabkommen zwischen Deutschland und Rußland, noch muß man die Folgen eines
taktischen Flirts der Franzosen mit den Russen übertreiben, um im Falle eines
Scheiterns der immer noch andauernden Bemühungen um die europäische Einigung die
geopolitische Stabilität Europas — und Amerikas Platz darin gefährdet zu sehen.
Ein solches Scheitern würde voraussichtlich die Neuauflage einiger recht
traditioneller europäischer Winkelzüge nach sich ziehen. Rußland oder
Deutschland fände dann gewiß Anlässe, ihrem geopolitischen Geltungsdrang freien
Lauf zu lassen, als ob die neuere Geschichte Europas nicht genug lehrreiche
Beispiele bereithielte und ein dauerhafter Erfolg in dieser Hinsicht
wahrscheinlich ohnehin nicht zu erzielen wäre. In solch einem Fall würde
zumindest Deutschland vermutlich seine nationalen Interessen bestimmter und
deutlicher geltend machen.
Gegenwärtig sind die Interessen Deutschlands mit denen von EU und NATO
deckungsgleich und sogar innerlich geläutert. Selbst die Sprecher des
linksgerichteten Bündnis 90/Die Grünen haben eine Erweiterung von NATO und EU
befürwortet. Doch sollte der Einigungs- und Erweiterungsprozeß zum Stillstand
kommen, spricht einiges dafür, daß die deutsche Vorstellung von einer
europäischen Ordnung nationalistischere Züge annehmen würde, zum potentiellen
Nachteil der Stabilität in Europa. Wolfgang Schäuble, der Fraktionsvorsitzende
der Christlichen Demokraten im deutschen Bundestag und ein möglicher Nachfolger
von Kanzler Kohl, brachte diese Auffassung10 mit der Feststellung zum Ausdruck,
Deutschland sei nicht länger »das westliche Bollwerk gegen den Osten; wir sind
in die Mitte Europas gerückt«, und er betonte, daß »Deutschland während des
gesamten Mittelalters ... daran beteiligt war, in Europa Ordnung zu schaffen«.
Nach dieser Vorstellung wäre Mitteleuropa nicht allein eine Region, in der
Deutschland wirtschaftlich das Übergewicht hat, sondern würde ein Gebiet
unverhüllter deutscher politischer Vorherrschaft werden und damit die Basis für
eine stärker unilateral ausgerichtete deutsche Politik gegenüber dem Osten und
dem Westen.
10 Politiken Søndag, 2. August 1996, Hervorhebungen des Verf.
Europa verlöre dann seine Funktion als eurasischer Brückenkopf für amerikanische
Macht und als mögliches Sprungbrett für eine Ausdehnung des demokratischen
Globalsystems in den eurasischen Kontinent hinein. Deswegen müssen die USA
weiterhin tatkräftig und ohne Wenn und aber für die europäische Einigung
eintreten. Obwohl Amerika in der Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und
innerhalb des Sicherheitsbündnisses die Europäer häufig seiner Unterstützung bei
ihrer politischen Einigung versicherte und der internationalen Zusammenarbeit in
Europa Rückendeckung gab, hat es zuweilen den Anschein erweckt, als führe es
unangenehme wirtschaftliche und politische Verhandlungen lieber auf bilateraler
europäischer Ebene statt mit der Europäischen Union. Da die Amerikaner
gelegentlich auf einem Mitspracherecht im europäischen
Entscheidungsfindungsprozeß bestanden, sahen sich die Europäer gern in ihrem
alten Verdacht bestätigt, die USA begrüßten eine Zusammenarbeit unter den
Europäern, solange diese dem amerikanischen Vorbild folgen, sträubten sich aber,
wenn sie eigene europäische Politik formulieren. Dies ist die falsche Botschaft.
Amerikas Eintreten für die Einheit Europas — nachdrücklich in der gemeinsamen
amerikanisch europäischen Erklärung von Madrid im Dezember 1995 wiederholt —
wird so lange hohl klingen, bis die USA nicht nur unumwunden ihre Bereitschaft
bekunden, die Konsequenzen einer endgültigen europäischen Einigung zu
akzeptieren, sondern auch danach handeln. Europa wäre dann kein gehätschelter,
aber gleichwohl zweitrangigen Verbündeter mehr, sondern ein gleichwertiger
Partner. Und echte Partnerschaft bedeutet, gemeinsam Entscheidungen zu treffen
und auch Verantwortung zu tragen. Mit ihrem Eintreten für diese Sache würden die
USA den transatlantischen Dialog beleben helfen und die Europäer dazu anspornen,
sich ernsthafter auf die Rolle zu konzentrieren, die ein wirklich gewichtiges
Europa in der Welt spielen könnte.
Es ist denkbar, daß eine geeinte und mächtige Europäische Union irgendwann
einmal der politische Nebenbuhler der Vereinigten Staaten wenden könnte. Auf
wirtschaftlich technologischem Gebiet könnte sie zweifellos ein schwieriger
Konkurrent werden, zudem könnten ihre geopolitischen Interessen im Nahen Osten
und anderswo deutlich von denen der USA abweichen. Mit einem so mächtigen und
politisch zielstrebigen Europa ist in absehbarer Zukunft allerdings nicht zu
rechnen. Anders als die Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt ihrer Gründung sind
die europäischen Nationalstaaten historisch tief verwurzelt, und die
Begeisterung für ein transnationales Europa hat deutlich nachgelassen.
Die Alternativen für die nächsten ein, zwei Jahrzehnte sind entweder ein immer
größeres und geeinteres Europa, das wenn auch zögerlich und schubweise — das
Ziel kontinentaler Einheit verfolgt; ein Europa in der Sackgasse, das über den
gegenwärtigen Stand der Integration und geographischen Ausdehnung nicht
hinauskommt neben einem Mitteleuropa, das ein geopolitisches Niemandsland
bleibt; oder, als wahrscheinliche Folge des Stillstands, ein nach und nach
zerfallendes Europa, das seine alten Machtkämpfe wieder aufnimmt. Bei einer
Stagnation der europäischen Einigung wird Deutschlands Selbstidentifikation mit
Europa nahezu zwangsläufig schwinden und das deutsche Staatsinteresse folglich
eine nationalere Handschrift tragen. Für Amerika ist die erste Möglichkeit
eindeutig die beste, aber damit diese Option Wirklichkeit wird, bedarf es eines
massiven Impulses von seiten den USA. An diesem Punkt der zögerlichen
europäischen Einigung braucht sich Amerika nicht direkt in so heikle Debatten
verwickeln zu lassen wie etwa über die Frage, ob die EU ihre außenpolitischen
Entscheidungen durch Mehrheitsvotum treffen sollte (eine Position, die besonders
von den Deutschen bevorzugt wird), ob das europäische Parlament entscheidende
gesetzgebende Gewalt annehmen und die europäische Kommission in Brüssel
tatsächlich die europäische Exekutive wenden sollte; ob der Zeitplan für die
Umsetzung des Abkommens über die europäische Wirtschafts- und Währungsunion
gelockert werden, oder schließlich, ob Europa ein breit angelegter Staatenbund
oder eine vielschichtige Einheit mit einem föderalen inneren Kern und einem
etwas lockereren äußeren Rand sein sollte. Das sind Angelegenheiten, die die
Europäer untereinander ausdiskutieren müssen — und es ist mehr als
wahrscheinlich, daß die Fortschritte in all diesen Streitfragen schwankend, von
Pausen unterbrochen und schließlich nur durch komplizierte Kompromisse erzielt
werden.
Nichtsdestoweniger sollte man vernünftigerweise davon ausgehen, daß die
Europäische Währungsunion spätestens im Jahr 2000 in Kraft treten wird,
vielleicht anfangs nur mit sechs bis zehn der gegenwärtig 15 EU-Mitglieder. Dies
wird die wirtschaftliche Integration Europas beschleunigen und ihrer politischen
Integration neuen Auftrieb geben. So entsteht stoßweise, mit einem
integrierteren Kern und einem lockeren äußeren Umfeld ein einiges Europa, das
nach und nach ein wichtiger politischer Mitspieler auf dem eurasischen
Schachbrett wenden wird.
Amerika sollte keinesfalls den Eindruck vermitteln, es bevorzuge eine vagere,
wenn auch breitere, europäische Assoziation, sondern durch Wort und Tat seine
Bereitschaft bekunden, letztendlich mit den EU in Fragen der internationalen
Politik und globalen Sicherheit partnerschaftlich umzugehen, anstatt sie als
regionalen gemeinsamen Markt, dessen Mitgliedsstaaten mit den USA durch die NATO
verbündet sind, zu behandeln. Um dieses Engagement glaubhafter zu machen und
damit üben die bloße Partnerschaftsrhetorik hinauszugehen, könnte mit der EU
eine gemeinsame Planung neuer bilateraler transatlantischer
Entscheidungsfindungsmechanismen zum Vorschlag gebracht und initiiert wenden.
Das gleiche gilt für die NATO als solche. Sie ist für die transatlantische
Verbindung von entscheidender Bedeutung. In diesem Punkte besteht zwischen den
USA und Europa uneingeschränkten Konsens. Ohne die NATO würde Europa nicht nur
verwundbar werden, sondern fast augenblicklich auch politisch in seine
Einzelstaaten zerfallen. Die NATO gewährleistet Sicherheit für Europa und gibt
einen stabilen Rahmen für die Verfolgung den europäischen Einheit ab. Das macht
die NATO für Europa historisch so unverzichtbar.
Im Zuge der allmählichen und zögerlichen europäischen Einigung werden die
inneren Strukturen und Abläufe den NATO jedoch entsprechend geändert werden
müssen. In dieser Frage haben die Franzosen recht. Man kann nicht eines Tages
ein geeintes Europa haben und zugleich ein Verteidigungsbündnis beibehalten, das
aus einer Supermacht plus 15 abhängigen Mächten besteht. Wenn Europa einmal eine
echte politische Identität sui generis anzunehmen beginnt und die EU einige
Funktionen einer supranationalen Regierung übernimmt, wird die NATO auf der
Basis einer Eins-plus-eins (USA + EU)-Formel verändert werden müssen. Das wird
nicht über Nacht und auf einen Schlag geschehen. Fortschritte in diese Richtung
werden, um mich zu wiederholen, zögernd erfolgen. Diese Fortschritte müssen aber
in den bestehenden Vereinbarungen der Allianz verankert weden, um das Bündnis
dynamisch zu erhalten. Ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung war die
Entscheidung des Bündnisses im Jahn 1996, Raum für die Combined Joint Task
Forces zu schaffen und dadurch die Möglichkeit nein europäischen Militäraktionen
ins Auge zu fassen, die ebenso auf der Logistik des Bündnisses basieren wie auf
seinen Kommandostruktur, Kontrolle, Kommunikation und geheim-dienstlichen
Tätigkeit.
Auch ein Entgegenkommen den USA gegenüber Frankreichs Forderungen nach einer
gewachsenen Rolle den Westeuropäischen Union innerhalb der NATO, besonders in
der Befehlsstruktur und bei der Entscheidungsfindung, wäre ein echter Beitrag
zur europäischen Einheit und geeignet, die Kluft zwischen amerikanischem und
französischem Selbstverständnis etwas zu verringern.
Längerfristig wird die WEU möglicherweise einige EU Mitgliedsstaaten umfassen,
die aus verschiedenen geopolitischen oder historischen Gründen keine
NATO-Mitgliedschaft anstreben. Als Anwärter könnten Finnland, Schweden,
vielleicht sogar Österreich in Frage kommen, die allesamt bereits bei der WEU
Beobachterstatus besitzen.11 Andere Staaten mögen eine Anbindung an die WEU als
einen ersten Schritt zu einer NATO-Mitgliedschaft anstreben. Die WEU könnte auch
irgendwann dem Programm der NATOPartnerschaft für den Frieden im Hinblick auf
zukünftige Mitglieder der EU nacheifern wollen. All das würde helfen, ein
verzweigteres Netz der Zusammenarbeit für die Sicherheit in Europa zu knüpfen,
das über den formalen Aktionsradius des transatlantischen Bündnisses
hinausreicht.
11 Zu beachten ist, daß einflußreiche Stimmen sowohl in Finnland als auch in
Schweden bereits die Möglichkeit einer Angliederung an die NATO diskutieren. Im
Mai 1996 soll schwedischen Medienberichten zufolge der Oberbefehlshaber der
finnischen Streitkräfte die Möglichkeit gewisser NATO-Einsätze auf
skandinavischem Boden angesprochen haben, und im August 1996 sprach der
Verteidigungsausschuß des schwedischen Parlaments die auf eine allmähliche
Tendenz zu engerer Sicherheitskooperation mit der NATO hinweisende Empfehlung
aus, Schweden solle sich der Westeuropäischen Rüstungsgruppe (WEAG) anschließen,
zu der sonst nur NATO-Mitglieder gehören.
In der Zwischenzeit, bis ein größeres und geeinteres Europa entsteht, werden die
Vereinigten Staaten sowohl mit Frankreich als auch mit Deutschland eng an seiner
Entstehung mitarbeiten müssen. Somit wird sich Amerika weiterhin in dem
politischen Dilemma befinden, wie es Frankreich zu einer engeren politischen und
militärischen Integration in das Atlantische Bündnis bewegen kann, ohne das
deutsch-amerikanische Verhältnis zu belasten; und was Deutschland angeht, wie es
sein Vertrauen in die deutsche Führungsrolle in einem atlantischen Europa nutzen
kann, ohne in Frankreich und England sowie in anderen europäischen Ländern
Besorgnis zu erwecken.
Eine größere nachweisliche Flexibilität von seiten der USA in den zukünftigen
Gestalt des Bündnisses verspräche, die französische Unterstützung für dessen
Osterweiterung stärker zu mobilisieren. Langfristig würde eine NATO-Zone
integrierter militärischer Sicherheit beiderseits von Deutschland dieses fester
in einer multilateralen Struktur verankern, was für Frankreich durchaus von
Bedeutung wäre. Darüber hinaus erhöhte die Erweiterung des Bündnisses die
Wahrscheinlichkeit, daß das Weimarer Dreieck (bestehend aus Deutschland,
Frankreich und Polen) ein subtiles Mittel werden könnte, die Führung
Deutschlands in Europa etwas auszubalancieren. Obwohl Polen für seine Aufnahme
in die Nato auf deutsche Unterstützung angewiesen ist (und Frankreich wegen
seines Zögerns gegenüber einer solchen Erweiterung grollt), wird sich doch, wenn
es erst einmal Bündnispartner ist, mit höherer Wahrscheinlichkeit eine
gemeinsame französisch-polnische Perspektive eröffnen.
Auf keinen Fall sollte Washington aus den Augen verlieren, daß Frankreich in
Angelegenheiten, die mit den Identität Europas oder den inneren Abläufen der
NATO zu tun haben, nur kurzfristig ein Gegner ist. Wichtiger noch, es sollte
stets daran denken, daß Frankreich ein maßgebender Partner bei der grundlegenden
Aufgabe ist, ein demokratisches Deutschland auf Dauer fest in Europa
einzubinden. Darin besteht die historische Rolle der deutsch-französischen
Freundschaft, und die Osterweiterung der EU und der NATO sollte die Bedeutung
dieses Verhältnisses als festen Kern Europas noch vergrößern. Schließlich ist
Frankreich weder stark genug, um Amerika in den geostrategischen Grundlagen
seinen Europapolitik zu behindern, noch hat es das Potential, um selbst die
führende Macht in Europa zu wenden. Folglich kann man seine Eigenheiten und
sogar Ausfälle tolerieren.
Von Belang ist außerdem die Feststellung, daß Frankreich eine konstruktive Rolle
in Nordafrika und in den frankophonen afrikanischen Ländern spielt. Es ist den
wichtigste Partner Marokkos und Tunesiens und übt in dieser Eigenschaft zugleich
einen stabilisierenden Einfluß auf Algerien aus. Für ein solches Engagement
Frankreichs gibt es einen triftigen innenpolitischen Grund: An die fünf
Millionen Moslems leben derzeit in Frankreich. Somit hat es ein vitales
Interesse an den Stabilität und friedlichen Entwicklung Nordafrikas. Dieses
Interesse kommt Europas Sicherheit noch in anderer Hinsicht zugute. Ohne das
französische Sendungsbewußtsein wäre die Südflanke Europas sehr viel instabiler,
und die Zustände wären dort noch besorgniserregender. Das gesamte Südeuropa ist
mehr und mehr von der sozialen und politischen Bedrohung betroffen, die von der
instabilen Lage entlang der südlichen Mittelmeerküste ausgeht. Frankreichs
intensives Interesse an dem, was am Mittelmeer geschieht, ist daher durchaus
relevant für die Sicherheitsbelange den NATO, und diese Überlegung sollte
Amerika in Betracht ziehen, wenn ihm Frankreichs überzogene Ansprüchen auf eine
besondere Führungsrolle gelegentlich zu schaffen machen.
Deutschland ist ein anderes Problem. Die beherrschende Position Deutschlands
läßt sich nicht bestreiten, gleichwohl muß jede öffentliche Billigung den
deutschen Führungsrolle in Europa wohlerwogen sein. Diese Führung mag für einige
mitteleuropäische Staaten — wie jene, die die deutsche Initiative zur
Erweiterung den EU nach Osten begrüßen — nützlich und für die Westeuropäer
tolerierbar sein, solange sie der Vormachtstellung der USA untergeordnet ist,
aber auf lange Sicht kann das europäische Haus nicht darauf errichtet werden. Zu
viele Erinnerungen sind noch lebendig, zu viele Ängste werden wahrscheinlich
wieder aufkeimen. Ein von Berlin aus errichtetes und geführtes Europa ist
schlechterdings undenkbar. Deshalb braucht Deutschland Frankreich, Europa die
deutschfranzösische Achse, und deshalb kann Amerika nicht zwischen Deutschland
und Frankreich wählen.
Der entscheidende Punkt bei der NATO-Erweiterung ist, daß es sich um einen ganz
und gar mit den Ausdehnung Europas selbst verbundenen Prozeß handelt. Falls die
Europäische Union eine unter geographischem Aspekt größere Gemeinschaft — mit
einem stärken integrierten französischdeutschen Führungskern und weniger
integrierten äußeren Schichten — werden und ein solches Europa seine Sicherheit
auf ein fortdauerndes Bündnis mit Amerika gründen soll, dann folgt daraus, daß
sein geopolitisch exponiertesten Sektor, nämlich Mitteleuropa, von der Teilhabe
an der Sicherheit, die das übrige Europa durch die transatlantische Allianz
genießt, nicht demonstrativ ausgeschlossen werden kann. Hierin sind sich die
Vereinigten Staaten und Deutschland einig. Den Anstoß zu einer Erweiterung gaben
auf beiden Seiten politische, historische und konstruktive Gründe. Er geht weder
auf eine Animosität gegenüber Rußland oder auf Angst vor diesem zurück noch auf
den Wunsch, diesen Staat zu isolieren.
Amerika muß also in seinem Eintreten für eine Osterweiterung Europas besonders
eng mit Deutschland zusammenarbeiten. Amerikanischdeutsche Zusammenarbeit und
gemeinsame Führung sind zu diesen Frage ganz wesentlich. Wenn die Vereinigten
Staaten und Deutschland gemeinsam die anderen NATO-Verbündeten ermutigen, den
Schritt gutzuheißen und entweder mit Rußland, sollte es zu einem Kompromiß
bereit sein (vgl. Kapitel 4), eine wirksame Übereinkunft aushandeln, oder ihre
Entscheidung in der richtigen Überzeugung, daß die Gestaltung Europas nicht den
Einwänden Moskaus untergeordnet werden kann, treffen, dann steht der Erweiterung
nichts im Wege. Das erforderliche einstimmige Einverständnis sämtlicher
NATO-Mitglieder wird nur unter amerikanisch-deutschem Druck zustande kommen,
doch wird kein NATO Mitglied seine Zustimmung verweigern können, wenn Amerika
und Deutschland gemeinsam darauf dringen.
Letztlich steht bei dieser Bemühung Amerikas langjährige Rolle in Europa auf dem
Spiel. Ein neues Europa nimmt bereits Gestalt an, und wenn dieses neue Europa
geopolitisch ein Teil des »euro-atlantischen« Raums bleiben soll, ist die
Erweiterung der NATO von entscheidender Bedeutung. Sollte die von den
Vereinigten Staaten in die Wege geleitete NATO-Erweiterung ins Stocken geraten,
wäre das das Ende einer umfassenden amerikanischen Politik für ganz Eurasien.
Ein solches Scheitern würde die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, es
würde den Plan eines expandierenden Europa zunichte machen, die Mitteleuropäer
demoralisieren und möglicherweise die gegenwärtig schlummernden oder
verkümmernden geopolitischen Gelüste Rußlands in Mitteleuropa neu entzünden. Für
den Westen wäre es eine selbst beigebrachte Wunde, die die Aussichten auf einen
echten europäischen Eckpfeiler in einen eurasischen Sicherheitsarchitektur
zunichte macht; und für Amerika wäre es nicht nur eine regionale, sondern auch
eine globale Schlappe. Entscheidend für eine fortschreitende Ausdehnung Europas
muß die Aussage sein, daß keine Macht außerhalb des bestehenden
transatlantischen Systems ein Vetorecht gegen die Teilnahme eines geeigneten
europäischen Staates in dem europäischen System — und mithin in dessen
transatlantischem Sicherheitssystem — hat, und daß kein europäischer Staat, der
die Voraussetzungen mitbringt, a priori von einer eventuellen Mitgliedschaft in
EU oder NATO ausgeschlossen werden darf. Besonders die hoch verwundbaren und
zunehmend für einen Beitritt in Frage kommenden baltischen Staaten haben ein
Anrecht darauf zu wissen, daß sie einmal vollberechtigte Mitglieder in beiden
Organisationen werden können — und daß in der Zwischenzeit ihre Souveränität
nicht bedroht werden kann, ohne die Interessen eines wachsenden Europa und
seines amerikanischen Partners zu tangieren.
Im Endeffekt muß der Westen — von allem Amerika und seine westeuropäischen
Verbündeten eine Antwort auf die von Vaclav Havel am 15. Mai 1996 in Aachen
eloquent gestellte Frage finden:
»Ich weiß, daß weder die Europäische Union noch die Nordatlantische Allianz über
Nacht all jenen ihre Türen öffnen kann, die sich ihnen anschließen möchten. Aber
beide können — und sollten es tun, ehe es zu spät ist — ganz Europa als einer
Sphäre gemeinsamer Werte die deutliche Gewißheit geben, daß es kein
geschlossener Klub ist. Sie sollten eine klare und detaillierte Politik der
allmählichen Erweiterung formulieren, die nicht nur einen Zeitplan enthält,
sondern auch die Logik dieses Zeitplans erklärt. « [Hervorhebung vom Verf.]
Europas historischer Zeitplan
Obwohl sich derzeit noch nicht genau und endgültig sagen läßt, wo einmal seine
Grenzen im Osten verlaufen wenden, steht Europa im weitesten Sinne für eine
gemeinsame der christlichen Tradition verhaftete Zivilisation. Nach engerem,
westlichen Verständnis geht es auf Rom und sein historisches Vermächtnis zurück.
Aber Europas christliche Tradition umfaßt auch Byzanz und seine
russisch-orthodoxe Weiterentwicklung. Somit ist Europa, kulturell gesehen, mehr
als das römisch-christliche Europa, und dieses wiederum mehr als Westeuropa —
auch wenn sich letzteres in neuerer Zeit der Bezeichnung des Ganzen bemächtigte.
Schon ein Blick auf die Karte (siehe Seite 124) macht klar, daß das, was
gegenwärtig unter dem Begriff Europa firmiert, nicht das ganze Europa darstellt.
Schlimmer noch, es weist eine Zone der Unsicherheit zwischen Europa und Rußland
auf, die eine Sogwirkung auf beide ausüben kann, was zwangsläufig zu Spannungen
und Rivalitäten führen wird.
Ein (auf den westlichen Teil begrenztes) Europa Karls des Großen war während des
Kalten Krieges sinnvoll und eine Notwendigkeit. Heute aber ist es ein Unding,
weil das entstehende vereinte Europa nicht allein auf einer gemeinsamen
Zivilisation gründet, sondern auch einen bestimmten way of life und
Lebensstandard beinhaltet sowie eine politische Ordnung mit verbindlichen
demokratischen Verfahren, die nicht mehr von ethnischen und territorialen
Konflikten belastet sind. Dieses Europa bleibt in seiner gegenwärtigen
Organisationsform und Ausdehnung weit hinter seinen tatsächlichen Möglichkeiten
zurück. Mehrere politisch stabile Staaten Mitteleuropas mit höherem
Entwicklungsstand und allesamt Teil der westlichen römisch-christlichen
Tradition, namentlich die Tschechische Republik, Polen, Ungarn und vielleicht
auch Slowenien, kommen für eine Mitgliedschaft in Europa und seiner
transatlantischen Sicherheitspartnerschaft zweifellos in Frage und sind lebhaft
daran interessiert.
Unter den gegenwärtigen Umständen wird die NATO-Osterweiterung — vermutlich bis
spätestens 1999 — allen Wahrscheinlichkeit nach Polen, die Tschechische Republik
und Ungarn einbegreifen. Nach diesem ersten, aber bedeutsamen Schritt dürfte
jede weitere Ausdehnung des Bündnisses entweder mit einer Erweiterung der EU
zusammenfallen oder einer solchen folgen. Allerdings gestalten sowohl die Anzahl
der Qualifizierungshürden als auch die Erfüllung der an eine Mitgliedschaft
geknüpften Bedingungen das hierfür vorgesehene Prozedere wesentlich
komplizierter (siehe Seite 125). Daher ist mit den ersten Aufnahmen
mitteleuropäischer Länder in die Europäische Union nicht vor dem Jahr 2002 zu
rechnen. Dennoch werden sich sowohl die NATO als auch die EU, nachdem die ersten
drei neuen NATO-Mitglieder auch der EU beigetreten sind, mit der Frage
beschäftigen müssen, wie und wann die Mitgliedschaft auf die baltischen
Republiken, Slowenien, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei und zuletzt
vielleicht sogar auf die Ukraine ausgedehnt werden kann.
Es ist bemerkenswert, daß die Aussicht auf eine spätere Mitgliedschaft sich
bereits jetzt konstruktiv auf die inneren Verhältnisse und das Verhalten der
mitgliedswilligen Staaten auswirkt. Das Wissen darum, daß sich weder EU noch
NATO mit zusätzlichen Konflikten zwischen ihren Mitgliedern, gleichgültig, ob es
dabei um Minderheitsrechte oder Gebietsansprüche geht, (Türkei versus
Griechenland ist schon mehr als genug) belasten möchte, hat bereits der
Slowakei, Ungarn und Rumänien den nötigen Ansporn gegeben, um Übereinkommen
gemäß den vom Europarat aufgestellten Standards zu erzielen. Ähnlich verhält es
sich mit dem allgemeineren Grundsatz, daß sich nur Demokratien für eine
Mitgliedschaft qualifizieren können. Der Wunsch, nicht außen vor zu bleiben,
bestärkt die neuen Demokratien, den von ihnen eingeschlagenen Weg weiterzugehen,
und hat somit eine wichtige Funktion.
Ein unumstößliches Prinzip sollte jedenfalls sein, daß die politische Einheit
und die Sicherheit Europas unteilbar sind. Ein wirklich geeintes Europa ohne
einen gemeinsamen Sicherheitspakt mit den USA ist in praxi schwer vorstellbar.
Daraus folgt, daß Staaten, die Beitrittsgespräche mit der EU aufnehmen wollen,
und dazu eingeladen werden, in Zukunft automatisch unter den Schutz der NATO
gestellt werden sollten.
Infolgedessen wird der Prozeß der EU-Erweiterung und der Ausdehnung des
transatlantischen Sicherheitssystems wahrscheinlich in wohlüberlegten Etappen
voranschreiten. Unter der Voraussetzung, daß Amerika und Westeuropa an ihrem
Engagement festhalten, könnte ein theoretischer aber vorsichtig realistischer
Zeitplan für diese Etappen folgendermaßen aussehen:
1.Spätestens 1999 werden die ersten neuen Mitglieder aus Mitteleuropa in die
NATO aufgenommen sein, wenn auch ihr Betritt zur EU vermutlich nicht vor 2002
oder 2003 erfolgen wird.
2. In der Zwischenzeit wird die EU Beitrittsverhandlungen mit den baltischen
Republiken aufnehmen, und auch die NATO wird sich in der Frage einer
Mitgliedschaft dieser Staaten sowie Rumäniens vorwärts bewegen, deren Beitritt
mutmaßlich 2005 abgeschlossen sein dürfte. Irgendwann in diesem Stadium werden
wohl die anderen Balkanstaaten die für Beitrittskandidaten erforderlichen
Voraussetzungen ebenfalls erfüllen.
3. Der Beitritt der baltischen Staaten könnte vielleicht auch Schweden und
Finnland dazu bewegen, eine Mitgliedschaft in der NATO in Erwägung zu ziehen.
4. Irgendwann zwischen 2005 und 2010 sollte die Ukraine für ernsthafte
Verhandlungen sowohl mit der EU als auch mit der NATO bereit sein, insbesondere
wenn das Land in der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte bei seinen
innenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicher als ein
mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat.
In der Zwischenzeit wird sich wahrscheinlich die deutsch-französisch-polnische
Zusammenarbeit, vor allem im Bereich der Verteidigung, beträchtlich vertieft
haben. Die Zusammenarbeit könnte der westliche Kern weiterer europäischer
Sicherheitsvereinbarungen werden, die schließlich sogar Rußland und die Ukraine
einbeziehen möchten. Angesichts des besonderen geopolitischen Interesses, das
Deutschland und Polen an der Unabhängigkeit der Ukraine haben, ist auch durchaus
denkbar, daß die Ukraine allmählich in das Sonderverhältnis zwischen Frankreich,
Deutschland und Polen eingebunden wird. Bis zum Jahr 2010 könnte sich die 230
Millionen Menschen umfassende deutsch-französisch-polnisch-ukrainische
Zusammenarbeit zu einer Partnerschaft entwickelt haben, die Europas
geostrategische Tiefe verstärkt (vgl. Karte Seite 128).
Es kommt nun sehr darauf an, ob sich das oben skizzierte Szenario friedlich
entwickeln kann oder in den Sog zunehmender Spannungen mit Rußland gerät. Den
Russen sollte beständig versichert werden, daß ihnen die Tür zu Europa offen
steht, ebenso wie die zu seiner späteren Beteiligung ihres Landes an einem
erweiterten transatlantischen Sicherheitssystem und vielleicht in fernerer
Zukunft an einer neuen transeurasischen Sicherheitsstruktur. Um diesen
Beteuerungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, sollten die Zusammenarbeit und der
Austausch zwischen Rußland und Europa auf allen Gebieten ganz bewußt gefördert
werden. (Rußlands Verhältnis zu Europa und die Rolle der Ukraine in diesem
Zusammenhang sind im nächsten Kapitel ausführlicher dargelegt.)
Wenn Europas Einigung und seine Erweiterung nach Osten hin gelingt und Rußland
derweil demokratische Konsolidierung und Modernisierung seiner Gesellschaft
zustande bringt, kann es irgendwann ebenfalls für eine echte Beziehung zu Europa
in Frage kommen. Das wiederum würde eine allmähliche Verschmelzung des
transatlantischen Sicherheitssystems mit einem transkontinentalen eurasischen
ermöglichen. In der Praxis jedoch wird sich die Frage einer formellen
Mitgliedschaft Rußlands für die nächste Zukunft nicht stellen — und das ist,
wenn überhaupt, ein weiterer Grund, ihm nicht töricht die Türen zu verschließen.
Um zum Ende zu kommen: Nachdem das Europa von Jalta der Vergangenheit angehört,
geht es darum, zu einem Versailler Europa zu kommen. Das Ende der europäischen
Teilung sollte keinem Rückfall in ein Europa streitsüchtiger Nationalstaaten
Vorschub leisten, es sollte vielmehr der Ausgangspunkt für die Gestaltung eines
größeren und zunehmend integrierteren Europas sein, das, gestützt auf eine
erweiterte NATO und durch eine konstruktive Sicherheitspartnerschaft mit
Rußland, sicherer als bisher sein wird. Amerikas zentrales geostrategisches Ziel
in Europa läßt sich also ganz einfach zusammenfassen: durch eine glaubwürdigere
transatlantische Partnerschaft muß der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen
Kontinent so gefestigt werden, daß ein wachsendes Europa ein brauchbares
Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der
Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten läßt.
4DAS SCHWARZE LOCH
Die Ende 1991 vollzogene Auflösung des gebietsmäßig größten Staates der Welt
verursachte mitten in Eurasien ein »Schwarzes Loch«. Es war, als sei das
Herzland wie es die Geopolitiker genannt haben, plötzlich aus der Landkarte
herausgerissen worden.
Diese neuartige und verwirrende geopolitische Lage stellt für Amerika einen
ungemeinen Ansporn dar. Verständlicherweise muß die vorrangige Aufgabe sein, die
Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß ein zerbröckelnder, immer noch über ein
mächtiges Atomwaffenarsenal verfügender Staat in politische Anarchie verfällt
oder sich wieder in eine feindliche Diktatur verwandelt. Als langfristige
Aufgabe jedoch bleibt das Problem zu lösen, wie man Rußlands Demokratisierung
und wirtschaftliche Erholung unterstützen und dabei das erneute Entstehen eines
eurasischen Imperiums vermeiden kann, das Amerika an der Verwirklichung seines
geostrategischen Ziels hindern könnte, ein größeres euroatlantisches System zu
entwerfen, in welches sich dann Rußland dauerhaft und sicher einbeziehen läßt.
Rußlands neuer geopolitischer Rahmen
Der Zusammenbruch der Sowjetunion war das letzte Stadium in der fortschreitenden
Fragmentierung des riesigen chinesisch sowjetischen kommunistischen Blocks, der
von seinem Umfang her für kurze Zeit dem Reich Dschingis Khans entsprach und es
mancherorts sogar übertraf. Aber der modernere transkontinentale eurasische
Block war von sehr kurzer Dauer. Schon als Titos Jugoslawien abtrünnig wurde und
Maos China der Moskauer Zentrale den Gehorsam verweigerte, deutete sich die
Verwundbarkeit des kommunistischen Lagers gegenüber nationalistischen
Bestrebungen an, die sich als stärker erwiesen als ideologische Bande. Der
chinesisch-sowjetische Block bestand, grob gesagt, zehn, die Sowjetunion etwa
siebzig Jahre.
Unter geopolitischem Aspekt noch bedeutsamer war jedoch der Ruin des
jahrhunderte lang von Moskau aus regierten Großrussischen Reiches. Der Zerfall
dieses Reiches wurde durch das allgemeine sozioökonomische und politische
Scheitern des Sowjetsystems beschleunigt — obwohl dessen Malaise fast bis zum
bitteren Ende durch systematische Geheimhaltung und Selbstisolation zum Großteil
verschleiert wurde. Daher war die Welt über die scheinbar rasante
Selbstzerstörung der Sowjetunion fassungslos. Innerhalb zweier kurzer Wochen
wurde im Dezember 1991 die Sowjetunion von den Oberhäuptern der russischen,
ukrainischen und weißrussischen Republik zuerst trotzig für aufgelöst erklärt,
dann formal durch eine losere Einheit — die so genannte Gemeinschaft
unabhängiger Staaten (GUS) — ersetzt, die alle Sowjetrepubliken bis auf die
baltischen Staaten umfaßte. Hierauf trat der sowjetische Präsident widerstrebend
zurück, die Sowjetfahne wurde zum letzten Mal von der Spitze des Kremls
eingeholt, und schließlich entstand die Russische Föderation — nun ein
vorwiegend russischer Nationalstaat mit 150 Millionen Einwohnern — als
de-facto-Nachfolger der früheren Sowjetunion, während die anderen Republiken —
die weitere 150 Millionen Menschen stellen — in unterschiedlichem Maße ihre
Souveränität als unabhängige Staaten geltend machten.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion löste ein ungeheures geopolitisches
Durcheinander aus. Binnen zwei Wochen mußte das russische Volk — das, allgemein
gesagt, über die drohende Auflösung der Sowjetunion noch weniger vorgewarnt war
als die übrige Welt — plötzlich erkennen, daß es nicht mehr Herr über ein
transkontinentales Reich war, sondern daß die Grenzen Rußlands dorthin
zurückverlegt worden waren, wo sie im Kaukasus um 1800, in Zentralasien um 1850
und — viel ärgerlicher und einschneidender — im Westen um 1600, kurz nach der
Regierungszeit Iwans des Schrecklichen, verlaufen waren. Der Verlust des
Kaukasus gab den strategischen Ängsten vor einem wiederauflebenden türkischen
Einfluß neue Nahrung, die Abspaltung Zentralasiens erzeugte angesichts der dort
vorhandenen enormen Energiequellen und Bodenschätze ein Gefühl der Deprivation
und schürte Ängste vor einer potentiellen islamischen Bedrohung, und die
Unabhängigkeit der Ukraine stellte den russischen Anspruch, der von Gott
auserkorene Bannerträger einer gemeinsamen panslawistischen Identität zu sein,
geradezu im Kern in Frage.
Der Raum, den jahrhunderte lang das Zarenreich und ein dreiviertel Jahrhundert
lang die von Rußland dominierte Sowjetunion eingenommen hatte, sollte nun von
einem Dutzend Staaten gefüllt werden, die in der Mehrzahl (außer Rußland) auf
eine echte Souveränität kaum vorbereitet waren und größenmäßig zwischen der
relativ großen Ukraine mit ihren 52 Millionen Einwohnern und Armenien mit einer
Bevölkerung von 3,5 Millionen lagen. Ihre Existenzfähigkeit erschien fraglich,
während man ebenso wenig vorhersagen konnte, ob Moskau gewillt sein würde, sich
Moskau gewillt sein würde, sich auf Dauer an die neue Realität anzupassen. Der
historische Schock, den die Russen erlitten, wurde noch durch den Umstand
vergrößert, daß an die 20 Millionen russischsprachiger Menschen nun Bürger
ausländischer Staaten waren, deren Politik zunehmend von nationalen Eliten
dominiert wird, die nach Jahrzehnten mehr oder weniger erzwungener
Russifizierung entschlossen sind, die eigene Identität zur Geltung zu bringen.
Im eigentlichen Zentrum Eurasiens hinterließ der Zusammenbruch des russischen
Imperiums ein Machtvakuum. Nicht nur in den seit kurzem unabhängigen Staaten
zeigten sich Anzeichen von Schwäche und Konfusion, auch in Rußland selbst löste
der Umbruch eine schwere Systemkrise vor allem deshalb aus, weil der politische
Umschwung mit dem gleichzeitigen Versuch einherging, das alte sowjetische
Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell abzuschaffen. Rußlands militärische
Verwicklung in Tadschikistan, hinter der die Angst vor einer Machtübernahme
durch muslimische Kräfte in diesem nunmehr unabhängigen Staat stand, und
insbesondere die tragische, brutale und sowohl wirtschaftlich als auch politisch
sehr kostspielige Intervention in Tschetschenien verschlimmerten das nationale
Trauma noch. Am allerschmerzlichsten freilich war Rußlands beträchtliche Einbuße
an internationalem Prestige: Nun war die eine der beiden Supermächte in den
Augen vieler kaum mehr als eine Regionalmacht in der Dritten Welt, obwohl sie
noch immer ein bedeutendes, wenn auch zunehmend veraltetes Atomwaffenarsenal
besitzt.
Unter dem Ausmaß der sozialen Krise verstärkte sich das geopolitische Vakuum
zusätzlich. Ein dreiviertel Jahrhundert kommunistischer Herrschaft hatte der
russischen Bevölkerung beispiellose Opfer abverlangt. Millionen seiner
begabtesten und erfindungsreichsten Menschen wurden ermordet oder kamen in den
Gulags ums Leben. In diesem Jahrhundert hatte das Land obendrein die
Verwüstungen des Ersten Weltkriegs, das Gemetzel in einem langwierigen
Bürgerkrieg und die Grausamkeiten und Verluste des Zweiten Weltkriegs erdulden
müssen. Das herrschende kommunistische Regime zwang dem Land eine erstickende
doktrinäre Orthodoxie auf und isolierte es von der übrigen Welt. Seine gegenüber
ökologischen Belangen völlig gleichgültige Wirtschaftspolitik hat sowohl die
Umwelt als auch die Gesundheit der Menschen erheblich in Mitleidenschaft
gezogen. Laut offizieller russischer Statistik kamen nur etwa 40 Prozent der
Neugeborenen gesund zur Welt, während nach grober Schätzung ein Fünftel der
russischen Erstkläßler in ihrer geistigen Entwicklung gehemmt sind. Die
Lebenserwartung bei Männern war auf 57,3 Jahre gesunken, und die
Sterblichkeitsrate überstieg die Geburtenquote. Die sozialen Bedingungen waren
genau genommen typisch für ein Dritte-Welt-Land mittlerer Kategorie.
Die Schrecken und die Heimsuchungen, denen das russische Volk im Lauf dieses
Jahrhunderts ausgesetzt war, lassen sich schwerlich überschätzen. Kaum eine
russische Familie hatte die Möglichkeit, ein normales bürgerliches Leben zu
führen. Man bedenke die sozialen Folgen der folgenden Ereignisse:
- der russisch-japanische Krieg von 1905, der mit einer für Rußland demütigenden
Niederlage endete; - die erste »proletarische Revolution« von 1905, die in den
Städten in größerem Ausmaß Gewalt entzündete; - der Erste Weltkrieg von 1914 —
1917 mit Millionen von Opfern und massiver wirtschaftlicher Erschütterung; - der
Bürgerkrieg von 1918 — 1921, der abermals etliche Millionen Menschenleben
forderte und das Land verwüstete; - der russisch-polnische Krieg von 1919 —
1920, der mit Rußlands Niederlage endete; - die Einführung der Straflager in den
frühen zwanziger Jahren einschließlich der Dezimierung der vorrevolutionären
Eliten und deren Massenflucht aus Rußland; - die Industrialisierungs- und
Kollektivierungsschübe Anfang und Mitte der dreißiger Jahre, in deren Gefolge
verheerende Hungerkatastrophen in der Ukraine und Kasachstan Millionen Opfer
forderten; - die großen Säuberungen und der Terror in der zweiten Hälfte der
dreißiger Jahre, bei denen Millionen von Menschen in Arbeitslager gesperrt, über
eine Million erschossen wurden und mehrere Millionen an den Folgen von
Mißhandlung und Hunger starben; - der Zweite Weltkrieg von 1941 — 1945 mit
seinem in die Millionen gehenden Blutzoll von Gefallenen und Zivilisten und der
ungeheueren wirtschaftlichen Verheerung; - die Neuauflage des stalinistischen
Terrors in den späten vierziger Jahren, bei denen es wieder zu
Massenverhaftungen und zahlreichen Hinrichtungen kam; - der jahrzehntelange
Rüstungswettlauf mit den Vereinigten Staaten, der vom Ende der vierziger bis
Ende der achtziger Jahre dauerte und zur Verarmung der Gesellschaft führte; -
die in wirtschaftlicher Hinsicht fatalen Anstrengungen während der siebziger und
achtziger Jahre, den Einflußbereich der Sowjetmacht in die Karibik, den Nahen
Osten und Afrika auszudehnen; - der lähmende Krieg in Afghanistan von 1979 bis
1989; - der plötzliche Zerfall der Sowjetunion und in seinem Gefolge
bürgerkriegsähnliche Zustände, verzehrende Wirtschaftskrisen und der blutige und
demütigende Krieg gegen Tschetschenien.
Nicht nur die innenpolitische Krise Rußlands und sein Verlust an internationalem
Ansehen waren, insbesondere für seine politische Elite, besorgniserregend und
beunruhigend, die Turbulenzen hatten auch auf seine geopolitische Lage negative
Auswirkungen. Die Auflösung der Sowjetunion hat die Grenzen Rußlands nach Westen
auf höchst einschneidende Weise verändert und sein geopolitisches Einflußgebiet
beachtlich schrumpfen lassen. Seit dem 18. Jahrhundert hatten die baltischen
Staaten unter russischer Oberhoheit gestanden; der Verlust der Hafenstädte Riga
und Tallin schränkte Rußlands Zugang zur Ostsee erheblich ein und machte ihn von
Winterfrösten abhängig. Obwohl sich Moskau eine politisch beherrschende Position
in dem offiziell nunmehr unabhängigen, aber stark russifizierten Weißrußland zu
bewahren vermochte, galt es keineswegs als sicher, ob die grassierenden
nationalistischen Bestrebungen nicht schließlich auch dort die Oberhand gewinnen
würden. Und jenseits der Grenzen der früheren Sowjetunion bedeutete der
Zusammenbruch des Warschauer Pakts, daß die früheren Satellitenstaaten
Mitteleuropas, allen voran Polen, rasch zur NATO und Europäischen Union
hinstrebten.
Am beunruhigendsten war der Verlust der Ukraine. Das Auftreten eines
unabhängigen ukrainischen Staates zwang nicht nur alle Russen, das Wesen ihrer
eigenen politischen und ethnischen Identität neu zu überdenken, sondern stellte
auch für den russischen Staat ein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar.
Da mehr als dreihundert Jahre russischer Reichsgeschichte plötzlich
gegenstandslos wurden, bedeutete das den Verlust einer potentiell reichen
industriellen und agrarischen Wirtschaft sowie von 52 Millionen Menschen, die
den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Rußland zu einem
wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen. Die
Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Rußland zudem seiner beherrschenden Position
am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem
Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.
Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen
Verlust dar, denn er beschnitt Rußlands geostrategische Optionen drastisch.
Selbst ohne die baltischen Staaten und Polen könnte ein Rußland, das die
Kontrolle über die Ukraine behielte, noch immer die Führung eines selbstbewußten
eurasischen Reiches anstreben, in welchem Moskau die nichtslawischen Völker im
Süden und Südosten der ehemaligen Sowjetunion dominieren könnte. Aber ohne die
Ukraine mit ihren 52 Millionen slawischen Brüdern und Schwestern droht jeder
Versuch Moskaus, das eurasische Reich wiederaufzubauen, Rußland in langwierige
Konflikte mit den national und religiös motivierten Nichtslawen zu verwickeln,
wobei der Krieg mit Tschetschenien vielleicht nur ein Vorgeschmack war.
Angesichts der fallenden Geburtenrate in Rußland und des enormen
Geburtenzuwachses bei den Völkern Zentralasiens würde der Anteil an Europäern in
einem neuen, ausschließlich auf russischer Macht gegründeten eurasischen
Einheitsstaat ohne die Ukraine unweigerlich von Jahr zu Jahr schwinden und der
asiatische Bevölkerungsteil zusehends überwiegen.
Der Wegfall der Ukraine wirkte auch als geopolitischer Katalysator. Politische
Schritte der ukrainischen Führung — die ukrainische Unabhängigkeitserklärung im
Dezember 1991, das Insistieren bei den kritischen Verhandlungen in Bela Vezha,
daß die Sowjetunion durch eine losere Gemeinschaft unabhängiger Staaten ersetzt
werden sollte, und vor allem die unerwartete, staatsstreichartige Unterstellung
der auf ukrainischem Boden stationierten Einheiten der Sowjetarmee unter
ukrainisches Kommando — verhinderten, daß sich unter dem neuem Namen GUS die
alte UdSSR in etwas föderalerem Gewand verbarg. Die politische Selbstbestimmung
der Ukraine machte Moskau fassungslos und setzte ein Beispiel, dem die anderen
ehemaligen Sowjetrepubliken, wenn auch anfangs eher zögerlich, folgten.
Rußlands Verlust seiner beherrschenden Position an der Ostsee fand sein Pendant
am Schwarzen Meer, zum einen wegen der Unabhängigkeit der Ukraine, zum anderen
weil die jetzt unabhängigen kaukasischen Staaten — Georgien, Armenien und
Aserbaidschan — die Möglichkeiten der Türkei verbesserten, ihren verloren
gegangenen Einfluß in der Region aufs neue geltend zu machen. Bis 1991 konnte
die Sowjetmacht vom Schwarzen Meer aus ihre Kreuzer ins Mittelmeer entsenden.
Mitte der neunziger Jahre verfügte Rußland nur noch über einen schmalen
Küstenstreifen am Schwarzen Meer und war mit der Ukraine in einen ungelösten
Streit über die Stützpunkterechte auf der Krim für die Reste der sowjetischen
Schwarzmeerflotte verstrickt, während es mit offenkundiger Verärgerung zusah,
wie NATO- und ukrainische Streitkräfte gemeinsam See- und Landemanöver
durchführten und der türkische Einfluß in der Schwarzmeerregion wuchs. Außerdem
verdächtigte Rußland die Türkei, den tschetschenischen Widerstand mit
Hilfslieferungen unterstützt zu haben.
Weiter nach Südosten hin führte die geopolitische Erschütterung einen ähnlich
bedeutsamen Wandel im Status des Kaspischen Beckens und Zentralasiens herbei.
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Kaspische Meer, mit Ausnahme eines
kleinen Teils im Süden, der zum Iran gehörte, ein nahezu rein russisches
Gewässer gewesen. Als nun ein unabhängiges und stark nationalistisches
Aserbaidschan entstand — gestärkt durch den Zustrom geschäftstüchtiger
Ölinvestoren aus dem Westen — und auch Kasachstan und Turkmenistan als
unabhängige Staaten auftraten, meldeten plötzlich außer Rußland weitere vier
Länder Ansprüche auf die Reichtümer des Kaspischen Beckens an. Rußland konnte
nicht mehr selbstverständlich von der alleinigen Verfügungsgewalt über diese
Bodenschätze ausgehen.
Mit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten hatte sich Rußlands
südöstliche Grenze an einigen Stellen um mehr als tausend Meilen nach Norden
verschoben. Die neuen Staaten verfügten über riesige Mineral- und
Erdölvorkommen, die ausländische Interessenten anlocken mußten. Es war fast
unvermeidlich, daß neben den Eliten über kurz oder lang auch die Völker dieser
Staaten nationalistischer wurden und sich vielleicht zunehmend zum Islam
bekehrten. In Kasachstan, einem riesigen Land, das ungeheuere Bodenschätze
besitzt, aber nur knapp 20 Millionen Einwohner hat, zu nahezu gleichen Teilen
Kasachen und Slawen, werden sich die Reibereien aufgrund nationaler und
sprachlicher Unterschiede wahrscheinlich verstärken. Usbekistan — mit einer
ethnisch viel homogeneren Bevölkerung von etwa 25 Millionen und politischen
Führern, die die geschichtlichen Ruhmestaten des Landes herausstreichen — hat
den neuen, postkolonialen Status des Landes in immer stärkerem Maße geltend
gemacht. Turkmenistan, durch Kasachstan von jedem direkten Kontakt mit Rußland
abgeschirmt, hat ganz unverhohlen neue Beziehungen zum Iran geknüpft, um für
einen Zugang zu den Weltmärkten von der russischen Infrastruktur weniger
abhängig zu sein.
Da sie von der Türkei, dem Iran, Pakistan und Saudi-Arabien unterstützt wurden,
waren die zentralasiatischen Staaten entgegen russischen Hoffnungen nicht
geneigt, ihre neue politische Souveränität gegen eine selbst gnädige
wirtschaftliche Integration mit Rußland zu tauschen. Eine gewisse Spannung und
Feindseligkeit in ihrem Verhältnis zu Rußland bleibt jedenfalls unausweichlich,
während die schmerzlichen Vorgänge von Tschetschenien und Tadschikistan darauf
hindeuten, daß etwas Schlimmeres nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Für
die Russen muß das Gespenst eines möglichen Konflikts mit den islamischen
Staaten entlang der gesamten Südflanke Rußlands (die zusammen mit der Türkei,
dem Iran und Pakistan mehr als 300 Millionen Menschen aufbieten) Anlaß zu
ernster Besorgnis sein.
Und schließlich hatte es Rußland zum Zeitpunkt, als sich sein Reich auflöste,
auch in Fernost mit einer bedrohlichen neuen geopolitischen Lage zu tun, obzwar
dort keine territorialen oder politischen Veränderungen stattgefunden haben.
Über mehrere Jahrhunderte hinweg war China — zumindest auf
politischmilitärischem Gebiet — schwächer und rückständiger gewesen als Rußland.
Kein Russe, dem die Zukunft seines Landes am Herzen liegt und der von den
gravierenden Veränderungen dieses Jahrzehnts verstört ist, kann über die
Tatsache hinwegsehen, daß sich China aufmacht, ein fortschrittlicherer,
dynamischerer und erfolgreicherer Staat als Rußland zu werden. Mit der enormen
Tatkraft seiner 1,2 Milliarden Menschen schickt sich Chinas Wirtschaftsmacht an,
die historische Gleichung zwischen den beiden Ländern von Grund auf umzukehren,
wobei die leeren Räume Sibiriens chinesische Siedler fast schon herbeiwinken.
Diese atemberaubenden neuen Gegebenheiten konnten für das russische
Sicherheitsbewußtsein in der fernöstlichen Region wie auch für seine Interessen
in Zentralasien nicht folgenlos bleiben. Im Vergleich zu dieser Entwicklung
könnte womöglich schon bald der Verlust der Ukraine seine geopolitische
Bedeutung verlieren. Wladimir Lukun, Rußlands erster postkommunistischer
Botschafter in den Vereinigten Staaten und späterer Vorsitzender des
Außenpolitischen Ausschusses der Duma, hat die sich daraus ergebenden
strategischen Folgerungen sehr gut zum Ausdruck gebracht:
»In der Vergangenheit sah sich Rußland als Vorhut Asiens, wenn auch gegenüber
Europa im Rückstand. Aber seither hat sich Asien viel schneller entwickelt ...
wir müssen erkennen, daß wir nicht mehr so sehr zwischen dem modernen Europa und
dem zurückgebliebenen Asien stehen, sondern vielmehr eine merkwürdige
Mittelstellung zwischen zwei Europas einnehmen.«12
Kurzum, Rußland, bis vor wenigen Jahren der Schmied eines großen Landreiches und
Führer eines ideologischen Blocks von Satellitenstaaten, die sich bis ins Herz
von Europa erstreckten und an einem Punkt sogar bis ins Südchinesische Meer, ist
zu einem unruhigen Nationalstaat geworden, der geographisch gesehen keinen
leichten Zugang zur Außenwelt hat und der an seiner westlichen, südlichen und
östlichen Flanke kräftezehrenden Konflikten mit seinen Nachbarn ausgesetzt ist.
Nur die unbewohnbaren und unzugänglichen nördlichen Permafrostgebiete scheinen
geopolitisch noch sicher.
Geostrategische Wunschvorstellungen
Eine Phase historischer und strategischer Konfusion war somit im postimperialen
Rußland unausweichlich. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und unerwartete
Zerfall des Großrussischen Reiches stürzten Rußland in eine mentale Krise und
löste eine weit reichende Debatte über ein neues, der gegenwärtigen historischen
Lage entsprechendes Selbstverständnis aus. Plötzlich wurden öffentlich und
privat Fragen diskutiert, die sich bislang nicht einmal die meisten größeren
Nationen gestellt haben: Was ist Rußland? Wo ist Rußland? Was heißt es, Russe zu
sein?
12 In: „Our Security Predicament“, Foreign Policy 88 (Herbst 1992) : 60.
Diese Fragen sind nicht nur theoretischer Natur: Jede Antwort enthält eine
wichtige geopolitische Aussage. Ist Rußland ein Nationalstaat, der auf einer
rein russischen Bevölkerung basiert, oder ist Rußland per definitionem etwas
mehr (wie Großbritannien mehr als England ist) und daher dazu ausersehen, ein
Großreich zu sein? Wo verlaufen — historisch, strategisch und ethnisch gesehen —
die eigentlichen Grenzen Rußlands? Sollte die Unabhängigkeit der Ukraine unter
diesen historischen, strategischen und ethnischen Aspekten als eine
vorübergehende Verirrung betrachtet werden? (Viele Russen neigen dieser Ansicht
zu.) muß man, um Russe zu sein, ethnisch ein Russkij sein, oder kann einer auch
nur im politischen Sinn Russe sein (das heißt ein Rossjanin — das Äquivalent zu
britisch, aber nicht englisch)? Jelzin und einige andere Russen haben
beispielsweise (mit tragischen Konsequenzen) behauptet, die Tschetschenen
könnten ja, sollten — als Russen betrachtet werden.
Ein Jahr vor dem Ende der Sowjetunion beklagte sich ein russischer Nationalist,
einer der wenigen, die das Ende kommen sahen, bitter und verzweifelt:
»Wenn das schreckliche Desaster das für das russische Volk undenkbar ist, doch
eintritt und der Staat auseinander gerissen wird und das Volk, von seiner
tausendjährigen Geschichte getäuscht, plötzlich alleine dasteht, weil
diejenigen, die bis vor kurzem seine Brüder waren, das sinkende Schiff verlassen
haben und mitsamt ihren Habseligkeiten in ihre nationalen Rettungsboote
verschwunden sind — tja, wo sollen wir denn hin? nirgendwo...
Russische Eigenstaatlichkeit, die der politische, ökonomische und geistige
Ausdruck der russischen Idee ist, wird aufs neue entstehen. Sie wird das Beste
aus ihren tausend Jahren Reichsgeschichte und den im Nu vergangenen siebzig
Jahren Sowjetgeschichte zusammenraffen.«13
13 Alexander Prochanow, „Tragedy of Centralism“, Literaturnaja Rossija, Januar
1990, S. 4-5.
Aber wie? Die historische Krise des russischen Staates hat die Schwierigkeit,
eine für das russische Volk akzeptable Antwort zu formulieren, die dennoch
realistisch ist, noch selbst vergrößert. Fast seine ganze Geschichte hindurch
war dieser Staat gleichzeitig ein Werkzeug territorialer Expansion und
wirtschaftlicher Entwicklung. Es war außerdem ein Staat, der sich nicht als rein
nationales Instrument in der westeuropäischen Tradition verstand, sondern als
Vollstrecker einer besonderen supranationalen Mission, deren zugrunde liegende
russische Idee je nachdem religiös, geopolitisch oder ideologisch interpretiert
wurde. Als der Staat im wesentlichen auf das von Russen bevölkerte Gebiet
zusammenschrumpfte, hatte diese Mission plötzlich ausgedient. Verschärfend auf
die Krise, in die der russische Staat (sein Wesenskern sozusagen) nach dem Ende
der Sowjetunion stürzte, wirkte sich aus, daß Rußland sich plötzlich nicht nur
seines imperialen Sendungsbewußtseins beraubt sah, sondern zusätzlich von
innenpolitischen Modernisierern (und deren Beratern aus dem Westen) gedrängt
wurde, von seinem staatskapitalistischen Wirtschaftssystem Abschied zu nehmen,
um die zwischen seiner gesellschaftlichen Rückständigkeit und den
fortschrittlicheren Teilen Eurasiens gähnende Kluft zu überwinden. Dies
erforderte eine geradezu revolutionäre Beschränkung der internationalen und
innenpolitischen Rolle des russischen Staates. Es erschütterte selbst die
anerkanntesten Muster des russischen Lebens zutiefst und trug dazu bei, daß sich
innerhalb der politischen Elite ein Gefühl geopolitischer Desorientierung
ausbreitete und Uneinigkeit stiftete. Vor diesem verwirrenden Hintergrund löste
die Frage: Wohin gehört Rußland und was ist Rußland? — wie man sich denken kann
— alle möglichen Antworten aus. Rußlands Ausdehnung und Lage im Zentrum
Eurasiens bringen es mit sich, daß seine politische Führungsschicht schon seit
langem in geopolitischen Kategorien denkt. Der erste Außenminister des
postimperialen und postkommunistischen Rußlands, Andrej Kosyrew, bestätigte
diese Denkweise in einem seiner frühen Versuche, das Verhalten des neuen
Rußlands auf der internationalen Bühne zu bestimmen. Kaum einen Monat nach der
Auflösung der Sowjetunion bemerkte er: »Wir geben jeden Anspruch, die Menschheit
zu erlösen auf und nehmen Kurs auf Pragmatismus ... wir haben schnell begriffen,
daß Geopolitik ... an die Stelle der Ideologie tritt.«14
Generell kann man sagen, daß in Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion
drei umfassende und zum Teil sich überschneidende geostrategische Optionen
aufgetaucht sind, deren jede letztlich mit Rußlands Sorge um seinen Status
gegenüber den USA zusammenhängt und jeweils einige interne Varianten enthält.
Diese verschiedenen Denkschulen lassen sich wie folgt klassifizieren:
1. Jene, für die die vollentwickelte strategische Partnerschaft mit Amerika
Priorität hat, die einige ihrer Anhänger tatsächlich als Codewort für ein
globales Kondominat verstanden;
2. jene, für die Rußlands vorrangiges Anliegen, seine Beziehung zum nahen
Ausland sein muß, wobei einige für eine Form von wirtschaftlicher Integration
unter der Führung Moskaus eintreten, andere aber mit der schließlich doch
möglichen Wiederherstellung eines gewissen Maßes an imperialer Gewalt
liebäugeln, weil damit eine Macht entstünde, die Amerika und Europa besser
Paroli bieten könnte; und schließlich
3. jene, die ein Gegenbündnis anstrebt, also eine Art von eurasischer
Anti-USA-Koalition, die das Übergewicht der Vereinigten Staaten in Eurasien
verringern soll.
14 Interview in Rossijskaja Gaseta, 12. Januar 1992.
Obwohl die erste der genannten Optionen in Präsident Jelzins neuer
Regierungsmannschaft anfangs eindeutig den Vorrang genoß, rückte kurz darauf die
zweite in den Vordergrund; die dritte wurde etwas später, Mitte der neunziger
Jahre, in Reaktion auf das um sich greifende Gefühl laut, daß Rußlands
postsowjetische Geostrategie unklar und ein Fehlschlag war. Zufällig erwiesen
sich alle drei als historisch ungeschickt, beruhten sie doch auf ziemlich
trügerischen Einschätzungen der gegenwärtigen Macht Rußlands, seiner
internationalen Möglichkeiten und seiner außenpolitischen Interessen.
Jelzins anfängliche Haltung unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
gipfelte in der alten, aber nie ganz erfolgreichen Westler-Konzeption im
politischen Denken Rußlands, demzufolge Rußland zum Westen gehöre, Teil des
Westens sei und in der eigenen innenpolitischen Entwicklung den Westen so weit
wie möglich nachahmen solle. Jelzin und sein Außenminister traten für diese
Auffassung ein und der Präsident brandmarkte ganz explizit Rußlands imperiales
Erbe. In einer Rede am 19. Dezember 1990 in Kiew äußerte er in Worten, die die
Ukrainer und Tschetschenen später gegen ihn verwenden sollten, eloquent:
»Rußland strebt nicht danach, der Mittelpunkt eines neuen Reiches zu werden ...
Besser als andere weiß Rußland um die Schädlichkeit einer solchen Rolle, weil es
diese Rolle ja lange Zeit gespielt hat. Was hatte es davon? Sind die Russen etwa
dadurch freiere Menschen geworden? Wohlhabender? Glücklicher? ... Die Geschichte
hat uns gelehrt, daß einem Volk, das über andere herrscht, kein Glück beschieden
sein kann.«
Die bewußt freundliche Haltung, die der Westen, insbesondere die Vereinigten
Staaten, gegenüber der neuen russischen Führung einnahm, war für die
postsowjetischen Westler im russischen Außenministerium eine Quelle der
Ermutigung. Sie bestärkte sie in ihren proamerikanischen Neigungen und verdrehte
ihren Verfechtern den Kopf. Die neuen Führer fühlten sich geschmeichelt, mit den
politischen Repräsentanten der einzigen Supermacht der Welt auf du und du zu
stehen, und gaben sich unkritisch der Selbsttäuschung hin, ebenfalls an der
Spitze einer Supermacht zu stehen. Als die Amerikaner das Schlagwort von der
vollentwickelten strategischen Partnerschaft zwischen Washington und Moskau in
die Welt setzten, schien es den Russen, als sei damit ein neues demokratisches
amerikanisch-russisches Kondominat — an Stelle des vormaligen Konkurrenzkampfes
— sanktioniert worden.
Da dieses Kondominium von seinem Geltungsbereich her global wäre, würde Rußland
zum Rechtsnachfolger der früheren Sowjetunion und zum de-facto-Partner in einer
globalen Übereinkunft, die auf echter Gleichberechtigung beruhte. Wie die neuen
russischen Machthaber nie müde wurden zu behaupten, hätte das bedeutet, daß die
übrige Welt Rußland als Amerika ebenbürtig anerkennen solle, und darüber hinaus,
daß kein globales Problem ohne Rußlands Beteiligung und/oder Erlaubnis angepackt
oder gelöst werden könne. Obwohl sie nicht offen ausgesprochen wurde, nährte
diese Illusion die Vorstellung, daß Mitteleuropa irgendwie eine Region von
besonderer politischer Nähe zu Rußland bliebe oder sogar bleiben wollte. Die
Auflösung des Warschauer Pakts und des Comecon hätte, so dachte man, keine
Hinwendung ihrer früheren Mitglieder zur NATO, ja nicht einmal zur EU zur Folge.
In der Zwischenzeit würde die russische Regierung dank westlicher Hilfe in die
Lage versetzt, innere Reformen in Angriff zu nehmen, im Zuge derer sich der
Staat aus dem Wirtschaftsleben zurückzöge und die Konsolidierung demokratischer
Institutionen zuließe. Rußlands wirtschaftliche Erholung, sein besonderer Status
als gleichberechtigter Partner Amerikas und seine Attraktivität würden die vor
kurzem unabhängig gewordenen GUS Staaten — dankbar, daß das neue Rußland sie
nicht bedrohte, und sich der Vorteile einer Art Union mit Rußland zunehmend
bewußt — zur Beteiligung an einer immer engeren wirtschaftlichen und allmählich
auch politischen Integration mit Rußland ermutigen, die wiederum Rußlands
Geltungsbereich und Macht vergrößerten.
Problematisch an diesem Ansatz war, daß er auf einer völlig unrealistischen
Einschätzung sowohl der internationalen als auch der innenpolitischen Lage
Rußlands beruhte. Die Vorstellung von einer vollentwickelten strategischen
Partnerschaft war ebenso schmeichelhaft wie irreführend. Amerika verspürte
keinerlei Neigung, seine Weltmacht mit Rußland zu teilen, es wäre auch völlig
unrealistisch gewesen. Das neue Rußland war einfach zu schwach, seine Wirtschaft
in einem dreiviertel Jahrhundert kommunistischer Herrschaft zu heruntergekommen
und das Land gesellschaftlich zu rückständig, um ein wirklicher Partner im
globalen Maßstab zu sein. In den Augen der amerikanischen Führung waren
Deutschland, Japan und China mindestens ebenso wichtig und einflußreich.
Überdies gingen in einigen der für die Vereinigten Staaten aus nationalem
Interesse zentralen geostrategischen Fragen — in Europa, dem Nahen Osten und in
Fernost — die amerikanischen und russischen Bestrebungen keineswegs in die
gleiche Richtung. Nachdem dann, ganz unvermeidlich, die ersten Differenzen
aufgetreten waren, mußte die vollentwickelte strategische Partnerschaft
angesichts des zwischen den USA und Rußland bestehenden Ungleichgewichts in
politischer Macht, Finanzkraft, technologischem Innovationspotential und
kultureller Attraktion hohl erscheinen — und bei immer mehr Russen verstärkte
sich der Eindruck, als sei diese Formel bewußt dazu bestimmt, Rußland hinters
Licht zu führen.
Vielleicht hätte die Enttäuschung abgewendet werden können, wenn sich Amerika
schon früher — während der amerikanisch russischen Flitterwochen sozusagen — den
Plan einer NATOErweiterung zu eigen gemacht und Rußland gleichzeitig einen Deal
angeboten hätte, den es nicht hätte ablehnen können, nämlich ein besonderes
Kooperationsverhältnis zwischen Rußland und der NATO. Wären die Amerikaner von
vornherein klar und entschieden für eine Erweiterung des Bündnisses eingetreten
unter der Bedingung, daß Rußland in irgendeiner Form in den Prozeß mit
eingebunden werden sollte, dann hätte die spätere Enttäuschung Moskaus über die
vollentwickelte strategische Partnerschaft möglicherweise ebenso vermieden
werden können wie die fortschreitende Schwächung des prowestlichen Lagers im
Kreml.
Der richtige Zeitpunkt dafür wäre im zweiten Halbjahr 1993 gewesen, unmittelbar
nachdem Jelzin im August Polens Interesse an einem Beitritt zur
transatlantischen Allianz als mit den Interessen Rußlands vereinbar gebilligt
hatte. Statt dessen verfolgte die Clinton-Administration unverdrossen ihre
Rußland-geht-vor-Politik, die sich noch weitere zwei Jahre dahinquälte, in denen
der Kreml seine Meinung änderte und gegenüber den inzwischen auftauchenden vagen
Hinweisen auf die von den USA beabsichtigte NATO-Erweiterung eine zunehmend
feindliche Haltung einnahm. Als Washington 1996 endlich beschloß, der NATO
Erweiterung in seiner auf die Gestaltung einer größeren und sichereren
euroatlantischen Gemeinschaft abzielenden Politik Priorität einzuräumen, hatten
sich die Russen bereits in eine starre Opposition verrannt. Folglich könnte man
1993 als das Jahr einer verpaßten historischen Chance ansehen.
Wie man zugeben muß, waren nicht alle russischen Bedenken gegen eine
NATO-Erweiterung aus der Luft gegriffen oder böswilliger Natur. Einige Gegner,
besonders im russischen Militär, verharrten in der vom Kalten Krieg geprägten
Einstellung und sahen in der NATO-Erweiterung keinen wesentlichen Bestandteil
eines größer werdenden Europa, sondern vielmehr das Vorrücken einer von Amerika
geführten, immer noch feindlichen Allianz gegen Rußland. Manche Vertreter des
russischen Außenministeriums — die meisten von ihnen frühere Kader — hielten an
der langjährigen geostrategischen Überzeugung fest, daß Amerika in Eurasien
nichts zu suchen habe und die NATO-Erweiterung weitgehend auf den Wunsch der
Amerikaner zurückgehe, ihre Einflußsphäre zu vergrößern. Zum Teil speiste sich
ihr Widerstand auch aus der Hoffnung, ein neutrales Mitteleuropa werde eines
Tages in den geopolitischen Einflußbereich Moskaus zurückkehren, wenn Rußland
wirtschaftlich wieder auf die Beine gekommen sei.
Hingegen fürchteten viele russische Demokraten, daß Rußland durch die Ausdehnung
der NATO von Europa ausgeschlossen und politisch geächtet bleibe und einer
Mitgliedschaft im institutionellen Rahmen europäischer Zivilisation für unwürdig
erachtet werde. Ein Gefühl kultureller Unterlegenheit verstärkte die politischen
Ängste und ließ die NATO Erweiterung als Kulminationspunkt einer seit langem vom
Westen betriebenen Politik der Isolierung Rußlands erscheinen, das schließlich
ganz allein dastehen und seinen verschiedenen Feinden wehrlos ausgeliefert sein
werde. Überdies begriffen nicht einmal die demokratischen Kreise Rußlands, wie
tief bei den Mitteleuropäern der Unmut über ein halbes Jahrhundert Moskauer
Vorherrschaft saß und wie sehr sie Teil eines größeren euroatlantischen Systems
werden wollten.
Alles in allem betrachtet, hätte wahrscheinlich weder die Enttäuschung noch die
Schwächung des prowestlichen Lagers vermieden werden können. Die in sich
gespaltene neue russische Elite mit einem Präsidenten und einem Außenminister an
der Spitze, von denen keiner eine in sich stimmige geostrategische Führung
darzubieten vermochte, war weder in der Lage, klar zu definieren, was Rußland in
Europa wollte, noch imstande, das Ausmaß der Misere Rußlands realistisch
einzuschätzen. Moskaus politisch so kampfbereite Demokraten konnten sich nicht
zu der Aussage durchringen, daß ein demokratisches Rußland nichts gegen die
Erweiterung der demokratischen transatlantischen Gemeinschaft einzuwenden habe
und sich ihr anschließen wolle. Verblendet von dem Wahn, mit den USA den Status
als Weltmacht zu teilen, konnte sich die politische Elite Moskaus nur schwer mit
der Tatsache abfinden, daß Rußland sowohl im Gebiet der einstigen Sowjetunion
selbst als auch im Hinblick auf die früheren Satellitenstaaten in Mitteleuropa
keine privilegierte geopolitische Position mehr einnahm.
Diese Entwicklungen spielten den Nationalisten, die 1994 die Sprache wieder zu
finden begannen, ebenso in die Hände wie den Militaristen, die mittlerweile
Jelzins wichtigste innenpolitische Stützen geworden waren. Ihre zunehmend
schrillen und gelegentlich drohenden Töne gegenüber den mitteleuropäischen
Ländern bestärkten die früheren Satellitenstaaten nur um so mehr in ihrer
Entschlossenheit, den sicheren Hafen der NATO zu erreichen.
Die Weigerung des Kremls, sich von allen Eroberungen Stalins loszusagen,
vertiefte die Kluft zwischen Washington und Moskau weiter. Die öffentliche
Meinung des Westens, vor allem in Skandinavien, aber auch in den Vereinigten
Staaten war besonders über die zwiespältige Haltung Rußlands gegenüber den
baltischen Republiken beunruhigt. Selbst demokratische Führungspersönlichkeiten,
die die Unabhängigkeit dieser Länder anerkannten und nicht auf eine
Mitgliedschaft in der GUS drängten, verlegten sich wiederholt auf Drohungen, um
den russischen Bevölkerungsgruppen, die in der Stalin-Ära bewußt in diesen
Ländern angesiedelt worden waren, eine Vorzugsbehandlung zu verschaffen. Eine
weitere Verschlechterung erfuhr die Atmosphäre, als Moskau sich ostentativ
weigerte, das geheime Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939, das der
gewaltsamen Eingliederung dieser Republiken in die Sowjetunion den Weg geebnet
hatte, für null und nichtig zu erklären. Noch fünf Jahre nach dem Zusammenbruch
der UdSSR bestanden Kreml-Sprecher (in einer offiziellen Erklärung vom 10.
September 1996) darauf, daß sich die baltischen Staaten im Jahr 1940 freiwillig
der Sowjetunion »angeschlossen« hätten.
Die postsowjetischen Machthaber hatten anscheinend auch damit gerechnet, daß der
Westen Rußland dabei behilflich sein werde, sich im Raum der früheren UdSSR
wieder als bestimmende Kraft zu etablieren, oder es zumindest nicht daran
hindern würde. Daher nahmen sie es dem Westen übel, daß er bereit war, die nun
unabhängigen postsowjetischen Staaten bei der Konsolidierung ihrer
Eigenstaatlichkeit zu unterstützen. Im Gegenzug zu ihrer Warnung vor einer
Konfrontation mit den Vereinigten Staaten behaupteten ranghohe Analytiker der
amerikanischen Außenpolitik (nicht ganz zu Unrecht), daß die USA in ganz
Eurasien eine Reorganisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen anstreben ...
wobei es aber auf dem Kontinent keine einzige führende Macht, sondern viele
mittlere, relativ stabile und mäßig starke gäbe, die aber als einzelne oder im
Kollektiv den Vereinigten Staaten zwangsläufig unterlegen seien.15
15 A. Bogaturow und W. Kremenjuk (beide Hochschullehrer am AmerikaKanada
Institut der Akademie der Wissenschaften), in: „The Americans Themselves Will
Never Stop“, Nesawissimaja Gaseta, 28. Juni 1996.
Von entscheidender Bedeutung war in dieser Hinsicht die Ukraine. In der seit
spätestens 1994 zunehmenden Tendenz der USA, den amerikanisch-ukrainischen
Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale
Freiheit bewahren zu helfen, erblickten viele in Moskau — sogar die so genannten
Westler — eine gegen das vitale russische Interesse gerichtete Politik, die
Ukraine schließlich wieder in den Schoß der Gemeinschaft zurückzuholen. daß sich
die Ukraine eines Tages irgendwie reintegrieren lasse, gehört nach wie vor zum
Credo vieler Mitglieder der russischen Politelite.16 Der Zusammenprall war
unvermeidbar: der Umstand, daß Rußland die Souveränität der Ukraine aus
geopolitischen und historischen Gründen in Frage stellte, stand gegen die
amerikanische Überzeugung, daß ein imperialistisches Rußland kein demokratisches
Rußland sein könne.
Zudem gab es rein innenpolitische Gründe dafür, daß sich eine vollentwickelte
strategische Partnerschaft zwischen zwei Demokratien als Illusion erwies.
Rußland war einfach zu rückständig und durch den Kommunismus zu
heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der
Vereinigten Staaten zu sein. Über dieses Kernproblem konnte auch keine
vollmundige Partnerschaftsrhetorik hinwegtäuschen. Auch hatte das
postsowjetische Rußland nur zum Teil mit seiner Vergangenheit gebrochen. Fast
alle seine demokratischen Politiker — selbst die von der sowjetischen
Vergangenheit gründlich desillusionierten — waren nicht nur das Produkt des
Sowjetsystems, sondern hochrangige Mitglieder seiner Herrschaftselite gewesen.
Sie kamen nicht wie in Polen oder der Tschechischen Republik aus
Dissidentenkreisen. Die wichtigsten Institutionen der Sowjetunion bestanden —
wenn auch geschwächt, demoralisiert und korrumpiert — fort. Das Lenin-Mausoleum,
noch immer das historische Kernstück Moskaus, ist ein Sinnbild für den
anhaltenden Einfluß der kommunistischen Vergangenheit. Man stelle sich vor
Deutschland wäre nach dem Ende des Nationalsozialismus von ehemaligen
Gauleitern, die sich demokratischer Schlagworte befleißigten, regiert worden,
und mitten in Berlin hätte ein Hitler-Denkmal gestanden!
16 So wurde z.B. sogar Jelzins Spitzenberater, Dmitrij Rjurikow, von Interfax
(20. November 1996) dergestalt zitiert, daß er die Ukraine, für „ein
vorübergehendes Phänomen halte“, während Moskaus Obschtschaja Gaseta (10.
Dezember 1996) berichtete, daß „in absehbarer Zeit Ereignisse in der östlichen
Ukraine Moskau mit einem sehr schwierigen Problem konfrontieren könnten.
Massenproteste aus Unzufriedenheit werden mit Appellen oder sogar Bitten an
Rußland, die Region zu übernehmen, einhergehen“. Recht wenige Leute in Moskau
waren bereit, solche Vorhaben zu unterstützen. Die Forderungen Moskaus nach der
Krim und Sewastopol haben die Bedenken des Westens wegen der russischen
Absichten genauso wenig beschwichtigt wie provokative Aktionen wie die bewußte
Einbeziehung von Sewastopol in die allabendlichen Wetterberichte des
öffentlichen russischen Fernsehens für russische Städte Ende 1996.
Die wirtschaftliche Misere des Landes belastete die politisch schwache neue
demokratische Regierung zusätzlich. Das Bedürfnis nach durchgreifenden Reformen
— dem Rückzug des russischen Staates aus dem Wirtschaftsleben — rief überzogene
Erwartungen an westliche, vor allem amerikanische Hilfe hervor. Obwohl diese
Hilfe, besonders von seiten Deutschlands und der USA, immer größere Ausmaße
annahm, konnte sie selbst unter günstigsten Bedingungen keine schnelle
wirtschaftliche Erholung bewirken. Die damit einhergehende soziale
Unzufriedenheit war Wasser auf die Mühlen der enttäuschten Kritiker, die
behaupteten, daß die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten eine Farce sei,
allein den Amerikanern nütze und Rußland schade.
Kurzum, in den Jahren, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgten,
bestanden weder die subjektiven noch die objektiven Bedingungen für eine
effektive globale Partnerschaft. Die demokratischen Westler wollten einfach zu
viel und konnten zu wenig in die Waagschale werfen.
Sie wünschten sich eine gleichberechtigte Partnerschaft oder, besser gesagt, ein
Kondominat mit Amerika, relativ freie Hand innerhalb der GUS und ein
geopolitisches Niemandsland in Mitteleuropa. Doch ihre ambivalente Einstellung
zur sowjetischen Vergangenheit, ihre unrealistischen Weltmachtsphantasien, die
schwere Wirtschaftskrise und die mangelnde Unterstützung in weiten Kreisen der
Gesellschaft hatten zur Folge, daß sie das stabile und wirklich demokratische
Rußland nicht vorweisen konnten, von dem die Konzeption einer gleichberechtigten
Partnerschaft stillschweigend ausgegangen war. Bevor Rußland nicht einen
langwierigen Prozeß politischer Reformen, einen ebenso langwierigen Prozeß
demokratischer Stabilisierung und einen noch längeren Prozeß sozioökonomischer
Modernisierung durchmachte und damit einhergehend einen Gesinnungswandel
hinsichtlich der neuen politischen Gegebenheiten nicht nur in Mitteleuropa,
sondern vor allem auch in dem vormaligen Russischen Reich vollzog, konnte eine
echte Partnerschaft mit Amerika keine taugliche geopolitische Option werden.
Unter diesen Umständen überrascht es nicht, daß die Hauptkritik an der
prowestlichen Orientierung aus den Kreisen kam, die in der vorrangigen
Konzentration auf das nahe Ausland schon frühzeitig eine außenpolitische
Alternative sahen.
Ihr lag die These zugrunde, daß die Partnerschafts-Konzeption ignoriere, was für
Rußland am wichtigsten sein sollte, nämlich seine Beziehungen zu den früheren
Sowjetrepubliken.
Die Kurzformel »nahes Ausland« stand somit für eine politische Richtung, der es
in erster Linie darum ging, in dem einst von der Sowjetunion eingenommenen
geopolitischen Raum wieder irgendeine Art von Staatenbund mit Moskau als Zentrum
der Entscheidungsfindung aufzubauen. Unter dieser Prämisse bestand breite
Übereinstimmung darüber, daß eine sich auf den Westen, speziell auf Amerika,
konzentrierende Politik wenig eintrage und zuviel koste. Sie erleichtere es dem
Westen nur, so wurde argumentiert, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion
entstandenen Möglichkeiten auszunutzen.
Diese Denkrichtung bot jedoch ganz verschiedenen geopolitischen Vorstellungen
Raum. Sie vereinigte neben den ökonomischen Funktionalisten und Deterministen
(einschließlich einiger »Westler«, die glaubten, die GUS könnte sich zu einer
von Moskau gelenkten Version der EU entwickeln) auch andere, die in der
wirtschaftlichen Integration eines von mehreren Werkzeugen imperialer
Restauration erblickten, die entweder unter dem Dach der GUS oder durch
spezielle (1996 getroffene) Vereinbarungen zwischen Rußland und Weißrußland oder
Rußland, Weißrußland und Kirgistan wirksam werden könnten. Ebenfalls dazu
gehörten slawophile Romantiker, die für eine aus Rußland, der Ukraine und
Weißrußland bestehende Slawische Union eintraten, und schließlich noch die
Verfechter eines etwas mystischen Eurasianismus als der endgültigen Definition
der bleibenden historischen Mission Rußlands.
Auf einen knappen Nenner gebracht, verbirgt sich hinter der Priorität des »nahen
Auslands« die durchaus vernünftige Forderung, daß Rußland sich zuallererst auf
die Beziehungen zu den neuerdings unabhängigen Staaten konzentrieren müsse,
zumal diese allesamt dank einer Sowjetpolitik, die die ökonomischen
Abhängigkeiten unter ihnen gefördert hatte, nach wie vor an Rußland gebunden
sind. Sie war sowohl ökonomisch als auch geopolitisch sinnvoll. Der gemeinsame
Wirtschaftsraum von dem die neuen russischen Führer so oft sprachen, war ein
Faktum, über das die Führer der jetzt unabhängigen Staaten nicht einfach
hinwegsehen konnten. Zusammenarbeit und sogar eine gewisse Integration waren
eine ökonomische Notwendigkeit. So erschien es denn nicht nur normal, sondern
auch geboten, gemeinsame GUS-Institutionen voranzubringen, um die durch den
politischen Zerfall der Sowjetunion ausgelösten Störungen und
Auflösungserscheinungen auf wirtschaftlichem Gebiet in den Griff zu bekommen.
In den Augen mancher Russen war daher die Förderung wirtschaftlicher Integration
eine zweckmäßige, wirkungsvolle und politisch verantwortungsbewußte Reaktion.
Oft stellte man im Zusammenhang mit der postsowjetischen Situation eine Analogie
zur EU her. Eine Wiederherstellung des Imperiums wurde von den gemäßigteren
Verfechtern einer wirtschaftlichen Integration ausdrücklich abgelehnt.
So trat beispielsweise ein einflußreicher Bericht mit dem Titel »Eine Strategie
für Rußland«, den der Rat für Außen- und Verteidigungspolitik, eine Gruppe
prominenter Persönlichkeiten und Regierungsbeamter, bereits im August 1992
herausgegeben hatte, sehr pointiert für eine postimperiale, aufgeklärte
Integration als dem geeigneten Programm für den postsowjetischen gemeinsamen
Wirtschaftsraum ein.
Die Betonung des nahen Auslands war jedoch nicht bloß eine politisch
segensreiche Doktrin regionaler Wirtschaftskooperation. Ihr geopolitischer
Inhalt hatte imperiale Untertöne. Selbst der relativ moderate Bericht von 1992
sprach von einem genesenen Rußland, das schließlich eine strategische
Partnerschaft mit dem Westen eingehen würde, in der Rußland die Regelung der
Angelegenheiten in Osteuropa, Zentralasien und im Fernen Osten zufallen sollte.
Andere Befürworter dieser Priorität waren unverfrorener, sie sprachen
ausdrücklich von Rußlands einzigartiger Rolle im postsowjetischen Raum und
beschuldigten den Westen, eine antirussische Politik zu betreiben, weil er der
Ukraine und den anderen nunmehr unabhängigen Staaten Hilfe zuteil werden lasse.
Ein typisches, aber keineswegs extremes Beispiel war die These, die J.
Ambartsumow, der Vorsitzende des außenpolitischen Parlamentsausschusses und
frühere Anwalt, einer Priorität der Partnerschaft 1993 aufstellte: Offen
behauptete er, das Gebiet der früheren Sowjetunion sei die geopolitische
Einflußsphäre Rußlands, in der kein anderer Staat etwas zu suchen habe. Im
Januar 1994 schlug der bis dahin energische Verfechter einer prowestlichen
Option, Rußlands Außenminister Andrej Kosyrew dieselben Töne an, als er
erklärte, Rußland müsse seine militärische Präsenz in den Regionen erhalten, die
seit Jahrhunderten sein Interessensgebiet gewesen sind. Und am 8. April 1994
berichtete die Iswestija, Rußland habe nicht weniger als 28 Militärbasen auf dem
Boden der neuen unabhängigen Staaten beibehalten können — und verbände man auf
der Landkarte die russischen Militärstützpunkte in Kaliningrad, Moldawien, auf
der Krim, in Armenien, Tadschikistan und auf den Kurilen untereinander mit einer
Linie, so ergäben sich ungefähr die Außengrenzen der früheren Sowjetunion, wie
die Karte auf Seite 159 zeigt. Im September 1995 gab Präsident Jelzin ein
Kommunique über die russische Politik gegenüber der GUS heraus, das Rußlands
Ziele wie folgt festlegte:
»Hauptziel der Politik Rußlands gegenüber der GUS ist es, einen wirtschaftlich
und politisch integrierten Staatenbund zu schaffen, der in der Lage ist, seinen
angestammten Platz in der Weltgemeinschaft zu behaupten ..., um Rußland als die
führende Kraft in dem Gefüge neuer zwischenstaatlicher politischer und
wirtschaftlicher Beziehungen auf dem Territorium der früheren Sowjetunion zu
konsolidieren.«
Man beachte den Nachdruck, der auf den politischen Aspekt des Bemühens, auf die
darin erwähnte Körperschaft gelegt wird, die ihren Platz in der Weltgemeinschaft
behauptet, und auf Rußlands dominierende Rolle innerhalb dieser neuen
Körperschaft. Ganz in diesem Sinne bestand Moskau darauf, daß auch die
politischen und militärischen Beziehungen zwischen Rußland und der vor kurzem
ins Leben gerufenen GUS verstärkt würden: daß ein militärisches Oberkommando
geschaffen werde; daß die Streitkräfte der GUS-Staaten durch einen formellen
Vertrag verbunden würden; daß die Außengrenzen der GUS zentraler (sprich:
Moskauer) Kontrolle unterworfen werden; daß russische Streitkräfte bei jedweden
friedenserhaltenden Maßnahmen innerhalb der GUS die entscheidende Rolle spielen
sollten und daß die GUS eine gemeinsame Außenpolitik entwerfen sollte, deren
wichtigste Institutionen in Moskau anzusiedeln seien (und nicht Minsk, wie 1991
ursprünglich vereinbart), wobei der russische Präsident den Vorsitz bei den
GUS-Gipfeltreffen innehaben sollte.
Das war noch nicht alles. Das Dokument vom September 1995 gab außerdem bekannt,
daß:
»die Ausstrahlung russischer Radio- und Fernsehsendungen im nahen Ausland
garantiert, die Verbreitung der russischen Presse in der Region unterstützt und
die nationalen Kader für die GUS von Rußland trainiert werden sollten.
Besonderes Augenmerk sollte darauf gerichtet werden, die Position Rußlands als
wichtigstes Ausbildungszentrum auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion wieder
her zu stellen, und dabei stets darauf zu achten, daß die junge Generation in
den GUS Staaten im Geiste freundlicher Beziehungen zu Rußland erzogen werden.«
Die russische Duma ging Anfang 1996 sogar so weit, die Auflösung der Sowjetunion
für ungültig zu erklären. Im Frühjahr desselben Jahres unterzeichnete Rußland
zwei Abkommen für eine engere wirtschaftliche und politische Integration
Rußlands mit den bereitwilligeren GUS-Staaten.
Das eine, mit großem Pomp und Trara unterzeichnete Abkommen stellte im Effekt
eine Union zwischen Rußland und Weißrußland innerhalb einer neuen Gemeinschaft
Souveräner Republiken sicher (die russische Abkürzung SSR erinnerte ostentativ
an das SSR der Sowjetunion), und die andere, von Rußland, Kasachstan,
Weißrußland und Kirgistan unterzeichnete Übereinkunft postulierte langfristig
die Schaffung einer Gemeinschaft integrierter Staaten. Beide Initiativen
deuteten darauf hin, daß Rußland der Integrationsprozeß innerhalb der GUS zu
langsam voranging und es entschlossen war, ihn unverdrossen voranzutreiben.
Dem Nachdruck, mit dem auf eine Verbesserung der zentralen Mechanismen der GUS
hingearbeitet wurde, lagen also durchaus objektive wirtschaftliche Gegebenheiten
zugrunde, doch war eine starke Dosis subjektiver imperialer Entschlossenheit
darin unverkennbar. Keine der beiden Komponenten aber lieferte eine
philosophischere oder auch nur geopolitische Antwort auf die quälende Frage: Was
ist Rußland, worin besteht seine wahre Mission und sein rechtmäßiger
Geltungsbereich?
Genau dieses Vakuum versuchte der ebenfalls auf das nahe Ausland konzentrierte
Eurasianismus auszufüllen, der immer mehr Anklang fand. Diese eher
kulturphilosophische, ja sogar mystisch gefärbte Gruppierung ging von der
Prämisse aus, Rußland sei geopolitisch und kulturell weder so recht ein
europäisches noch ein asiatisches Land, und postulierte für es eine eigene,
eurasische Identität. Diese Identität besteht in dem Vermächtnis der glorreichen
Vergangenheit Rußlands, das einst über die riesige Landmasse zwischen
Mitteleuropa und den Küsten des Stillen Ozeans gebot, dem Vermächtnis eines
Reiches, das Moskau durch permanente Expansion nach Osten in vier Jahrhunderten
zusammengeschmiedet hatte.Im Zuge dieser Expansion wurden viele nichtrussische
und nichteuropäische Völker Rußland assimiliert sowie politisch und kulturell
die Grundlagen für einen einzigartigen eurasischen Menschenschlag geschaffen.
Der Eurasianismus als Weltanschauung entstand nicht erst in der postsowjetischen
Ära. Zum ersten Mal machte er im 19. Jahrhundert von sich reden, gewann aber im
20. Jahrhundert als eine klare Alternative zum Sowjetkommunismus und als
Reaktion auf die angebliche Dekadenz des Westens an Einfluß. Russische
Emigranten propagierten diese Lehre besonders aktiv als eine Alternative zur
Sowjetideologie, da sie begriffen, daß das nationale Erwachen der
nichtrussischen Bevölkerung innerhalb der Sowjetunion einer übergreifenden,
transnationalen Doktrin bedurfte, damit nicht der etwaige Untergang des
Kommunismus zur Auflösung des alten Großrussischen Reiches führe.
Bereits Mitte der zwanziger Jahre hatte diesen Standpunkt Prinz N.S. Trubetzkoi,
ein führender Vertreter des Eurasianismus, überzeugend dargelegt:
» Mit seiner Zerstörung der geistigen Grundlagen und der nationalen
Einzigartigkeit des russischen Lebens, der Verbreitung der materialistischen
Weltanschauung, die ja Europa wie auch Amerika tatsächlich schon beherrscht, war
der Kommunismus in Wirklichkeit eine verschleierte Version des Europäismus...
Unsere Aufgabe ist es, eine völlig neue Kultur zu schaffen, unsere eigene
Kultur, die der europäischen Zivilisation nicht gleichen wird ... wenn Rußland
kein Abklatsch europäischer Kultur mehr ist ... wenn es endlich wieder zu sich
selbst findet: Rußland-Eurasien, das sich als Erbe Dschingis Khans versteht und
sich seines großen Vermächtnisses bewußt ist.«17
Diese Botschaft fand in der allgemeinen Verwirrung nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion willige Ohren. Auf der einen Seite wurde der Kommunismus als Verrat
am russischorthodoxen Glauben und der besonderen, mystischen russischen Idee
verdammt, und auf der anderen Seite lehnte man Verwestlichungstendenzen ab, weil
der Westen, vor allem Amerika, als korrupt, der russischen Kultur abträglich und
gewillt galt, Rußlands historisch gewachsenen und geographisch verwurzelten
Anspruch auf alleinige Verfügungsgewalt über die eurasische Landmasse in Abrede
zu stellen.
Einen akademischen Anstrich erhielt der Eurasianismus in den viel zitierten
Werken des Historikers, Geographen und Ethnographen Lew Gumilew, dessen Bücher
Das Mittelalterliche Rußland und Die Große Steppe und Ethnographie in
historischer Zeit nachdrücklich für die These eintraten, daß Eurasien der
natürliche geographische Schauplatz für den besonderen Ethnos der russischen
Bevölkerung sei, das Ergebnis einer historischen Symbiose zwischen Russen und
den nichtrussischen Steppenbewohnern, die eine kulturell und geistig
einzigartige eurasische Identität geschaffen habe. Gumilew gab zu bedenken, daß
eine Anpassung an den Westen für das russische Volk geradezu den Verlust seines
Volkstums und seiner Seele bedeuten würde.
17 N. S. Trubetzkoi, „The Legacy of Gengis Khan“, Cross Currents 9 (1990) : 68.
Diese Ansichten fanden bei einer Vielzahl nationalistischer Politiker Rußlands
ein, wenn auch primitiveres, Echo. Jelzins früherer Vizepräsident Alexander
Rutzkoj behauptete beispielsweise, daß Rußland auf Grund seiner geopolitischen
Lage die einzige Brücke zwischen Asien und Europa darstellt. Wer auch immer
diesen Raum beherrscht, wird der Herr der Welt werden.18 Trotz seines
marxistisch-leninistischen Hintergrunds betonte Jelzins kommunistischer
Herausforderer bei der Wahl 1996, Gennadij Sjuganow, ganz im Sinne des
mystischen Eurasianismus, die besondere geistige und missionarische Rolle des
russischen Volkes in den riesigen Weiten Eurasiens und ließ erkennen, daß
Rußland aufgrund seiner Kultur und seiner günstigen geographischen Basis
geradezu prädestiniert sei, weltweit als Führungsmacht aufzutreten.
Eine etwas nüchterne und pragmatischere Version brachte der Regierungschef von
Kasachstan, Nursultan Nazerbajew, vor. Da er es zu Hause einem Anteil russischer
Siedler zu tun hat, die dem der einheimischen Bevölkerung zahlenmäßig in etwa
entspricht, und nach einem Rezept suchte den Druck Moskaus auf politische
Integration etwas abzuschwächen, propagierte Nazerbajew den Plan einer
eurasischen Union als Alternative zu der gesichts- und wirkungslosen GUS.
Wenn seine Version auch der mystische Inhalt der traditionelleren eurasianischen
Lehre fehlte und sie gewiß keine spezielle missionarische Rolle für die Russen
als Führer Eurasiens postulierte, so beruht sie doch auf der Idee, daß Eurasien
— geographisch etwa dem Raum der Sowjetunion entsprechend — ein organisches
Ganzes bilde, dem auch eine politische Dimension gebühre.
18 Interview mit L'espresso (Rom) 15. Juli 1994.
Das Bemühen, dem nahen Ausland die höchste Priorität im geopolitischen Denken
Rußlands einzuräumen, war bis zu einem gewissen Grad insofern gerechtfertigt,
als ein Mindestmaß an Ordnung und Übereinkunft zwischen dem postimperialen
Rußland und den neuerdings unabhängigen Staaten sicherheitspolitisch und
ökonomisch geboten ist. einen surrealistischen Zug erhielt die Diskussion jedoch
durch die unausrottbare Vorstellung, daß eine irgendwie geartete politische
Integration des früheren Imperiums erstrebenswert und auch machbar sei,
gleichgültig, ob nun freiwillig (aus wirtschaftlichen Gründen) zustande käme
oder auf Druck eines wiedererstarkten russischen Staates- ganz zu schweigen von
dessen besonderem eurasischen oder slawischen Sendungsauftrag.
In dessen Hinsicht vernachlässigt der häufig beschworene Vergleich mit der EU
einen ganz wesentlichen Unterschied: selbst unter Berücksichtigung des
besonderen Einflusses Deutschlands, wird die EU nicht von einer einzelnen Macht
dominiert, die alle übrigen Mitglieder zusammengenommen, bezogen auf das
Bruttosozialprodukt, die Bevölkerungszahl oder die territoriale Ausdehnung in
den Schatten stellt.
Auch ist die EU nicht der Nachfolgestaat eines frühren Imperiums, dessen
befreite Mitglieder von dem tiefen Mißtrauen durchdrungen, daß Integration ein
Codewort für erneute Unterordnung sein könnte.
Doch unabhängig davon kann man sich die Reaktion der europäischen Staaten
unschwer vorstellen, wenn Deutschland offiziell erklärt hätte, daß es seine
Führungsrolle in der EU gemäß dem oben zitierten russischen Statement vom
September 1995 zu festigen und auszubauen gedenke.
Der Vergleich mit der EU hinkt noch aus einem anderen Grund. Die offenen und
relativ hoch entwickelten westeuropäischen Volkswirtschaften waren für eine
demokratische Integration bereit, und die Mehrheit der Westeuropäer versprach
sich von einer solchen Integration handfeste wirtschaftliche und politische
Vorteile.
Die ärmeren westeuropäischen Länder profitierten außerdem von erheblichen
Subventionsleistungen. Dagegen sind die jetzt unabhängigen Staaten in Rußland
ein instabiles Staatswesen, das nach wie vor hegemoniale Ambitionen hegt, und
sie, in ökonomischer Hinsicht, auf ihrem Weg zur Weltwirtschaft und in ihrem
Zugang zu dringend benötigten ausländischen Investitionen behindert.
Besonders in der Ukraine stießen Moskaus Vorstellungen einer Integration auf
massive Opposition. Ihre politische Führung erkannte rasch, daß eine solche
Integration angesichts der russischen Vorbehalte gegen die Legitimität der
ukrainischen Unabhängigkeit am Ende womöglich zum Verlust nationaler
Souveränität führen könnte. Zudem hatte der ungeschickte Umgang Rußlands mit dem
neuen ukrainischen Staat — seine mangelnde Bereitschaft, dessen Grenzen
anzuerkennen, sein Bestreiten des ukrainischen Rechts auf die Krim, sein
Beharren auf der ausschließlich exterritorialen Kontrolle über den Hafen von
Sewastopol — dem neu erwachten ukrainischen Nationalismus eine unverkennbar
antirussische Schärfe verliehen. Während der kritischen Aufbauphase des neuen
Staates gewann die Ukraine ihr nationales Selbstverständnis daher nicht wie
früher aus ihrer antipolnischen und antirumänischen Orientierung, sondern
konzentrierte sich statt dessen auf den Widerstand gegen alle russischen
Vorschläge für eine stärker integrierte GUS, eine besondere slawische
Gemeinschaft (mit Rußland und Weißrußland) oder eine eurasische Union, die
allesamt als imperialistische Taktik der Russen gedeutet wurden.
Die Entschlossenheit der Ukraine, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren, erhielt
Unterstützung von außen. Obwohl der Westen, vor allem die Vereinigten Staaten,
die geopolitische Bedeutung eines souveränen ukrainischen Staates erst reichlich
spät erkannt hatte, waren um die Mitte der neunziger Jahre sowohl Amerika als
auch Deutschland zu eifrigen Förderern einer eigenständigen Identität Kiews
geworden.
Im Juli 1996 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister: Die Bedeutung der
unabhängigen Ukraine ist für die Sicherheit und Stabilität von ganz Europa nicht
zu überschätzen, und im September ging der deutsche Kanzler — ungeachtet seiner
starken Unterstützung für Boris Jelzin — sogar noch weiter mit der Versicherung,
daß der feste Platz der Ukraine in Europa von niemandem mehr in Frage gestellt
werden kann, und daß niemand, mehr der Ukraine ihre Unabhängigkeit und
territoriale Integrität streitig machen darf.
Auch amerikanische Politiker bezeichneten nun das amerikanisch-ukrainische
Verhältnis als eine strategische Partnerschaft und bedienten sich dabei bewußt
desselben Begriffs, mit dem sie die Beziehung der USA zu Rußland beschrieben
hatten. Wie bereits erwähnt, ist ohne die Ukraine eine imperiale Restauration,
sei es auf der Basis der GUS, sei es auf der einer paneurasischen Identität,
keine realistische Option.
Ohne die Ukraine würde ein russisches Reich asiatischer werden und sich weiter
von Europa entfernen. Überdies fühlten sich die jungen unabhängigen Staaten
Zentralasiens, von denen nur wenige auf eine neue Union mit Moskau erpicht
waren, von der Idee des Eurasianismus nicht sonderlich angesprochen.
Nachdrücklich unterstützte Usbekistan die von der Ukraine vorgebrachten Einwände
gegen eine Aufwertung der GUS zu einer supranationalen Einheit und den
Widerspruch gegen russische Initiativen zur Stärkung der GUS.
Andere GUS-Staaten, die Moskaus Absichten mit dem gleichen Argwohn verfolgten,
scharten sich lieber um die Ukraine und Usbekistan, um sich Moskaus Drängen nach
engerer politischer und militärischer Integration zu widersetzen oder zu
entziehen. Überdies gewann in fast allen neuen Staaten ein nationales
Selbstbewußtsein an Stärke, das sich in der Einsicht Bahn bricht, die frühere
Unterwerfung unter Moskau als Kolonialismus zu verwerfen und deren verschiedene
Erblasten auszumerzen. So schloß sich sogar das ethnisch verwundbare Kasachstan
den anderen zentralasiatischen Staaten an, als diese das kyrillische Alphabet
aufgaben und durch die lateinische Schrift ersetzten, wie das schon früher die
Türkei getan hatte.
Um die Mitte der neunziger Jahre war unter der stillschweigenden Führung der
Ukraine und unter Einschluß von Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan,
manchmal auch Kasachstan, Georgien und Moldawien inoffiziell ein Block
entstanden, der die russischen Anstrengungen, die GUS als ein Werkzeug zu
politischer Integration zu gebrauchen, vereitelte.
Da sich die Ukraine lediglich zu einer begrenzten und hauptsächlich
wirtschaftlichen Integration bereit fand, verlor auch die Idee einer slawischen
Union jede praktische Bedeutung. Diese von einigen Slawophilen propagierte
Vorstellung ist berühmt geworden, weil Alexander Solschenyzin sie unterstützte,
und wurde geopolitisch bedeutungslos, nachdem die Ukraine sie verworfen hatte.
Übrig blieben nur Rußland und Weißrußland als potentielle Mitglieder jener
Union, die stillschweigend auch eine Spaltung Kasachstans beinhaltete, dessen
nördliche Regionen mit ihrer russischen Bevölkerung diesem suprastaatlichen
Gebilde hätten beitreten können. Verständlicherweise wirkte eine solche eine
solche Option auf die neuen Machthaber in Kasachstan nicht gerade beruhigend und
verstärkte lediglich die antirussische Stoßrichtung ihres Nationalismus. Für
Weißrußland wäre eine slawische Union ohne die Ukraine faktisch der
Eingliederung in Rußland gleichgekommen, die zudem unberechenbare
nationalistische Ressentiments entzündet hätte.
Diese außenpolitischen Hindernisse einer auf das nahe Ausland abstellenden
Geostrategie wurden durch ein wichtiges innenpolitisches Hemmnis noch gewaltig
verstärkt: die Stimmung des russischen Volkes. Trotz des ganzen rhetorischen
Aufwands, mit dem Vertreter verschiedener Parteien Rußlands besondere Mission im
Raum der früheren Sowjetunion beschworen, zeigte das russische Volk — teils aus
schierem Überdruß, teils aus gesundem Menschenverstand — wenig Begeisterung für
ehrgeizige Programme imperialer Restauration. es war für offene Grenzen, freien
Handel, Reisefreiheit, einen Sonderstatus der russischen Sprache, aber eine
politische Integration, vor allem, wenn sie mit materiellen Kosten oder
Blutvergießen verbunden war, rief keinen großen Enthusiasmus hervor. der Zerfall
der Union wurde zwar bedauert, ihre Wiederherstellung für gut befunden; aber die
öffentliche Reaktion auf den Krieg in Tschetschenien deutete darauf hin, daß
jede Politik, die über den Einsatz von wirtschaftlichem Einfluß und / oder
politischem Druck hinausginge, in der Bevölkerung keine Unterstützung fände.
Kurzum, eine Politik, die dem nahen Ausland Priorität einräumte, mußte sich
letzten Endes deshalb als unzulänglich erweisen, weil Rußland politisch nicht
stark genug war, um den neuen Staaten seinen Willen auf zu zwingen, und weil es
auch wirtschaftlich nicht attraktiv genug war, um diese freiwillig zu engerer
Zusammenarbeit zu bewegen. Russischer Druck bewirkte lediglich, daß sie sich
noch stärker nach außen orientierten, zuerst und vor allem zum Westen hin, in
einigen Fällen auch nach China und den wichtigsten islamischen Staaten im Süden.
Als Rußland in Reaktion auf die NATO-Osterweiterung einen eigenen Militärblock
zu bilden drohte, stand die Frage: mit wem? wohl kaum zur Debatte, denn die
peinliche Antwort wäre gewesen: allenfalls vielleicht mit Weißrußland und
Tadschikistan.
Zuvor schon waren die neuen Staaten aus Furcht vor den möglichen politischen
Konsequenzen selbst gegenüber vollkommen legitimen und notwendigen Formen
wirtschaftlicher Integration mit Rußland immer mißtrauischer geworden. Mit den
Vorstellungen von seiner angeblichen eurasischen Mission und der slawischen
Mystik isolierte sich Rußland zugleich nur noch stärker von Europa und vom
Westen ganz allgemein. Infolgedessen wurde die postsowjetische Krise
festgeschrieben und eine notwendige Modernisierung und Verwestlichung der
russischen Gesellschaft — wie Kemal Atatürk sie nach dem Zusammenbruch des
Osmanischen Reiches in die Wege geleitet hatte — verzögert. Die Option »nahes
Ausland« bescherte Rußland keine politische Lösung, sondern eine geopolitische
Illusion.
Wenn aber kein Kondominat mit Amerika und ebenso wenig das nahe Ausland — welche
andere geostrategische Option stand Rußland dann noch offen? Da die
Westorientierung für ein demokratisches Rußland nicht zu der ersehnten globalen
Gleichstellung mit Amerika führte, die ohnehin mehr Schlagwortcharakter hatte,
als daß sie der Realität entsprochen hätte, machte sich unter den Demokraten
Enttäuschung breit. Hingegen verleitete die widerwillige Einsicht, daß eine
Reintegration des alten Imperiums bestenfalls eine ferne Möglichkeit sei, einige
russische Geopolitiker dazu, mit dem Gedanken irgendeiner Gegenallianz zu
spielen, die sich gegen die Vormachtstellung der USA in Eurasien richten sollte.
Anfang 1996 ersetzte Präsident Jelzin seinen westlich orientierten Außenminister
Kosyrew durch den erfahreneren, aber zu Sowjetzeiten linientreu kommunistischen
Fachmann für internationale Beziehungen Jewgenij Primakow, dessen Interesse seit
langem schon dem Iran und China galt. Einige russische Kommentatoren stellten
bereits die Vermutung an, daß es unter Primakow schneller zu einer neuen
antihegemonialen Koalition jener drei Mächte kommen werde, die an einer
Schwächung der amerikanischen Position das größte geopolitische Interesse haben.
Bestärkt wurde dieser Eindruck durch die ersten Reisen, die Primakow als neuer
Außenminister unternahm, sowie einige seiner anfänglichen Äußerungen. Zudem
schienen die chinesisch-iranische Verbindung im Waffenhandel wie auch die
Neigung Rußlands, dem Iran größeren Zugang zur Kernenergie zu verschaffen, die
idealen Voraussetzungen für einen engeren politischen Dialog und schließlich für
ein Bündnis zu bieten. Im Ergebnis könnten sich so, zumindest theoretisch, die
führende slawische Macht, die militanteste islamische Macht und der
bevölkerungsreichste und mächtigste asiatische Staat zusammenfinden und eine
starke Koalition auf die Beine stellen.
Für jede Option einer derartigen Gegenallianz mußte zunächst einmal die
bilaterale chinesisch-russische Beziehung erneuert werden: dabei ließ sich aus
dem Groll, den die politischen Führungen beider Staaten über das Auftreten
Amerikas als einziger globaler Supermacht hegten, prächtig Kapital schlagen. Zu
Beginn des Jahres 1996 reiste Jelzin nach Peking und unterzeichnete eine
Erklärung, in der das Streben nach globaler Hegemonie ausdrücklich verurteilt
wurde, ein deutlicher Hinweis darauf, daß die beiden Staaten sich gegen die USA
verbünden würden. Im Dezember erwiderte der chinesische Premierminister Li Peng
den Besuch, und beide Seiten wiederholten nicht nur ihre Ablehnung eines von
einer einzigen Macht beherrschten internationalen Systems, sondern sprachen sich
auch für den Ausbau bestehender Bündnisse aus. Russische Kommentatoren begrüßten
diese Entwicklung, sahen sie darin doch eine positive Verschiebung im globalen
Machtverhältnis und eine passende Antwort auf das Eintreten Amerikas für eine
NATO Osterweiterung. Manche konnten sogar eine gewisse Schadenfreude nicht
verhehlen, daß das chinesisch-russische Bündnis den USA die verdiente Quittung
präsentiere.
Allerdings kann sich eine Koalition, die Rußland mit China und dem Iran
verbände, nur dann entwickeln, wenn die Vereinigten Staaten so kurzsichtig sind,
sich China und den Iran gleichzeitig zum Feind zu machen. Zwar kann diese
Eventualität nicht ausgeschlossen werden, und das Verhalten der USA in den
Jahren 1995 und 1996 schien beinahe der Vorstellung zu entsprechen, daß sie
sowohl zu Teheran als auch zu Peking auf Konfrontationskurs gehen wollten. Doch
war weder der Iran noch China bereit, sich in strategischer Hinsicht mit einem
instabilen und schwachen Rußland zusammen zu tun. Beide erkannten, daß sie sich
mit einer derartigen Koalition, ginge sie über ein gelegentliches taktisches
Säbelrasseln hinaus, den Zugang zu den Industrieländern des Westens und deren
Investitionsmöglichkeiten sowie deren dringend benötigter Technologie verbauen
würden. Rußland hatte zuwenig anzubieten, um in einer solchen antihegemonialen
Koalition einen wirklich brauchbaren Partner abzugeben.
In Ermangelung einer verbindenden Ideologie und bloß aus einer antihegemonialen
Animosität heraus würde eine solche Koalition im Grunde eine
Dritte-Welt-Gruppierung gegen die führenden Nationen der Ersten Welt sein.
Keines ihrer Mitglieder könnte viel dabei gewinnen, und vor allem China würde
seine enormen Investitionszuflüsse aufs Spiel setzen. Auch für Rußland würde
»das Phantom einer russisch-chinesischen Allianz ... die Gefahr verschärfen,
abermals von westlicher Technologie und westlichem Kapital abgeschnitten zu
werden«, wie ein kritisch eingestellter russischer Geopolitiker dazu bemerkte.19
Der Zusammenschluß würde am Ende vielleicht sogar alle ihre Teilnehmer, ob nun
zwei oder drei, zu anhaltender Isolation und gemeinsamer Rückständigkeit
verurteilen.
19 Alexeij Bogaturow, „Current Relations and Prospects for Interaction Between
Russia and the United States“. Nesawissimaja Gaseta, 28. Juni 1996.
Zudem schlüge jede ernsthafte Bemühung Rußlands, eine solche antihegemoniale
Koalition zustande zu bringen, zum Vorteil Chinas aus. Da es über eine größere,
arbeitsamere, innovativere und dynamischere Bevölkerung verfügt und
möglicherweise gewisse territoriale Absichten auf Rußland hat, würde China
Rußland unweigerlich auf den Status eines Juniorpartners degradieren, während es
ihm an den Mitteln (und wahrscheinlich auch am ehrlichen Wunsch) fehlt, Rußland
aus der derzeitigen Talsohle herauszuhelfen. Rußland würde somit zum Puffer
zwischen einem expandierenden Europa und einem expansionistischen China werden.
Und schließlich hegten einige außenpolitische Experten Rußlands weiterhin die
Hoffnung, daß ein Stillstand des europäischen Einigungsprozesses einschließlich
vielleicht westlicher Meinungsverschiedenheiten über die künftige Gestalt der
NATO am Ende zumindest taktische Möglichkeiten für einen russisch-deutschen oder
russisch-französischen Flirt zum Schaden des transatlantischen Verhältnisses
zwischen Europa und den USA eröffnen könnten. Diese Perspektive war nicht gerade
neu, denn während des gesamten Kalten Krieges versuchte Moskau immer wieder
einmal die deutsche oder die französische Karte zu spielen. Dennoch erschien es
einigen Moskauern Geopolitikern keineswegs abwegig, daß eine Stagnation in der
EU Chancen für taktische Überlegungen zeitigen könnte, die sich womöglich zum
Nachteil Amerikas ausschlachten ließen.
Aber das ist auch so ziemlich alles, was damit erreicht werden könnte: rein
taktische Optionen. Weder Frankreich noch Deutschland dürfte wohl so leicht die
Verbindung zu den USA aufgeben. Ein gelegentlicher Flirt, vor allem mit den
Franzosen, der sich auf irgendwelche begrenzten Fragen beschränkt, ist nicht
auszuschließen — aber einer geopolitischen Richtungsänderung müßte schon ein
massiver Umschwung in der Europapolitik vorausgehen, ein Scheitern der
europäischen Einigung und ein Zusammenbruch der transatlantischen Bindungen. Und
selbst dann wären die europäischen Staaten wohl kaum geneigt, sich geopolitisch
auf ein desorientiertes Rußland hin auszurichten. In letzter Konsequenz bietet
also keine der Optionen für ein Gegenbündnis eine brauchbare Alternative. Die
Lösung für Rußlands geopolitisches Dilemma wird nicht in einer Gegenallianz zu
finden sein, ebenso wenig wird sie sich mit der Illusion einer
gleichberechtigten strategischen Partnerschaft mit Amerika erreichen lassen oder
durch irgendeine neue politische oder ökonomische Integration auf dem Gebiet der
früheren Sowjetunion. Alle drücken sich vor der einzigen Wahl, die Rußland
tatsächlich bleibt.
Das Dilemma der einzigen Alternative
Rußlands einzige geostrategische Option — die Option, die ihm eine realistische
Rolle auf der internationalen Bühne eintragen und auch seine Chancen für eine
gesellschaftliche Veränderung und Modernisierung erhöhen könnte — ist Europa.
Und zwar nicht irgendein Europa, sondern das transatlantische Europa einer
erweiterten EU und NATO. Ein solches Europa nimmt Gestalt an, wie wir in Kapitel
3 gesehen haben, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch eng mit Amerika
verbunden bleiben. An dieses Europa wird sich Rußland halten müssen, wenn es die
Gefahr einer geopolitischen Isolation vermeiden will.
Als Partner ist Rußland für die USA viel zu schwach, aber es ist immer noch zu
stark, um einfach ihr Patient zu sein.
Es könnte zu einem Problem werden, es sei denn, Amerika schafft eine Atmosphäre,
in der die Russen schneller zu der Überzeugung gelangen, daß die beste Wahl für
ihr Land eine immer organischere Beziehung zu einem transatlantischen Europa
ist. Obwohl ein langfristiges russisch-chinesisches und russisch-iranisches
strategisches Bündnis unwahrscheinlich Rußland davon abbringen könnte, die
notwendige geopolitische Wahl zu treffen. Daher sollten die Beziehungen der USA
zu China und dem Iran möglichst so formuliert werden, daß deren Folgen für
Rußlands geopolitische Planungen berücksichtigt bleiben. Fortbestehende
Illusionen über große geostrategische Optionen können außerdem die historische
Wahl hinauszögern, die Rußland treffen muß, um aus seiner tiefen Malaise
herauszukommen.
Nur ein Rußland, das willens ist, sich mit den neuen ökonomischen und auch
geopolitischen Gegebenheiten in Europa abzufinden, wird innenpolitisch von der
immer umfassenderen transkontinentalen europäischen Zusammenarbeit im Handel, in
der Kommunikation, bei den Investitionen und im Bildungssektor profitieren.
Rußlands Teilnahme an Sitzungen des Europarats ist daher ein Schritt in die
richtige Richtung. Es ist ein Vorgeschmack auf weitere institutionelle
Verbindungen zwischen dem neuen Rußland und dem wachsenden Europa. Diesen Weg
einzuschlagen heißt für Rußland auch, daß es keine andere Wahl haben wird, als
schließlich denselben Kurs zu verfolgen wie seinerzeit die postosmanische
Türkei, als sie ihre Großmachtphantasien aufzugeben und sich ganz bewußt auf
eine Modernisierung, Europäisierung und Demokratisierung zu zubewegen beschloß.
Keine andere Option kann Rußland die Vorteile verheißen, die ein modernes,
reiches, demokratisches, an die USA gekoppeltes Europa zu bieten vermag. Europa
und Amerika stellen für einen nicht auf Expansion ausgerichteten, demokratischen
russischen Nationalstaat keine Bedrohung dar. Sie haben keine territorialen
Absichten auf Rußland, was man von China nicht behaupten kann, noch teilen sie
mit ihm eine unsichere und potentiell explosive Grenze wie die ethnisch und
territorial unklar verlaufende zu den muslimischen Völkern im Süden. Im
Gegenteil, für Europa wie für Amerika ist ein nationales und demokratisches
Rußland eine geopolitisch wünschenswerte Größe, eine Quelle der Stabilität in
dem unberechenbaren eurasischen Komplex.
Infolgedessen steht Rußland vor dem Dilemma, daß die Entscheidung für Europa und
Amerika um greifbarer Vorteile willen in erster Linie erfordert, seiner
imperialen Vergangenheit klar und deutlich abzuschwören und es zweitens
hinsichtlich der sich erweiternden politischen und Sicherheitsbindung Europas an
Amerika nicht dauernd seine Einstellung ändern darf. Ersteres bedeutet Anpassung
an den geopolitischen Pluralismus, der sich in dem Gebiet der früheren
Sowjetunion durchgesetzt hat. Eine solche Anpassung schließt eine
wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht aus, etwa nach dem Vorbild der alten
europäischen Freihandelszone, aber sie kann nicht in die politische Souveränität
der neuen Staaten eingreifen — aus dem einfachen Grund, weil diese es nicht
wollen. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang, daß Rußland die
Unabhängigkeit der Ukraine, deren Grenzen und eigenständige nationale Identität
ohne Wenn und Aber anerkennt und respektiert.
Die zweite Kröte dürfte möglicherweise schwerer zu schlucken sein. Ein wirklich
kooperatives Verhältnis zur transatlantischen Gemeinschaft kann nicht auf der
Vorstellung beruhen, daß jene demokratischen Staaten Europas, die daran
teilnehmen möchten, ausgeschlossen werden, weil die Russen es so bestimmen. Die
Erweiterung der Gemeinschaft braucht nicht überstürzt zu werden, und sie sollte
wahrlich nicht durch einen antirussischen Unterton zustande kommen. Aber weder
kann noch sollte sie durch einen politischen Machtspruch zum Stillstand gebracht
werden, der eine längst überholte Vorstellung von europäischer
Sicherheitsarchitektur widerspiegelt. Ein expandierendes und demokratisches
Europa muß ein nach vorne offener historischer Prozeß sein und darf keinen
politisch willkürlichen geographischen Beschränkungen unterworfen werden.
Für viele Russen mag das Dilemma der einzigen Alternative vorerst nicht so
schnell und so leicht zu überwinden sein.
Es wird eine enorme politische Willensanstrengung erfordern und vielleicht auch
eine herausragende Führungspersönlichkeit, die in der Lage ist, die Wahl zu
treffen und die Vision eines demokratischen, national begrenzten, wirklich
modernen und europäischen Rußlands zu entwerfen. Das mag eine Weile dauern. Die
Überwindung der postkommunistischen und postimperialen Krisen wird nicht nur
mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Umformung Mitteleuropas nach dem
Zusammenbruch des Kommunismus, sondern auch einer weit blickenden und stabilen
politischen Führung bedürfen. Ein russischer Atatürk ist derzeit nicht in Sicht.
Nichtsdestoweniger werden die Russen schließlich begreifen müssen, daß Rußlands
nationale Selbstfindung kein Akt der Kapitulation, sondern der Befreiung ist.20
Sie werden akzeptieren müssen, daß das, was Jelzin 1990 in Kiew sagte, den Kern
der Sache traf. Und auch ein nicht-imperiales Rußland wird immer noch ein
bedeutendes Machtgebilde sein, das sich weit über Eurasien, der Welt größte
territoriale Einheit, erstreckt.
Auf jeden Fall wird sich die Antwort auf die Frage: Was ist Rußland und wo liegt
Rußland? erst nach und nach einstellen, und der Westen muß dabei eine kluge und
feste Haltung einnehmen. Amerika und Europa werden helfen müssen. Sie sollten
Rußland nicht nur ein Sonderabkommen oder eine Charta mit der NATO anbieten,
sondern auch einen Prozeß in Gang setzen, in dem sie mit Rußland gemeinsam
ausloten, wie ein transkontinentales System der Sicherheit und Zusammenarbeit
aussehen könnte, das weit über die lockere Struktur der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hinausreicht. Wenn Rußland seine
demokratischen Institutionen im Inneren festigt und greifbare Fortschritte in
einer auf freiem Markt basierenden Volkswirtschaft vorweist, sollte auch eine
noch engere Anbindung an die NATO und die EU nicht ausgeschlossen werden.
20 Anfang 1996 veröffentlichte General Alexander Lebed einen bemerkenswerten
Artikel („The Fading of Empire and the Rebirth of Russia“, Segodnja, 26. April
1996), der viel zur Klärung beitrug.
Für den Westen und vor allem für Amerika gilt es derweil, eine Politik zu
verfolgen, die das Dilemma der einzigen Alternative fortschreibt.
Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der jungen postsowjetischen
Staaten ist ein wesentlicher Faktor, um Rußland zu einem historisch neuen
Selbstverständnis zu nötigen. Somit muß die Rückendeckung für die neuen
postsowjetischen Staaten — für einen geopolitischen Pluralismus im Raum der
früheren Sowjetmacht — ein integraler Bestandteil einer Politik sein, die
Rußland dazu bringen soll, seine europäische Option ohne Wenn und Aber
auszuüben. Drei dieser Staaten fallen geopolitisch besonders ins Gewicht,
nämlich Aserbaidschan, Usbekistan und die Ukraine.
Ein unabhängiges Aserbaidschan kann dem Westen den Zugang zu dem an Ölquellen
reichen Kaspischen Becken und Zentralasien eröffnen. Umgekehrt würde ein
unterworfenes Aserbaidschan bedeuten, daß Zentralasien von der Außenwelt
abgeriegelt wird und somit politisch dem russischen Druck nach einer
Wiedereingliederung ausgesetzt sein könnte.
Usbekistan, volksmäßig der vitalste und am dichtesten besiedelte
zentralasiatische Staat, stellt ein Haupthindernis für jede neuerliche Kontrolle
Rußlands über die Region dar. Seine Unabhängigkeit ist von entscheidender
Bedeutung für das Überleben der anderen zentralasiatischen Staaten, und es
versteht sich des russischen Drucks noch am besten zu erwehren.
Am wichtigsten allerdings ist die Ukraine. Da die EU und die NATO sich nach
Osten ausdehnen, wird die Ukraine schließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil
einer dieser Organisationen werden möchte. Es ist davon auszugehen, daß sie, um
ihre Eigenständigkeit zu stärken, beiden beitreten möchte, wenn deren
Einzugsbereich einmal an ihr Territorium grenzt und sie die für eine
Mitgliedschaft notwendigen inneren Reformen durchgeführt hat. Obwohl dies Zeit
brauchen wird, kann der Westen — während er seine Sicherheits- und
Wirtschaftskontakte mit Kiew weiter ausbaut -, schon jetzt das Jahrzehnt
zwischen 2005 und 2015 als Zeitrahmen für eine sukzessive Eingliederung der
Ukraine ins Auge fassen. Dadurch vermindert er das Risiko, daß die Ukrainer
befürchten könnten, Europas Erweiterung werde an der polnischukrainischen Grenze
halt machen.
Trotz seiner Proteste wird sich Rußland wahrscheinlich damit abfinden, daß die
NATO-Erweiterung im Jahre 1999 mehrere mitteleuropäische Länder einschließt,
zumal sich die kulturelle und soziale Kluft zwischen Rußland und Mitteleuropa
seit dem Zusammenbruch des Kommunismus beträchtlich vertieft hat. Im Gegensatz
dazu wird es Rußland unvergleichlich schwerer fallen, sich mit einem
NATO-Beitritt der Ukraine abzufinden, denn damit würde Moskau eingestehen, daß
das Schicksal der Ukraine nicht mehr organisch mit dem Rußlands verbunden ist.
Doch wenn die Ukraine als unabhängiger Staat überleben soll, wird sie eher mit
Mitteleuropa als mit Eurasien zusammengehen müssen. Soll sie zu Mitteleuropa
gehören, wird sie an den Bindungen Mitteleuropas zur NATO und der Europäischen
Union voll teilhaben müssen. Akzeptiert Rußland diese Bindungen, dann legt es
sich damit in seiner Entscheidung fest, selbst Teil von Europa zu werden.
Rußlands Weigerung wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß es Europa
zugunsten einer eurasischen Identität und Existenz den Rücken kehrt.
Der springende Punkt ist, und das darf man nicht vergessen: Ohne die Ukraine
kann Rußland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Rußland
durchaus Teil von Europa sein kann. Sollte Rußland beschließen, sich mit Europa
zusammenzutun, liegt es letztendlich in seinem ureigenen Interesse, daß die
Ukraine in ein größer werdendes europäisches Haus aufgenommen wird. Tatsächlich
könnte die Beziehung der Ukraine zu Europa der Wendepunkt für Rußland selbst
sein. Das heißt aber, daß der Zeitpunkt, an dem Rußland über sein Verhältnis zu
Europa entscheidet, noch nicht in Sicht ist — entscheidet in dem Sinne, daß die
Wahl der Ukraine zugunsten Europas auch Rußland zu einer Entscheidung drängt,
wie es mit ihm weitergehen soll: ob es ein Teil von Europa oder ein eurasischer
Außenseiter werden will, der im Grunde weder zu Europa noch zu Asien gehört und
aus seinen Konflikten mit dem nahen Ausland nicht mehr herausfindet.
Es ist zu hoffen, daß ein kooperatives Verhältnis zwischen einem wachsenden
Europa und Rußland nicht bei offiziellen bilateralen Kontakten stehen bleibt,
sondern sich zu organischeren und verbindlicheren Formen wirtschaftlicher und
politischer Zusammenarbeit und einer echten Sicherheitspartnerschaft entwickelt.
Auf diese Weise könnte Rußland im Lauf der ersten beiden Jahrzehnte des
kommenden Jahrhunderts zunehmend integraler Bestandteil eines Europa werden, das
nicht nur die Ukraine umfaßt, sondern bis zum Ural und noch darüber
hinausreicht. Eine Anbindung oder gar irgendeine Form von Mitgliedschaft für
Rußland in den europäischen und transatlantischen Strukturen würde hin wiederum
drei kaukasischen Ländern Georgien, Armenien und Aserbaidschan — die eine
Bindung an Europa verzweifelt herbeiwünschen, die Türen zu einem Beitritt
öffnen.
Wie schnell dieser Prozeß vonstatten gehen wird, läßt sich nicht voraussagen,
aber eines ist sicher: Er wird sich beschleunigen, wenn ein geopolitischer
Kontext geschaffen ist, der Rußland in diese Richtung treibt und zugleich andere
Versuchungen ausschließt. Je rascher sich Rußland auf Europa zubewegen, desto
schneller wird sich das Schwarze Loch im Herzen Eurasiens mit einer Gesellschaft
füllen, die immer modernere und demokratischere Züge annimmt. Tatsächlich
besteht das Dilemma für Rußland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu
treffen, denn im Grunde geht es ums Überleben.
5>DER EURASISCHE BALKAN
Das Wort Balkan beschwört in Europa Bilder von ethnischen Konflikten und
Stellvertreterkriegen der Großmächte herauf. Auch Eurasien hat seinen Balkan,
aber der ist viel größer, dichter bevölkert und religiös und ethnisch noch
heterogener. Der eurasische Balkan liegt innerhalb jenes großen Rechtecks, das
die in Kapitel 2 angesprochene Kernzone globaler Instabilität einschließt und
Teile von Südosteuropa, Zentralasien sowie einige Gebiete Südasiens, die Region
um den Persischen Golf und den Nahen Osten umfaßt.
Der eurasische Balkan bildet den inneren Kern dieses großen Rechtecks (siehe
Karte Seite 183) und unterscheidet sich von seinem äußeren Umfeld durch ein
besonderes Merkmal:
Er ist ein Machtvakuum. Zwar sind auch die meisten Staaten der Golfregion und im
Nahen Osten alles andere als stabil, doch üben im Endeffekt die USA dort eine
Schiedsrichterfunktion aus. Die instabile Region steht mithin unter der
Hegemonie einer einzigen Macht, die einen mäßigenden Einfluß ausübt. Im
Gegensatz dazu erinnert der eurasische Balkan wirklich an den uns aus der
Geschichte dieses Jahrhunderts vertrauteren Balkan in Südosteuropa: Die dortigen
Staaten sind nicht nur hochgradig instabil, ihre Lage und innenpolitische
Verfassung fordern die mächtigen Nachbarn zum Eingreifen geradezu heraus, und
jeder widersetzt sich mit Entschlossenheit den Bestrebungen der anderen, die
Vorherrschaft in der Region zu erlangen. Es ist dieses wohlvertraute Phänomen
des Machtvakuums mit der ihm eigenen Sogwirkung, das die Bezeichnung eurasischer
Balkan rechtfertigt.
Im Kampf um die Vormacht in Europa winkte der traditionelle Balkan als
geopolitische Beute. Geopolitisch interessant ist auch der eurasische Balkan,
den die künftigen Transportwege, die zwischen den reichsten und produktivsten
westlichen und östlichen Randzonen Eurasiens bessere Verbindungen herstellen
sollen, durchziehen werden. Außerdem kommt ihm sicherheitspolitische Bedeutung
zu, weil mindestens drei seiner unmittelbaren und mächtigsten Nachbarn von
alters her Absichten darauf hegen, und auch China ein immer größeres politisches
Interesse an der Region zu erkennen gibt. Viel wichtiger aber ist der eurasische
Balkan, weil er sich zu einem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte,
konzentrieren sich in dieser Region doch ungeheuere Erdgas- und Erdölvorkommen,
von wichtigen Mineralien einschließlich Gold ganz zu schweigen.
Der weltweite Energieverbrauch wird sich in den nächsten zwei oder drei
Jahrzehnten enorm erhöhen. Schätzungen des USDepartment of Energy zufolge steigt
die globale Nachfrage zwischen 1993 und 2015 um voraussichtlich mehr als 50
Prozent, und dabei dürfte der Ferne Osten die bedeutendste Zunahme verzeichnen.
Schon jetzt ruft der wirtschaftliche Aufschwung in Asien einen massiven Ansturm
auf die Erforschung und Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor, und es ist
bekannt, daß die zentralasiatische Region und das Kaspische Becken über Erdgas-
und Erdölvorräte verfügen, die jene Kuwaits, des Golfs von Mexiko oder der
Nordsee in den Schatten stellen. Zugang zu diesen Ressourcen zu erhalten und an
ihrem Reichtum teilzuhaben sind Ziele, die nationale Ambitionen wecken,
Gruppeninteressen anregen, historische Ansprüche wieder ins Bewußtsein rücken,
imperiale Bestrebungen aufleben lassen und internationale Rivalitäten anfachen.
Noch brisanter wird die Situation dadurch, daß die Region nicht nur ein
Machtvakuum darstellt, sondern auch intern instabil ist. Jeder der dortigen
Staaten hat ernste innenpolitische Schwierigkeiten, die einzelnen Staatsgrenzen
sind entweder von Gebietsansprüchen ihrer Nachbarn gefährdet oder sie liegen in
ethnischen Problemzonen, nur wenige sind bevölkerungsmäßig homogen, und einige
sind in gewalttätige Auseinandersetzungen territorialer, ethnischer oder
religiöser Art verwickelt.
Der ethnische Hexenkessel
Der eurasische Balkan besteht aus neun Ländern, auf die die obige Beschreibung
mehr oder weniger zutrifft, und vielleicht kommen bald zwei weitere Staaten
hinzu. Die neun Länder sind Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan,
Turkmenistan, Aserbaidschan, Armenien und Georgien — alle gehörten einst zur
früheren Sowjetunion — sowie Afghanistan. Die beiden Länder, die man hinzuzählen
könnte, nämlich die Türkei und der Iran, sind politisch und wirtschaftlich
wesentlich lebensfähiger; beide bemühen sich aktiv um regionalen Einfluß
innerhalb des eurasischen Balkans und stellen somit wichtige geostrategische
Akteure in der Region dar. Zugleich sind beide für ethnische Konflikte anfällig.
Käme es zur Destabilisierung eines dieser Staaten oder auch beider, wären die
internen Probleme der Region nicht mehr zu steuern, und selbst eine regionale
Vorherrschaft der Russen könnte dann womöglich nicht mehr verhindert werden.
Die drei Kaukasusrepubliken — Armenien, Georgien und Aserbaidschan — können sich
auf historisch gewachsene Staatsvölker stützen, die ein ausgeprägtes, alle
Bevölkerungsschichten durchdringendes Nationalgefühl besitzen; ihr Gemeinwohl
wird hauptsächlich von äußeren Konflikten bedroht. Die fünf neuen
zentralasiatischen Staaten hingegen befinden sich überwiegend in einer
nationalen Aufbauphase, in der Stammeszugehörigkeiten und ethnische Identitäten
nach wie vor eine große Rolle spielen, so daß Uneinigkeit im Inneren zum
Hauptproblem wird. Beide Gruppen von Staaten wecken somit das Verlangen ihrer
mächtigeren und von Großmachtphantasien getriebenen Nachbarn, diese Situation
auszuschlachten.
Der eurasische Balkan ist ein ethnisches Mosaik (vgl. die Tabelle auf Seite
187). In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts haben
sowjetische Kartographen die Grenzen der damals formal gegründeten
Sowjetrepubliken ganz willkürlich gezogen. (Die Ausnahme bildet Afghanistan, das
nie zur Sowjetunion gehörte.) Zwar hatte man sich bei der Grenzziehung
weitgehend von ethnischen Gesichtspunkten leiten lassen, doch sie spiegelte
zugleich das Interesse des Kreml wider, im südlichen Teil des russischen
Imperiums keinen Zusammenschlüssen einzelner Volksgruppen Vorschub zu leisten,
die womöglich gegen die Zentralgewalt aufbegehrt hätten.
Demgemäß lehnte Moskau die Vorschläge zentralasiatischer Nationalisten ab, die
verschiedenen zentralasiatischen Völker (von denen die meisten allenfalls ein
rudimentäres Nationalgefühl entwickelt hatten) zu einer politischen Einheit zu
verschmelzen — die den Namen Turkestan tragen sollte -, und rief lieber fünf
Republiken ins Leben, gab jeder einen neuen Namen und Zickzackgrenzen.
Vermutlich aus ähnlichen Erwägungen verwarf der Kreml Pläne für eine Kaukasische
Föderation. Daher überrascht es nicht, daß nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion sowohl die drei Kaukasusrepubliken als auch die fünf
zentralasiatischen Staaten auf ihre neue Unabhängigkeit und auf die notwendige
regionale Zusammenarbeit kaum vorbereitet waren.
Prompt gerieten im Kaukasus die weniger als vier Millionen Armenier und die über
acht Millionen Aserbaidschaner in einen offenen Krieg über den Status von
Nagorny-Karabach, einer Enklave mit überwiegend armenischer Bevölkerung
innerhalb Aserbaidschans. Der Konflikt gipfelte in groß angelegten ethnischen
Säuberungen, und Hunderttausende von Flüchtlingen und Vertriebenen flohen in
beide Richtungen. Da die Armenier Christen und die Aserbaidschaner Moslems sind,
trug die Auseinandersetzung Züge eines Religionskrieges. Der in ökonomischer
Hinsicht verheerende Konflikt erschwerte es beiden Ländern zusätzlich, ihre
Unabhängigkeit zu festigen. Armenien war genötigt, sich stärker auf Rußland zu
verlassen, das erhebliche militärische Hilfe zur Verfügung gestellt hatte,
während Aserbaidschans neue Unabhängigkeit und innere Stabilität durch den
Verlust von Nagorny-Karabach gefährdet waren.
!! Tabelle S.188 !!
Aserbaidschans Verwundbarkeit zeitigt Auswirkungen auf die gesamte Region, weil
seine Lage es zu einem geopolitischen Dreh- und Angelpunkt macht. Es ist
gewissermaßen der lebenswichtige Korken, der den Zugang zur Flasche mit den
Bodenschätzen des Kaspischen Beckens und Zentralasiens kontrolliert. Ein
unabhängiges, Türkisch sprechendes Aserbaidschan mit Pipelines, die es mit der
ethnisch verwandten und politisch als Stütze agierenden Türkei verbinden,
verwehrte Rußland eine Monopolstellung im Zugang zur Region und beraubte es
damit seines entscheidenden politischen Druckmittels auf die Politik der neuen
zentralasiatischen Staaten. Dennoch ist Aserbaidschan von zwei Seiten starkem
Druck ausgesetzt: von Rußland im Norden und vom Iran im Süden. Im nordwestlichen
Iran leben zweimal soviel Aseries — einige Schätzungen sprechen sogar von 20
Millionen — wie in Aserbaidschan. Da der Iran separatistische Tendenzen unter
seinen Aseries befürchtet, betrachtet er die Souveränität Aserbaidschans mit
recht gemischten Gefühlen, obwohl beide Völker dem Islam angehören. Folglich
sieht sich Aserbaidschan bei seinen Verhandlungen mit dem Westen sowohl
russischem als auch iranischem Druck ausgesetzt.
Anders als in Armenien oder Aserbaidschan mit ihrer ethnisch recht homogenen
Bevölkerung gehören etwa 30 Prozent der sechs Millionen Georgier ethnischen
Minderheiten an. Überdies hegen diese kleinen Volksgruppen, die in ihrer
Organisationsform und ihrem Selbstverständnis eher Stämmen gleichen, Groll gegen
die georgische Herrschaft. Nach der Auflösung der Sowjetunion machten sich daher
die Osseten und die Abchasen den innergeorgischen Machtkampf zunutze, um sich
von Georgien abzuspalten. Dies geschah mit stillschweigender Rückendeckung
Rußlands, das Georgien zum Verbleib in der GUS (aus der sich Georgien anfangs
gänzlich zurückziehen wollte) und zur Duldung russischer Militärbasen auf seinem
Territorium zwingen wollte, um das Gebiet von der Türkei abzuriegeln.
Die instabile Lage in Zentralasien hat vor allem innenpolitische Gründe. Vier
der fünf neuen unabhängigen zentralasiatischen Staaten gehören dem türkischen
Sprach- und Kulturraum an. Tadschikistans Sprache und Kultur sind persisch,
während Afghanistan (außerhalb der früheren Sowjetunion) ein Mosaik aus
pathanischen, tadschikischen, paschtischen und persischen Volksgruppen ist. Die
Bewohner aller sechs Länder sind Muslime, wenn auch die Tadschiken zum größten
Teil der schiitischen Glaubensrichtung des Islams anhängen. Obwohl diese Völker
mehrheitlich jahrhunderte lang persischer, türkischer und russischer Herrschaft
unterstanden, hat diese Erfahrung unter ihnen kein Bewußtsein eines gemeinsamen
regionalen Interesses entstehen lassen. Im Gegenteil: Aufgrund ihrer
unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung sind sie für innere und äußere
Konflikte ausgesprochen anfällig — für die mächtigeren Nachbarn ein Anreiz, sich
in die inneren Angelegenheiten dieser Staaten einzumischen.
Die wichtigsten der fünf jüngst in die Unabhängigkeit entlassenen
zentralasiatischen Staaten sind Kasachstan und Usbekistan. Kasachstan ist der
Schild und Usbekistan die Seele des nationalen Erwachens der verschiedenen
Völker in der Region. Durch seine Größe und geographische Lage schützt
Kasachstan die anderen vor direktem russischen Druck, da nur Kasachstan an
Rußland grenzt. Seine etwa 18 Millionen Menschen zählende Bevölkerung besteht zu
etwa 35 Prozent aus Russen (in der gesamten Region schwindet der russische
Bevölkerungsanteil stetig) und zu weiteren 20 Prozent aus nichtkasachischen
Volksstämmen, ein Umstand, der es den neuen kasachischen Machthabern -- die
selbst immer nationalistischere Töne anschlagen, aber nur knapp die Hälfte der
gesamten Bevölkerung des Landes vertreten -- erschwert hat, ihren Staat auf der
Basis von Volkstum und Sprache aufzubauen.
Die in dem neuen Staat lebenden Russen sind natürlich der kasachischen Führung
nicht wohl gesonnen. Als die ehemaligen Kolonialherren gehören sie zu der
gebildeteren und besser situierten Schicht und fürchten um ihre Privilegien.
Außerdem blicken sie auf den neuen kasachischen Nationalismus mit kaum
verhüllter, aus kulturellem Dünkel gespeister Verachtung herab. Da die
russischen Kolonisten in den nordwestlichen wie auch in den nordöstlichen Teilen
Kasachstans eindeutig in der Überzahl sind, drohte Kasachstan im Falle einer
tiefgehenden Verschlechterung der kasachisch-russischen Beziehungen die
territoriale Spaltung. Zugleich leben mehrere hunderttausend Kasachen auf der
russischen Seite der Staatsgrenze und im Nordosten Usbekistans, dem Land, das
die Kasachen als ihren Hauptrivalen um die Führung in Zentralasien betrachten.
Usbekistan ist durchaus ernsthafter Kandidat. Es ist zwar kleiner und weniger
mit Bodenschätzen gesegnet als Kasachstan, hat aber eine größere Bevölkerung
(fast 25 Millionen) und, viel wichtiger noch, eine wesentlich homogenere
Bevölkerung als Kasachstan aufzuweisen. Angesichts der höheren Geburtenrate
unter den Einheimischen und des allmählichen Exodus der Russen werden bald etwa
drei Viertel des Volkes Usbeken sein mit einer vor allem in Taschkent, der
Hauptstadt des Landes, ansässigen bedeutungslosen russischen Minderheit.
Geschickt führt die politische Elite des Landes den neuen Staat bewußt und
unmittelbar auf das im Mittelalter bestehende riesige Reich Tamerlans
(1336--1404) zurück, dessen Hauptstadt Samarkand das berühmte regionale Zentrum
für das Studium der Religion, der Astronomie und der Künste war. Diese
Abstammung erfüllt das moderne Usbekistan mit einem tieferen Bewußtsein
historischer Kontinuität und regionaler Sendung, als das bei seinen Nachbarn der
Fall ist. In der Tat betrachten manche Usbeken ihr Land als den nationalen Kern
eines gemeinsamen zentralasiatischen Staatsgebildes, dessen Hauptstadt
vermutlich Taschkent wäre. Die politische Führungsschicht Usbekistans — und in
zunehmendem Maße auch seine Bevölkerung — bringt bessere subjektive
Voraussetzungen für einen modernen Nationalstaat mit als die Herrschaftseliten
der anderen zentralasiatischen Staaten, und sie ist — ungeachtet
innenpolitischer Schwierigkeiten — fest entschlossen, nie mehr auf den Status
einer Kolonie zurückzufallen.
Infolgedessen kommt Usbekistan bei der Förderung eines modernen Nationalismus
eine Vorreiterrolle zu, was unter seinen Nachbarn gewisses Unbehagen erregt. Im
gleichen Maße wie die führenden usbekischen Politiker bei der Staatsbildung und
in ihrem Eintreten für größere regionale Selbständigkeit das Tempo vorgeben,
wecken die größere nationale Homogenität und das stärkere Nationalbewußtsein des
Landes bei den Regierenden von Turkmenistan, Kirgistan, Tadschikistan und sogar
Kasachstan Befürchtungen, daß sich Usbekistans Führungsrolle in der Region zu
regionaler Vorherrschaft auswachsen könnte. Diese Besorgnis behindert die
regionale Zusammenarbeit der neuen souveränen Staaten — die von den Russen
natürlich ohnehin nicht gefördert wird — und perpetuiert die Verwundbarkeit der
Region.
Allerdings ist auch Usbekistan nicht ganz frei von ethnischen Spannungen.
Südliche Teile des Landes, vor allem um die historisch und kulturell bedeutenden
Zentren Samarkand und Buchara, sind überwiegend von Tadschiken bevölkert, die
sich mit den von Moskau gezogenen Grenzen nicht abfinden wollen. Weiter
kompliziert wird die Lage noch durch den Umstand, daß im westlichen
Tadschikistan Usbeken leben und in Kirgistans wirtschaftlich wichtigem
Fergana-Tal (wo es in den letzten Jahren zu blutigen Auseinandersetzungen
ethnischer Gruppen gekommen ist) sowohl Usbeken als auch Tadschiken ansässig
sind, gar nicht zu reden von den Usbeken im Norden Afghanistans.
Von den übrigen drei aus russischer Kolonialherrschaft hervorgegangenen
zentralasiatischen Staaten, nämlich Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan,
ist nur letzteres, ethnisch gesehen, relativ geschlossen. Ungefähr 75 Prozent
seiner 4,5 Millionen Einwohner sind Turkmenen, während Usbeken und Russen
jeweils weniger als 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dank seiner
geschützten geographischen Lage ist es relativ weit weg von Rußland. Von weitaus
größerer geopolitischer Bedeutung für die Zukunft des Landes sind Usbekistan und
der Iran. Wenn erst einmal Pipelines in die Region führen, verheißen die
wahrhaft riesigen Erdgasvorkommen Turkmenistans seiner Bevölkerung eine blühende
Zukunft.
Die fünf Millionen zählende Bevölkerung Kirgistans ist sehr viel gemischter. Die
Kirgisen stellen etwa 55 Prozent der Gesamtbevölkerung und die Usbeken etwa 13
Prozent, während der Anteil der Russen in jüngster Zeit um 5 Prozent auf etwas
über 15 Prozent zurückfiel. Vor der Unabhängigkeit stellten die Russen das Gros
der technischen Intelligenz; ihre Massenflucht hat der Wirtschaft des Landes
geschadet. Obzwar reich an Bodenschätzen und von einer landschaftlichen
Schönheit, die ihm die Bezeichnung »zentralasiatische Schweiz« eintrug (wodurch
es zu einem neuen Touristengebiet werden könnte), ist das zwischen China und
Kasachstan eingezwängte Kirgistan stark davon abhängig, inwieweit Kasachstan
seine Souveränität behaupten kann.
Tadschikistan ist, ethnisch gesehen, nur etwas homogener. Seine 6,2 Millionen
Einwohner sind zu knapp zwei Dritteln Tadschiken und zu mehr als 25 Prozent
Usbeken (die von den Tadschiken mit einer gewissen Feindseligkeit betrachtet
werden), während die verbleibenden Russen noch etwa drei Prozent ausmachen. Wie
anderswo ist jedoch selbst die dominierende ethnische Gemeinschaft strikt — ja
sogar kraß — nach Stämmen gegliedert. Ein nationales Bewußtsein ist weitgehend
auf die politische Elite in den Städten beschränkt.
Infolgedessen hat die Unabhängigkeit nicht nur bürgerkriegsähnliche Zustände
ausgelöst, sondern auch Rußland einen bequemen Vorwand geliefert, Teile seiner
Armee weiterhin in dem Land zu belassen. Die starken tadschikischen Minderheiten
jenseits der Grenze, im Nordosten Afghanistans, machen die ethnische Lage noch
komplizierter. Es leben fast ebenso viele Tadschiken in Afghanistan wie in
Tadschikistan, ein Sachverhalt, der zusätzlich dazu beiträgt, die Stabilität in
der Region zu untergraben.
Das gegenwärtige Durcheinander in Afghanistan ist ebenfalls ein sowjetisches
Vermächtnis, obwohl das Land nie zur Sowjetunion gehörte. Zerrissen durch die
sowjetische Besatzung und den langjährigen Guerillakrieg, der in dem Land
geschürt wurde, ist Afghanistan nur noch dem Namen nach ein Nationalstaat. Seine
22 Millionen Einwohner hat man streng nach ethnischen Kriterien getrennt mit der
Folge, daß die Gräben zwischen den einheimischen Paschtunen, Tadschiken und
Hasaras immer tiefer werden. Der Dschihad gegen die russischen Besatzer machte
die Religion zum dominierenden Faktor im politischen Leben des Landes und hat
die ohnehin scharfen politischen Differenzen mit dogmatischem Eifer versetzt.
Afghanistan muß somit nicht nur als ein Teil des ethnischen Hexenkessels in
Zentralasien betrachtet, sondern auch politisch dem eurasischen Balkan
zugerechnet werden.
Obwohl die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken wie auch Aserbaidschan
allesamt überwiegend von Muslimen bevölkert sind, haben ihre politischen Eliten
— großenteils Produkte der Sowjetära — fast durchweg nichts mit Religion im Sinn
und die Staaten eine weltliche Verfassung. Es ist jedoch anzunehmen, daß ihre
Bevölkerungen ebenso, wie sie die traditionellen Sippen- und Stammesbindungen
durch ein modernes Nationalbewusstsein ersetzen, verstärkt ein islamisches
Bewusstsein entwickeln werden. Eine islamische Wiedererweckung, die bereits von
außen her vom Iran, aber auch von SaudiArabien Unterstützung erfährt, wird
wahrscheinlich aggressive Nationalismen beflügeln, die jeglicher Reintegration
unter russischer — und mithin ungläubiger — Herrschaft entschiedenen Widerstand
entgegensetzen.
Genauer gesagt, dürfte der Prozeß der Islamisierung auch die innerhalb Rußlands
verbliebenen Muslime anstecken. Ihre Zahl beläuft sich auf etwa 20 Millionen und
übersteigt jene der nunmehr unter fremder Herrschaft in den unabhängigen
zentralasiatischen Staaten lebenden Russen (circa 9,5 Millionen) um das
Doppelte. Die russischen Muslime machen mithin etwa 13 Prozent der russischen
Bevölkerung aus, und es ist beinahe unvermeidlich, daß sie ihre Rechte auf eine
eigenständige religiöse und politische Identität selbstbewußter einklagen
werden. Auch wenn dieser Anspruch nicht die Form einer Forderung nach absoluter
Unabhängigkeit, wie in Tschetschenien annimmt, wird er sich mit den unlösbaren
Problemen überschneiden, denen sich Rußland, angesichts seines jüngsten
Großmachtabenteuers und der russischen Minoritäten in den neuen Staaten in
dieser Region weiterhin wird stellen müssen.
Der Umstand, daß zwei der größeren angrenzenden Nationalstaaten, die Türkei und
der Iran, jeder mit einem historisch gewachsenen imperialen, kulturellen,
religiösen und ökonomischen Interesse an der Region, in ihrer geopolitischen
Orientierung unberechenbar sind und zudem selbst mit internen Problemen zu
schaffen haben, verstärkt die Instabilität des eurasischen Balkan gravierend und
macht die Lage noch explosiver. Eine Destabilisierung dieser beiden Staaten
würde sehr wahrscheinlich die ganze Region ins Chaos stürzen; die laufenden
ethnischen und territorialen Konflikte gerieten dann außer Kontrolle und das
jetzt schon fragile Machtgleichgewicht in der Region würde schwer gestört.
Infolgedessen sind die Türkei und der Iran nicht nur wichtige geostrategische
Akteure, sondern auch geopolitische Dreh- und Angelpunkte, deren innere
Verfassung für die Region von ganz entscheidender Bedeutung ist. Beide sind
mittlere Mächte mit starken regionalen Bestrebungen und ausgeprägtem, aus ihrer
Vergangenheit abgeleiteten Selbstbewußtsein. Die künftige geopolitische
Orientierung und sogar der nationale Zusammenhalt der beiden Staaten bleiben
jedoch unsicher.
Die Türkei, ein postimperialer Staat, der immer noch auf der Suche nach einem
neuen Selbstverständnis ist, wird in drei Richtungen gezerrt: die Modernisten
sähen ihr Land gern als europäischen Staat und blicken nach Westen, die
Islamisten tendieren in Richtung Naher Osten und muslimische Gemeinschaften und
schauen nach Süden, die historisch denkenden Nationalisten entdecken in den
Turkvölkern des Kaspischen Beckens und Zentralasiens ein neues Missionsgebiet
für eine in der Region dominierende Türkei und sehen nach Osten. Jede dieser
drei Perspektiven postuliert eine andere strategische Achse, und in der
Unvereinbarkeit dieser Standpunkte kündigt sich zum ersten Mal seit der
Revolution Kemal Atatürks eine gewisse Unsicherheit über die Rolle der Türkei in
der Region an.
Die Türkei könnte zumindest teilweise ein Opfer der ethnischen Konflikte in der
Region werden. Obwohl 80 Prozent ihrer an die 65 Millionen Bewohner vorwiegend
Türken sind (wenn auch dazu eine bunte Mischung aus Tscherkessen, Albanern,
Bosniern, Bulgaren und Arabern gehörten), machen die Kurden immerhin 20 Prozent
oder mehr aus. Die in den östlichen Gebieten des Landes konzentrierten
türkischen Kurden wurden zunehmend in den Kampf der irakischen und iranischen
Kurden um nationale Unabhängigkeit hineingezogen. Von der politischen
Ausrichtung des Landes verursachte Spannungen innerhalb der Türkei würden die
Kurden zweifellos ermuntern, noch gewaltsamer auf einen eigenständigen
Nationalstaat zu drängen.
Noch schwerer zu bestimmen ist die zukünftige Orientierung des Irans. Die
Revolution der schiitischen Fundamentalisten, die Ende der siebziger Jahre den
Sieg davontrug, könnte in ein Thermidordium eintreten, was die Ungewißheit über
die geostrategische Rolle des Irans erhöht. Der Zusammenbruch der atheistischen
Sowjetunion eröffnete dem Iran einerseits die Möglichkeit, seine nunmehr
unabhängigen nördlichen Nachbarn zum Islam zu bekehren. Andererseits neigte
Teheran aufgrund seiner Feindschaft gegen die USA zu einer zumindest taktisch
prorussischen Haltung, und die Sorge, daß sich die Unabhängigkeit Aserbaidschans
negativ auf den eigenen nationalen Zusammenhalt auswirken könnte, bestärkte ihn
darin.
Die Sorge gründet in der Anfälligkeit des Iran gegenüber ethnischen Spannungen.
Von den 65 Millionen Bewohnern des Landes (zahlenmäßig fast gleichauf mit der
Türkei), sind nur etwas mehr als die Hälfte Perser. Grob geschätzt ein Viertel
sind Aseris, und der Rest setzt sich aus Kurden, Baluchis, Turkmenen, Arabern
und anderen Stämmen zusammen. Abgesehen von den Kurden und den Aseris stellen
die anderen derzeit keine Bedrohung der nationalen Einheit des Irans dar, zumal
die Perser ein starkes nationales, ja sogar imperiales Bewußtsein beseelt. Aber
das könnte sich ganz schnell ändern, wenn es zu einer neuen politische Krise im
Iran kommen sollte.
Ferner muß der bloße Umstand, daß es nun mehrere unabhängige Staaten mit der
Endsilbe -stan- in diesem Gebiet gibt und daß selbst die eine Million
Tschetschenen ihren politischen Bestrebungen Geltung verschaffen konnten,
ansteckend auf die Kurden wie auch auf andere ethnische Minderheiten im Iran
wirken. Wenn es Aserbaidschan gelingt, politisch und wirtschaftlich stabile
Verhältnisse zu schaffen, werden sich die iranischen Aseris vermutlich immer
stärker für ein größeres Aserbaidschan einsetzen. Somit könnten politische
Instabilität und Uneinigkeit in Teheran sich zu einer Gefährdung der nationalen
Einheit auswachsen, das wiederum würde die Probleme des eurasischen Balkans auf
dramatische Weise vermehren und verstärken.
Wettstreit mit vielen Beteiligten
Um den europäischen Balkan stritten drei Großmächte: das Osmanische Reich, die
österreich-ungarische Monarchie und das russische Zarenreich. Außerdem gab es
drei indirekt Beteiligte, die Angst hatten, daß sich der Sieg eines dieser
Protagonisten negativ auf ihre geopolitischen Interessen auswirken könnte:
Deutschland fürchtete Rußlands Macht, Frankreich widersetzte sich
Österreich-Ungarn, und Großbritannien sah lieber ein geschwächtes Osmanisches
Reich die Dardanellen kontrollieren, als daß einer der anderen Hauptkontrahenten
die Herrschaft über den Balkan erlangte. Während des 19. Jahrhunderts gelang es
diesen Mächten noch, aufflackernde Balkankonflikte einzudämmen, ohne dadurch
vitale Interessen der Beteiligten zu verletzen, aber 1914 versagten sie — mit
verheerenden Folgen für alle.
Auch der derzeitige Kampf um die Vormachtstellung im eurasischen Balkan wird von
drei benachbarten Staaten ausgetragen: von Rußland, der Türkei und dem Iran,
doch könnte nicht zuletzt China ein wichtiger Protagonist werden. Ebenfalls,
wenngleich auch nicht unmittelbar daran beteiligt, sind die Ukraine, Pakistan,
Indien und das ferne Amerika. Alle drei Hauptkontrahenten haben nicht nur
künftige geopolitische und wirtschaftliche Vorteile im Auge, sie berufen sich
zudem auf historische Ansprüche. Jeder war zu irgendeiner Zeit die politisch
oder kulturell beherrschende Macht in der Region. Jeder betrachtet die anderen
mit Argwohn. Es ist zwar unwahrscheinlich, daß es zu einer direkten
Konfrontation zwischen ihnen kommt, doch könnten ihre Rivalitäten das Chaos in
der Region noch vergrößern.
Die feindselige Haltung der Russen gegenüber den Türken nimmt schon fast
obsessive Züge an: Das Bild, das die russischen Medien von ihrem südlichen
Nachbarn entwerfen, zeigt eine Türkei, die die ganze Region unter ihre Knute
zwingen will, lokalen Widerstand gegen Rußland anzettelt (im Falle von
Tschetschenien hatte dieser Vorwurf sogar eine gewisse Berechtigung) und die
Sicherheit Rußlands in einem Maße bedroht, das in keinem Verhältnis zu ihren
tatsächlichen Möglichkeiten steht. Die Türken revanchieren sich entsprechend und
verstehen sich als Befreier ihrer Brüder aus langjähriger russischer
Knechtschaft. Auch Türken und Iraner (Perser) rivalisierten in der Vergangenheit
um die Vormachtstellung in der Region, und diese Rivalität ist in den letzten
Jahren wiederaufgelebt, zumal die Türkei dem Konzept des islamischen
Gottesstaates eine moderne und weltliche Alternative entgegensetzt.
Jeder der drei Staaten strebt, das darf man wohl behaupten, zumindest nach einer
Einflußsphäre; doch Moskaus Ehrgeiz geht viel weiter, weil seine Erinnerung an
imperiale Herrschaft noch relativ frisch ist, in der Region mehrere Millionen
Russen leben und der Kreml Rußland wieder in den Rang einer Weltmacht erheben
möchte. Aus außenpolitischen Erklärungen Moskaus geht klar hervor, daß es den
gesamten Raum der früheren Sowjetunion als eine Zone besonderen geostrategischen
Interesses betrachtet, aus der politischer — und sogar wirtschaftlicher —
Einfluß von außerhalb ferngehalten werden sollte.
Obwohl auch den Bestrebungen der Türkei auf regionale Einflußnahme Züge einer
indes weiter zurückliegenden imperialen Vergangenheit anhaften (das Osmanische
Reich ereichte 1590 nach der Eroberung des Kaukasus und Aserbaidschans seine
größte Ausdehnung, obgleich es Zentralasien nicht mit einschloß), gründen sie
doch stärker in der gemeinsamen ethnischsprachlichen Identität der Turkvölker
(siehe nachfolgende Karte). In Anbetracht ihrer viel begrenzteren politischen
und militärischen Machtmittel kann die Türkei keine beherrschende Position in
der Region einnehmen. Sie versteht sich eher als Führerin einer losen
turksprachigen Staatengemeinschaft. Die relative Modernität der türkischen
Gesellschaft, ihre Sprachverwandtschaft mit den Turkvölkern und ihre
Wirtschaftskraft sind Faktoren, die die Türkei nutzt, um sich als
einflußreichste Kraft in den derzeit in der Region von statten gehenden
Staatsgründungsprozessen zu etablieren.
Was der Iran im Schilde führt, ist noch schwerer zu bestimmen, könnte aber
langfristig für Rußlands ehrgeizige Pläne nicht weniger bedrohlich sein. Das
Perserreich liegt viel weiter zurück als das der Osmanen. Auf dem Höhepunkt
seiner Macht, etwa um 500 v. Chr., umfaßte es das gegenwärtige Territorium der
drei Kaukasusrepubliken — Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan -,
Afghanistan sowie das Gebiet der heutigen Türkei, des Iraks, Syriens, des
Libanons und Israels. Obgleich die Ziele des Iran derzeit enger gesteckt sind
als die der Türkei und sich hauptsächlich auf Aserbaidschan und Afghanistan
konzentrieren, richtet sich das Interesse seiner religiösen Führer auf die
gesamte muslimische Bevölkerung in der Region, ja sogar innerhalb Rußlands. In
der Tat ist die Wiederbelebung des Islam in Zentralasien zu einem substantiellen
Element der Bestrebungen der gegenwärtig in Teheran Regierenden geworden. Die
konkurrierenden Interessen Rußlands, der Türkei und des Irans sind auf der
folgenden Karte (Seite 201) dargestellt: Die geopolitische Stoßrichtung Rußlands
ist mit zwei Pfeilen wiedergegeben, die direkt nach Süden auf Aserbaidschan und
Kasachstan zielen; die der Türkei mit einem einzigen Pfeil, der nach Osten durch
Aserbaidschan und das Kaspische Meer hindurch auf Zentralasien weist, und die
des Irans mit zwei Pfeilen, von denen der eine nach Norden auf Aserbaidschan und
der andere nach Nordosten auf Turkmenistan, Afghanistan und Tadschikistan zeigt.
Diese Pfeile laufen nicht nur kreuz und quer; sie können auch zusammenstoßen.
Chinas Rolle ist derzeit begrenzter, und seine Ziele sind weniger
offensichtlich. Es versteht sich von selbst, daß es China an seiner Grenze nach
Westen lieber mit einer Ansammlung relativ unabhängiger Staaten als mit einem
russischen Imperium zu tun hat. Zumindest dienen die neuen Staaten als eine Art
Pufferzone. Dennoch befürchtet China, seine Turkminderheiten in der Provinz
Xingjiang könnten in den jungen unabhängigen Staaten ein attraktives Vorbild
erblicken, und aus diesem Grund hat es von Kasachstan die Zusicherung verlangt,
daß der Aktionismus von Minderheiten im Grenzgebiet unterbunden werde. Da auf
lange Sicht die Energievorkommen der Region für Peking zweifellos von großem
Interesse sein werden, muß der direkte Zugang zu ihnen, unbehelligt von Moskaus
Kontrolle, Chinas zentrales Anliegen sein. Tendenziell kollidiert Chinas
allgemeines geopolitisches Interesse mit Rußlands Streben nach einer
beherrschenden Rolle und ist somit zu den türkischen und iranischen
Zielsetzungen komplementär.
Für die Ukraine geht es um den zukünftigen Charakter der GUS und einen freieren
Zugang zu Energiequellen, die ihre Abhängigkeit von Rußland vermindern würden.
Unter diesem Aspekt rücken für Kiew engere Beziehungen zu Aserbaidschan,
Turkmenistan und Usbekistan in den Vordergrund. Auch die Rückendeckung, die die
Ukraine den nach größerer Unabhängigkeit strebenden Staaten gibt, verfolgt den
Zweck, die eigene Unabhängigkeit gegenüber Moskau zu stärken. So hat die Ukraine
die Anstrengungen Georgiens unterstützt, aserische Ölexporte über sein Gebiet zu
leiten. Darüber hinaus tat sie sich mit der Türkei zusammen, um den russischen
Einfluß im Schwarzen Meer zu schwächen, und unterstützte die türkischen
Bemühungen, Erdöl von Zentralasien in türkische Terminals zu leiten.
Ein Engagement Pakistans und Indiens liegt vorerst in weiterer Ferne, aber
keinem der beiden Länder ist es gleichgültig, was in diesem neuen eurasischen
Balkan geschieht. Pakistan ist bestrebt, durch politischen Einfluß in
Afghanistan geostrategische Tiefe zu gewinnen — Iran aber daran zu hindern,
dasselbe zu tun und sich in Tadschikistan einzumischen — und aus jeder neuen
Pipeline Nutzen zu ziehen, die Zentralasien mit dem Arabischen Meer verbindet.
In Anbetracht der Bemühungen Pakistans und möglicherweise aus Sorge darüber daß
China langfristig auf die Region Einfluß nehmen könnte, betrachtet Indien
iranische Absichten auf Afghanistan und eine stärkere Präsenz Rußlands in dem
vormals von der Sowjetunion besetzten Raum mit größerem Wohlwollen.
Die USA sind zwar weit weg, haben aber starkes Interesse an der Erhaltung eines
geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Eurasien. Als ein zunehmend
wichtiger, wenn auch nicht direkt eingreifender Mitspieler, der nicht allein an
der Förderung der Bodenschätze in der Region interessiert ist, sondern auch
verhindern will, daß Rußland diesen geopolitischen Raum allein beherrscht,
halten sie sich drohend im Hintergrund bereit. Neben seinen weiterreichenden
geostrategischen Zielen in Eurasien vertritt Amerika auch ein eigenes wachsendes
ökonomisches Interesse, wie auch das Europas — und des Fernen Ostens, an einem
unbehinderten Zugang zu dieser dem Westen bisher verschlossenen Region.
In diesem Hexenkessel geopolitischer Macht stehen somit der Zugang zu
möglicherweise großem Reichtum, die Erfüllung nationaler und / oder religiöser
Missionen und Sicherheit auf dem Spiel. In erster Linie jedoch geht es um Zugang
zur Region, über den bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Moskau allein
verfügen konnte. Alle Bahntransporte, Erdgas- und ErdölPipelines und sogar der
Flugverkehr wurden über das Zentrum geleitet. Die russischen Geopolitiker sähen
es natürlich lieber, wenn es so bliebe, da sie genau wissen, daß wer den Zugang
zur Region unter Kontrolle oder unter seiner Herrschaft hat, aller
Wahrscheinlichkeit nach auch den geopolitischen und ökonomischen Gewinn
einheimst. Genau diese Überlegung hat der Pipeline-Frage für die Zukunft des
Kaspischen Beckens und Zentralasiens eine so zentrale Bedeutung verliehen. Falls
die wichtigsten Ölleitungen in die Region weiterhin durch russisches Territorium
zum russischen Absatzmarkt am Schwarzen Meer in Noworossijsk verlaufen, werden
sich die politischen Konsequenzen, auch ohne daß die Russen die Muskeln spielen
lassen, bemerkbar machen. Die Region wird eine politische Dependance bleiben und
Moskau darüber entscheiden können, wie der neue Reichtum der Region verteilt
werden soll. Wenn jedoch umgekehrt eine andere Pipeline übers Kaspische Meer
nach Aserbaidschan verläuft und von dort durch die Türkei zum Mittelmeer und
eine weitere durch den Iran zum Arabischen Meer führt, wird kein Staat das
Monopol über den Zugang haben (siehe Karte Seite 205).
Das Mißliche an dieser Diskussion ist, daß es einige Kräfte innerhalb der
politischen Elite Rußlands offenbar vorzögen, wenn die Ressourcen dieses Gebiets
überhaupt nicht gefördert würden, sollte Moskau nicht mehr die vollständige
Kontrolle über den Zugang haben. Wenn die Alternative heißt, daß ausländische
Investitionen ein größeres wirtschaftliches und auch politisches Interesse des
Auslands an der Region nach sich ziehen, sollen die Bodenschätze lieber
ungenutzt bleiben. Dieses Besitzdenken hat seine Wurzeln in der imperialen
Geschichte Rußlands und wird sich nur mit der Zeit und unter äußerem Druck
ändern.
Die zaristische Expansion in den Kaukasus und nach Zentralasien hinein erfolgte
über einen Zeitraum von etwa dreihundert Jahren, aber das Ende, das sie vor
kurzem nahm, kam erschreckend abrupt. Als das Osmanische Reich im Niedergang
begriffen war, drängte das Zarenreich nach Süden, entlang der Küsten des
Kaspischen Meeres gegen Persien. Es bemächtigte sich 1556 der Astrachan-Khanate
und erreichte um 1607 Persien. Zwischen 1774 und 1784 eroberte es die Krim,
verleibte sich 1801 das Königreich Georgien ein, unterwarf in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts die Stämme im Nordkaukasus (wogegen sich die Tschetschenen
mit einzigartiger Zähigkeit widersetzten) und schloß 1878 die Übernahme
Armeniens ab.
Bei der Eroberung Zentralasiens ging es weniger darum, ein rivalisierendes
Imperium zu bezwingen, als im Grunde isolierte und zumeist nach Stämmen
organisierte feudale Khanate und Emirate zu unterwerfen, die nur sporadischen
und vereinzelten Widerstand zu leisten vermochten. Zwischen 1801 und 1881 wurden
in einer Reihe von Militärexpeditionen Usbekistan und Kasachstan eingenommen,
während die Zerschlagung und Unterwerfung Turkmenistans in den Jahren 1873 bis
1886 erfolgte. Um 1850 jedoch war die Eroberung des größten Teils von
Zentralasien im wesentlichen abgeschlossen, obgleich es noch in der Sowjetära
immer wieder zu Ausbrüchen lokalen Widerstands kam.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte eine dramatische historische Wende
herbei. Im Laufe von nur zwei Wochen schrumpfte im Dezember 1991 der asiatische
Teil Rußlands um etwa 20 Prozent, und von den 75 Millionen Asiaten, die vordem
unter sowjetischer Herrschaft lebten, waren plötzlich nur noch 30 Millionen
russische Staatsbürger. Darüber hinaus verlor Rußland weitere 18 Millionen
Bewohner des Kaukasus. Am meisten aber wurmte die politische Führung in Moskau
die Erkenntnis, daß sich nun ausländische Interessen, die über die nötigen
Mittel verfügten, um zu investieren, Bodenschätze zu fördern und auszubeuten,
auf das bis vor kurzem allein Rußland zugängliche wirtschaftliche Potential
dieser Gebiete richteten.
Rußland steht vor einem Dilemma: Es ist politisch zu schwach, um die Region
völlig von der Außenwelt abzuriegeln, und zu arm, um das Gebiet allein zu
erschließen. Einsichtige Politiker in Rußlands Führung erkennen zudem, daß die
in den neuen Staaten im Gange befindliche Bevölkerungsexplosion an der
russischen Südgrenze eine brenzlige Lage heraufbeschwören dürfte, sollten diese
Staaten ihr Wirtschaftswachstum nicht aufrechterhalten können. Die bitteren
Erfahrungen, die Rußland in Afghanistan und Tschetschenien machen mußte, könnten
sich entlang der sich vom Schwarzen Meer bis in die Mongolei erstreckenden
Grenze wiederholen, zumal dort eine Welle nationaler und islamistischer
Wiedererweckung die einstmals unterjochten Völker erfaßt hat.
Folglich muß Rußland einen Weg finden, um sich auf die neue, postimperiale
Realität einzustellen. Es wird bestrebt sein, die Präsenz der Türkei und des
Irans in der Region unter Kontrolle zu halten, ein Abdriften der jungen Staaten
zu seinen Hauptrivalen zu verhindern, das Zustandekommen einer wirklich
unabhängigen regionalen Zusammenarbeit in Zentralasien zu hintertreiben und den
geopolitischen Einfluß Amerikas in den neuerdings souveränen Hauptstädten zu
begrenzen. Es geht also nicht mehr darum, das ehemalige Imperium
wiederherzustellen — was zu kostspielig wäre und auf zu heftigen Widerstand
stieße -, sondern es gilt statt dessen, ein neues Netz von Beziehungen zu
knüpfen, mit dem die jungen Staaten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und
Rußlands beherrschende geopolitische und wirtschaftliche Position
aufrechterhalten werden kann.
Zu diesem Zweck bediente sich Rußland bisher vorzugsweise der GUS, wenn auch an
manchen Stellen der Einsatz russischen Militärs und die geschickte Anwendung
russischer Diplomatie nach dem Grundsatz divide et impera genauso wirksam war.
Moskau setzte die neuen Staaten unter Druck, um sie soweit wie möglich für seine
Vision von einem zunehmend integrierten Commonwealth zu gewinnen. Es drängte auf
ein zentral gesteuertes Kontrollsystem über die Außengrenzen der GUS, auf engere
militärische Integration innerhalb eines gemeinsamen außenpolitischen Rahmens
und auf die Ausdehnung des bestehenden (ursprünglich sowjetischen)
Pipelinenetzes, um den Bau neuer Ölleitungen, die Rußland umgehen könnten, zu
verhindern. Strategische Analysen russischerseits haben ausdrücklich
festgestellt, daß Moskau dieses Gebiet als seine angestammte geopolitische
Interessensphäre betrachtet, auch wenn es nicht mehr Bestandteil seines
Imperiums ist.
Der Eifer, mit dem der Kreml auf den Territorien der neuen Staaten militärisch
präsent zu bleiben trachtete, läßt die geopolitischen Absichten Rußlands
erahnen. Moskau machte sich die abchasische Unabhängigkeitsbewegung zunutze, um
Stützpunktrechte in Georgien zu erlangen. Seine Militärpräsenz auf armenischem
Boden legitimierte es damit, daß es die Notlage Armeniens ausnutzte, das im
Krieg gegen Aserbaidschan auf russische Unterstützung angewiesen war. Mit
politischem und finanziellem Druck erpreßte es von Kasachstan die Einwilligung
zum Fortbestehen russischer Militärbasen. Überdies lieferte der Bürgerkrieg in
Tadschikistan der früheren Sowjetarmee einen Vorwand, weiterhin in der Region zu
bleiben.
Moskaus Politik stellt anscheinend noch immer darauf ab, daß sein postimperiales
Beziehungsgeflecht mit Zentralasien die neuen, noch schwachen Staaten allmählich
um ihre Souveränität bringen und der Kommandozentrale der integrierten GUS
unterordnen wird. Um dieses Ziel zu erreichen, rät Rußland den dortigen
Regierungen ab, eigene Armeen auf zustellen, den Gebrauch ihrer jeweiligen
Landessprachen zu pflegen (in denen sie das kyrillische Alphabet nach und nach
durch das lateinische ersetzen), enge Bindungen nach außen zu pflegen und neue
Pipelines zu den Häfen am Arabischen oder am Mittelmeer auszubauen. Sollte
dieser Politik Erfolg beschieden sein, könnte Rußland die Beziehungen dieser
Länder zum Ausland diktieren und über die Verteilung der Einkünfte entscheiden.
Bei der Verfolgung dieses Ziels berufen sich Sprecher der russischen Regierung,
wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, häufig auf das Beispiel der Europäischen
Union. Tatsächlich jedoch erinnert Rußlands Politik gegenüber den
zentralasiatischen Staaten und den Kaukasusrepubliken viel stärker an die
frankophone afrikanische Gemeinschaft — wo die französischen Militärkontingente
und Haushaltssubventionen die Politik und das Wirtschaftsgebaren der
französischsprachigen postkolonialen Staaten bestimmen.
Während es den Russen ganz allgemein darum geht, ihren früheren politischen und
wirtschaftlichen Einfluß auf die Region so weit wie möglich wiederherzustellen
und dafür vor allem die GUS zu instrumentalisieren, scheint es Moskau
geopolitisch in erster Linie auf Aserbaidschan und Kasachstan abgesehen zu
haben. Um eine erfolgreiche politische Gegenoffensive zu starten, muß Rußland
nicht nur den Zugang zur Region abriegeln, sondern auch deren geographischen
Schild durchbrechen.
Moskau muß sein Augenmerk vor allen Dingen auf Aserbaidschan richten. Würde es
sich dem Kreml unterordnen, ließe sich Zentralasien gegen den Westen,
vornehmlich gegenüber der Türkei, abschotten. Dadurch könnte Rußland seinen
Druck auf das widerspenstige Usbekistan und das nicht minder aufsässige
Turkmenistan verstärken. So dient die taktische Zusammenarbeit mit dem Iran in
strittigen Angelegenheiten wie der Verteilung der Konzessionen für
Tiefseebohrungen im Kaspischen Meer dem wichtigen Ziel, Baku zu zwingen, sich
Moskaus Wünschen anzupassen. Ein unterwürfiges Aserbaidschan würde es Moskau
außerdem erleichtern, seine beherrschende Position in Georgien und Armenien zu
festigen.
Auch Kasachstan ist für Rußland höchst verlockend, weil es aufgrund seiner
ethnischen Probleme in einer offenen Konfrontation mit Moskau mit Sicherheit den
kürzeren zöge. Zustatten kommt Moskau zudem die Angst der Kasachen vor einem
immer dynamischeren China sowie der wachsende Unmut der kasachischen Regierung
über dessen Bestrebungen, die von kasachischen Stämmen besiedelte Provinz
Xinjiang jenseits der Grenze gleichzuschalten. Würde sich Kasachstan nach und
nach dem russischen Druck beugen, gerieten Kirgistan und Tadschikistan fast
automatisch in die Einflußsphäre Moskaus, das dann sowohl Usbekistan als auch
Turkmenistan stärker unter Druck setzen könnte.
Rußlands Strategie läuft jedoch den Bestrebungen fast aller auf dem eurasischen
Balkan angesiedelten Staaten zuwider. Ihre neuen politischen Eliten werden gewiß
nicht freiwillig Macht und die Privilegien aufgeben, die sie durch die
Unabhängigkeit gewonnen haben. Während die Russen vor Ort allmählich ihre
vormals privilegierten Posten räumen, entwickeln die neuen Führungskräfte rasch
ein persönliches Interesse an staatlicher Souveränität — ein dynamischer und
ansteckender Prozeß, der gleichfalls in den einst politisch passiven
Bevölkerungen zu beobachten ist, in denen sich ein nationalistisches Denken und,
außerhalb Georgiens und Armeniens, auch ein stärkeres islamisches Bewußtsein
breit machen.
Außenpolitisch wünschten sich Georgien und Armenien (obwohl letzteres von
russischer Unterstützung gegen Aserbaidschan abhängig ist) eine zunehmend engere
Anbindung an Europa. Die zentralasiatischen Staaten mit ihren reichen
Bodenschätzen und ebenso Aserbaidschan würden gern noch mehr amerikanisches,
europäisches, japanisches und neuerdings auch koreanisches Kapital in ihre
Länder locken. Auf diese Weise hoffen sie, ihre wirtschaftliche Entwicklung
wesentlich beschleunigen und ihre Unabhängigkeit festigen zu können. Darum
begrüßen sie auch, daß die Türkei und der Iran eine immer wichtigere Rolle
spielen, in der sie ein Gegengewicht zur russischen Macht und eine Brücke zur
großen muslimischen Welt im Süden sehen.
Ermutigt durch die Türkei und die USA, hat Aserbaidschan nicht nur die
Forderungen Rußlands zurückgewiesen, auf seinem Boden Militärbasen zu errichten,
sondern sich auch dem Ansinnen Moskaus widersetzt, daß alles Öl von Baku zu
einem russischen Schwarzmeerhafen geleitet werden solle. Statt dessen entschied
es sich für eine Doppellösung, die eine zweite, durch Georgien zur Türkei
verlaufende Ölleitung vorsieht. (Eine Pipeline nach Süden durch den Iran, die
ein amerikanisches Unternehmen hätte finanzieren sollen, mußte wegen des
US-Handelsembargos gegen den Iran aufgegeben werden.) Mit großem Trara wurde
1995 eine neue Bahnverbindung zwischen Turkmenistan und dem Iran eröffnet; auf
diesem Weg können Europa und Zentralasien, unter gänzlicher Umgehung Rußlands,
miteinander Handel treiben. Diese Wiedereröffnung der alten Seidenstraße hatte
etwas Symbolträchtiges, da Rußland nun nicht in der Lage ist, Europa von Asien
zu trennen.
Auch Usbekistan tritt immer entschiedener gegen Rußlands Integrationsbemühungen
auf. Sein Außenminister erklärte im August 1996 unverblümt, daß Usbekistan gegen
die Schaffung supranationaler GUS Institutionen ist, die als Mittel zentraler
Kontrolle gebraucht werden können. Die stark nationalistische Haltung der
usbekischen Führung hatte in der russischen Presse bereits scharfe
Verurteilungen ausgelöst wegen Usbekistans strikt prowestlicher Orientierung in
der Wirtschaft, harscher Invektiven gegen die Integrationsverträge innerhalb der
GUS, entschiedener Ablehnung, selbst der Zollunion beizutreten, und wegen einer
methodisch antirussischen Nationalitätenpolitik (sogar Kindergärten, die Russen
benutzen, werden geschlossen) ... Für die Vereinigten Staaten, die in Asien eine
Politik der Schwächung Rußlands verfolgen, ist diese Position ungemein
attraktiv.21
Als Antwort auf russischen Druck ist inzwischen sogar Kasachstan für eine
nichtrussische Nebenroute seiner Erdölexporte. Umirserik Kasenow, der Berater
des kasachischen Präsidenten, drückte es so aus:
»daß Kasachstan auf der Suche nach alternativen Ölleitungen ist, hat sich
Rußland zum Teil selbst zuzuschreiben, zum Beispiel weil es
Transportbeschränkungen für kasachisches Erdöl nach Noworossijsk und von
Tjumen-Öl zu der PawlodarRaffinerie verhängte. Und Turkmenistan betreibt den Bau
einer Gaspipeline in den Iran nicht zuletzt deshalb, weil die Länder der GUS nur
60 Prozent des Weltmarktpreises oder das gelieferte Gas überhaupt nicht
bezahlen.«22
21 Zawtra 28 (Juni 1996).
22 „What Russia Wants in the Transcaucasus and Central
Asia“, Nesawissimaja Gaseta, 24. Januar 1995.
Aus ähnlichen Gründen hat Turkmenistan aktiv die Möglichkeiten einer neuen
Pipeline durch Afghanistan und Pakistan zum Arabischen Meer geprüft, ganz
abgesehen von dem energisch betriebenen Bau neuer Bahnverbindungen mit
Kasachstan und Usbekistan im Norden und zum Iran und zu Afghanistan im Süden.
Auch haben zwischen Kasachen, Chinesen und Japanern erste Sondierungsgespräche
über ein ehrgeiziges Pipelineprojekt stattgefunden, das sich von Zentralasien
bis zum Chinesischen Meer erstrecken würde. Da sich der Westen mit Investitionen
in die Erdöl- und Erdgasförderung, die in Aserbaidschan eine Summe von mehr als
13 Milliarden Dollar erreichen und in Kasachstan sogar weit über 20 Milliarden
Dollar (Stand 1996) hinausgehen, langfristig festgelegt hat, kann angesichts des
weltweiten wirtschaftlichen Drucks und der begrenzten finanziellen Möglichkeiten
Rußlands die ökonomische und politische Isolation dieser Region nicht mehr
aufrechterhalten werden.
Die Angst vor Rußland veranlaßte die zentralasiatischen Staaten außerdem zu
einer stärkeren regionalen Zusammenarbeit. Die im Januar 1993 gegründete
Zentralasiatische Wirtschaftsunion, die anfangs nur auf dem Papier existierte,
erhielt nach und nach Substanz. Selbst der kasachische Präsident Nursultan
Nasarbajew, zuerst überzeugter Verfechter einer neuen Eurasischen Union,
bekehrte sich allmählich zur Idee einer engeren zentralasiatischen Kooperation.
Er befürwortete eine stärkere militärische Zusammenarbeit zwischen den Staaten
der Region und die Unterstützung Aserbaidschans in dessen Bemühen, Öl aus dem
Kaspischen Meer und aus Kasachstan durch die Türkei zu schleusen. Außerdem trat
er dafür ein, russischen und iranischen Versuchen, die Aufteilung des Kaspischen
Schelfs und seiner Bodenschätze unter den Anrainerstaaten zu verhindern,
gemeinsam Widerstand entgegenzusetzen.
In Anbetracht der Tatsache, daß die Regierungen in der Region zu einem
ausgesprochen autoritären Führungsstil neigen, fiel die persönliche Aussöhnung
der wichtigsten Staatsoberhäupter vielleicht noch stärker ins Gewicht. Es war
ein offenes Geheimnis, daß sich die Präsidenten von Kasachstan, Usbekistan und
Turkmenistan nicht grün waren (daraus machten sie ausländischen Besuchern
gegenüber kein Hehl) und der Kreml aufgrund dieser persönlichen Antipathien den
einen um so leichter gegen den anderen auszuspielen vermochte. Mitte der
neunziger Jahre sahen die drei schließlich ein, daß eine engere Zusammenarbeit
für die Bewahrung ihrer neu gewonnenen Souveränität unabdingbar war. Fortan
stellen sie ihre angeblich engen Beziehungen publikumswirksam zur Schau und
betonten, daß sie ihre Außenpolitik künftig miteinander abstimmen wollten.
Noch wichtiger jedoch war das Entstehen einer informellen Koalition innerhalb
der GUS unter der Führung der Ukraine und Usbekistans, die sich der Idee eines
kooperativen, aber 4iicht integrierten Staatenbundes verschrieb. Zu diesem Zweck
unterzeichneten die Ukraine, Usbekistan, Turkmenistan und Georgien mehrere
Abkommen über eine militärische Zusammenarbeit; und im September 1996 gaben die
Außenminister der Ukraine und Usbekistans in einem höchst symbolträchtigen Akt
eine Erklärung heraus, in der sie forderten, daß bei Gipfeltreffen der GUS
künftig nicht mehr Rußlands Präsident, sondern reihum ein anderes Mitglied den
Vorsitz führen solle.
Das Beispiel der Ukraine und Usbekistans verfehlte selbst bei jenen
Regierungschefs, die sich gegenüber Moskaus zentralen Anliegen willfähriger
gezeigt haben, seine Wirkung nicht. Mit einiger Verblüffung dürfte der Kreml die
Erklärung von Kasachstans Nursultan Nasarbajew und Georgiens Eduard
Schewardnadse im September 1996 vernommen haben, sie würden, wenn »unsere
Unabhängigkeit bedroht ist«, aus der GUS austreten. Die zentralasiatischen
Staaten und Aserbaidschan verstärkten auch ihre Aktivitäten in der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit, einem immer noch relativ losen Verbund der
islamischen Staaten in der Region — einschließlich der Türkei, des Iran und
Pakistans — der auf währungspolitischem, wirtschaftlichem und
verkehrstechnischem Gebiet die Beziehungen zwischen den Mitgliedern verbessern
will. Moskau hat sich öffentlich kritisch über diese Initiativen geäußert, sieht
es darin doch — völlig zu Recht — den Versuch, den Zusammenhalt der GUS zu
schwächen. Auf ähnliche Weise sind die Verbindungen mit der Türkei stetig, und
in geringerem Maße auch die zum Iran, verbessert worden. Die turksprachigen
Länder haben die Angebote der Türkei, die neuen nationalen Offizierkorps
auszubilden und für mehrere zehntausend Studenten ihre Universitäten zu öffnen,
gern angenommen. Beim vierten Gipfeltreffen der turksprachigen Länder, das im
Oktober 1996 in Taschkent stattfand und mit türkischer Unterstützung vorbereitet
wurde, ging es um den Ausbau der Transportverbindungen, um verstärkten Handel
sowie um gemeinsame Ausbildungsstandards und um eine engere kulturelle
Zusammenarbeit mit der Türkei. Sowohl die Türkei als auch der Iran waren
besonders rührig, den neuen Staaten beim Aufbau ihrer Fernsehprogramme zu
helfen, über die sie unmittelbaren Einfluß auf ein großes Publikum bekommen.
Ein Festakt in Alma-Ata, der Hauptstadt Kasachstans, im Dezember 1996 brachte
besonders sinnfällig zum Ausdruck, wie sehr die Türkei die Unabhängigkeit der
neuen Staaten zu ihrer eigenen Sache macht. Aus Anlaß des fünften Jahrestages
der Unabhängigkeit Kasachstans wohnte der türkische Staatspräsident Suleiman
Demirel neben Präsident Nasarbajew der Enthüllung eines Denkmals bei: einer 28
Meter hohen goldfarbenen Säule, die ein auf einem greifartigen Wesen stehender
legendärer kasachisch-türkischer Krieger krönt. Bei dieser Gelegenheit huldigte
Kasachstan der Türkei, die ihm bei jedem Schritt seiner Entwicklung zu einem
unabhängigen Staat beigestanden habe, worauf die Türken dem Land einen Kredit in
Höhe von 300 Millionen Dollar gewährten, zusätzlich zu den etwa 1,2 Milliarden,
die türkische Geschäftsleute bereits in Kasachstan investiert haben.
Da weder die Türkei noch der Iran über die Mittel verfügen, Rußland um seinen
regionalen Einfluß zu bringen, haben beide (und der Iran im beschränkteren
Rahmen) die neuen Staaten darin bestärkt, sich einer Reintegration mit ihrem
nördlichen Nachbarn und vormaligen Herrn zu widersetzen. Und das trägt
zweifellos dazu bei, die geopolitische Zukunft der Region offen zu halten.
USA im Wartestand
Die geostrategischen Implikationen für die USA liegen auf der Hand: Amerika ist
geographisch zu weit entfernt, um in diesem Teil Eurasiens eine beherrschende
Rolle zu spielen, aber es ist zu mächtig, um unbeteiligt zuzusehen. Alle Staaten
der Region betrachten Amerikas Engagement als für ihr Überleben notwendig.
Rußland ist einerseits zu schwach, um die Region wieder unter seine Herrschaft
zu zwingen oder andere davon fernzuhalten, und andererseits zu nahe und zu
stark, um ausgeschlossen zu werden. Die Türkei und der Iran sind stark genug, um
ihren Einfluß geltend zu machen, aber ihre Anfälligkeit für ethnische Konflikte
könnte dazu führen, daß die Region mit der Bedrohung aus dem Norden und den
internen Auseinandersetzungen nicht mehr fertig wird. China ist zu mächtig, um
nicht von Rußland und den zentralasiatischen Staaten gefürchtet zu werden, doch
Chinas Präsenz in der Region und seine wirtschaftliche Dynamik erleichtern es
den zentralasiatischen Staaten auch, das Interesse der Welt auf sich zu ziehen.
Amerikas primäres Interesse muß folglich sein, mit dafür zu sorgen, daß keine
einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und daß die
Weltgemeinschaft ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr
hat. Geopolitischer Pluralismus wird nur dann zu einer dauerhaften Realität
werden, wenn ein Netz von Pipeline- und Transportrouten die Region direkt mit
den großen Wirtschaftsknotenpunkten der Welt verbindet, über das Mittelmeer und
das Arabische Meer ebenso wie auf dem Landweg.
Somit kann das Bemühen Rußlands, allein über den Zugang zu bestimmen, nicht
hingenommen werden, da es der regionalen Stabilität abträglich ist.
Rußland aus der Region auszuschließen ist indessen weder wünschenswert noch
machbar, und ebenso wenig ist es sinnvoll, Feindseligkeit zwischen den neuen
Staaten des Gebiets und Rußland zu schüren. Die aktive wirtschaftliche Teilnahme
Rußlands an der Entwicklung der Region ist nämlich ganz entscheidend für deren
Stabilität — und im Gegensatz zu Rußland als ausschließlichem Beherrscher, kann
ein Partner Rußland erhebliche ökonomische Früchte tragen. Größere Stabilität
und vermehrter Reichtum innerhalb der Region würden unmittelbar zu Rußlands
Wohlergehen beitragen und dem Commonwealth, das das Akronym GUS verspricht,
wirklichen Sinn geben. Aber diese kooperative Option wird sich Rußlands Politik
nur dann zu eigen machen, wenn es seine viel ehrgeizigeren, historisch
anachronistischen und auf schmerzliche Weise an den europäischen Balkan
erinnernden Pläne ein für allemal aufgibt. Die Staaten, die Amerikas stärkste
geopolitische Unterstützung verdienen, sind Aserbaidschan, Usbekistan und
(außerhalb dieser Region) die Ukraine, da alle drei geopolitische Drehund
Angelpunkte darstellen. Die Rolle Kiews bestätigt fraglos die These, daß die
Ukraine der kritische Punkt ist, wenn es um Rußlands eigene künftige Entwicklung
geht. Gleichzeitig verdient Kasachstan — in Anbetracht seiner Größe, seines
wirtschaftlichen Potentials und seiner geographisch wichtigen Lage — vorsichtige
internationale Rückendeckung und anhaltende Wirtschaftshilfe. Mit der Zeit
könnte vielleicht ein Wirtschaftswachstum in Kasachstan die ethnische Spaltung
überwinden, die diesen zentralasiatischen Schild gegenüber russischen Druck so
wehrlos macht. In dieser Region hat Amerika ein gemeinsames Interesse nicht nur
mit einer stabilen, prowestlichen Türkei, sondern auch mit dem Iran und mit
China. Eine allmähliche Verbesserung in den amerikanisch-iranischen Beziehungen
würde den globalen Zugang zur Region erheblich erweitern und insbesondere die
unmittelbare Bedrohung abwenden, der Aserbaidschans Überleben ausgesetzt ist.
Chinas wachsende wirtschaftliche Präsenz in der Region und sein Interesse an
ihrer Unabhängigkeit sind ebenfalls deckungsgleich mit den Interessen der USA.
Auch die Rückendeckung, die Pakistan für seine Bemühungen in Afghanistan von
China erhält, ist ein positiver Faktor, denn engere pakistanisch-afghanische
Beziehungen würden den internationalen Zugang zu Turkmenistan erleichtern und
dabei diesem Staat wie auch Usbekistan (falls Kasachstan zögern sollte) zugute
kommen.
Ausschlaggebend für die Zukunft der Kaukasusrepubliken dürfte die weitere
Entwicklung und politische Orientierung der Türkei sein. Wenn sie ihren Kurs auf
Europa beibehält — und wenn Europa ihr nicht die Türen zuschlägt — werden die
Kaukasusstaaten vermutlich in den Einflußbereich Europas streben, eine Aussicht,
die sie glühend herbeisehnen. Aber wenn die Europäisierung der Türkei aus
innenpolitischen oder äußeren Gründen ins Stocken gerät, dann wird Georgien und
Armenien keine andere Wahl bleiben, als sich Rußlands Willen anzupassen. Ihre
Zukunft wird dann von Rußlands eigenem sich entwickelnden Verhältnis zu dem
größer werdenden Europa abhängen, im positiven wie im negativen Sinn.
Die Rolle des Irans ist wahrscheinlich noch problematischer. Eine Rückkehr zu
einer prowestlichen Einstellung würde die Stabilisierung und Konsolidierung der
Region gewiß erleichtern, daher ist es für Amerika strategisch wünschenswert,
eine solche Wendung im Verhalten des Irans zu fördern. Vorerst aber droht der
Iran eine negative Rolle zu spielen und die Aussichten Aserbaidschans selbst
dann nachteilig zu beeinflussen, wenn er positive Schritte, wie etwa die Öffnung
Turkmenistans gegenüber der Welt, unternimmt, und trotz des gegenwärtigen
iranischen Fundamentalismus, der das Bewußtsein der Zentralasiaten für ihr
religiöses Erbe stärkt.
Letztendlich wird wohl die Zukunft Zentralasiens von noch komplexeren Umständen
abhängen und das Schicksal seiner Staaten von dem schwierigen Wechselspiel
russischer türkischer, iranischer und chinesischer Interessen bestimmt sein. Von
entscheidender Bedeutung ist ferner inwieweit die Vereinigten Staaten ihre
Beziehungen zu Rußland davon abhängig machen, ob Moskau die Unabhängigkeit der
neuen Staaten respektiert. Angesichts dieser komplizierten Sachlage verbieten
sich etwaige Großmachtphantasien oder Monopolansprüche der beteiligten
geostrategischen Akteure von selbst. Vielmehr bleibt im Grunde nur die Wahl
zwischen einem empfindlichen regionalen Gleichgewicht — das die Voraussetzung
böte, um die Region schrittweise in die entstehende Weltwirtschaftsordnung
einzugliedern, während sich die Staaten der Region konsolidieren und
wahrscheinlich eine ausgeprägtere islamische Identität annehmen — und ethnischem
Konflikt, politischer Zersplitterung und womöglich sogar offenen
Feindseligkeiten entlang der russischen Südgrenzen. Vorrangiges Ziel jeder
umfassenden amerikanischen Geostrategie für Eurasien muß es daher sein, dieses
regionale Gleichgewicht herzustellen und zu festigen.
6DER FERNÖSTLICHE ANKER
Eine wirksame amerikanische Politik für Eurasien muß auch im Fernen Osten
verankert sein, unabdingbare Voraussetzung dafür ist, daß Amerika auf dem
asiatischen Festland präsent bleibt, weder ausgeschlossen wird noch sich selbst
ausschließt. Eine enge Beziehung zum japanischen Inselstaat ist für Amerikas
Weltpolitik unerläßlich und ein kooperatives Verhältnis zu China für seine
eurasische Geostrategie dringend geboten. Diese Sachlage muß in ihrer ganzen
Tragweite ins Auge gefaßt werden, denn aus dem Wechselspiel der drei Großmächte
im Fernen Osten — Amerika, China und Japan — könnte in der Region ein
gefährlicher Hexenkessel entstehen mit der sehr wahrscheinlichen Folge
geopolitisch tief greifender Machtverschiebungen.
Für China sollten die USA als Anrainer auf der anderen Seite des Pazifischen
Ozeans ein natürlicher Verbündeter sein, da Amerika nichts gegen das asiatische
Festland im Schilde führt und in der Vergangenheit sowohl russischen als auch
japanischen Übergriffen auf ein schwächeres China entgegengetreten ist. Das
gesamte letzte Jahrhundert hindurch war Japan für die Chinesen der Hauptfeind.
Rußland hat es lange Zeit mißtraut, und auch Indien türmt sich jetzt als
potentieller Gegner auf. Der Grundsatz »Der Nachbar meines Nachbarn ist mein
Verbündeter« trifft also das geopolitische und historische Verhältnis zwischen
China und den Vereinigten Staaten genau.
Amerika ist jedoch nicht mehr Japans Gegner jenseits des Meeres, sondern eng mit
ihm verbündet. Es unterhält außerdem gute Beziehungen zu Taiwan und zu
verschiedenen südostasiatischen Nationen. Die Chinesen reagieren empfindlich auf
die amerikanischen Vorhaltungen wegen der restriktiven Innenpolitik ihres
gegenwärtigen Regimes. Daher betrachtet China die USA als das Haupthindernis
sowohl in seinem Bemühen um eine herausragende Rolle auf globaler Ebene als auch
in seinem Drängen nach der Vorrangstellung in der Region. Ist somit ein Konflikt
zwischen Amerika und Japan unausweichlich?
Für Japan waren die USA der Schutzschirm, unter dem es sich unbesorgt von der
verheerenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg erholen, wirtschaftlich wieder auf
die Beine kommen und dann sukzessive zu einer der führenden Nationen der Welt
aufsteigen konnte. Aber eben dieser Schutzschirm schränkt Japan in seiner
Handlungsfreiheit ein und hat zu der paradoxen Lage geführt, daß eine Weltmacht
zugleich ein Protektorat ist. Amerika bleibt für Japan bei seinem Aufstieg zur
internationalen Führungsmacht auch weiterhin ein unverzichtbarer Partner.
Zugleich aber ist Amerika der Hauptgrund dafür, daß es Japan auf
sicherheitspolitischem Gebiet nach wie vor an nationaler Selbständigkeit
mangelt. Wie lange kann diese Situation noch andauern?
Mit anderen Worten: Zwei geopolitische Fragen von zentraler Bedeutung — die eng
miteinander verknüpft sind — werden bis auf weiteres die Rolle der USA im fernen
Osten Eurasiens bestimmen:
1. Was heißt es praktisch, wenn China zur beherrschenden Regionalmacht aufsteigt
und zunehmend nach dem Status einer Weltmacht strebt, und inwieweit können die
USA die Ausdehnung seines Einflußgebiets hinnehmen?
2. Wie sollte Amerika, da Japan für sich eine Rolle in der Weltpolitik zu
definieren sucht, mit den regionalen Konsequenzen umgehen, die sich zwangsläufig
daraus ergeben, wenn Japan den Status eines amerikanischen Protektorats immer
weniger zu akzeptieren bereit sein wird?
Die geopolitische Bühne Ostasiens ist derzeit durch metastabile
Machtverhältnisse gekennzeichnet. Metastabilität umschreibt eine Situation
äußerer Starrheit, aber relativ geringer Festigkeit, die, so gesehen, eher an
Eisen als an Stahl gemahnt. In einem solchen Gefüge könnte bereits ein einziger
mächtiger Schlag eine Kettenreaktion mit verheerenden Folgen auslösen. Der Ferne
Osten erlebt gegenwärtig eine Art Wirtschaftswunder und daneben wachsende
politische Unsicherheit. Womöglich trägt sogar das asiatische
Wirtschaftswachstum zu dieser Unsicherheit bei, weil die Prosperität über die
politischen Schwachpunkte der Region hinwegtäuscht, zumal sie nationale
Ambitionen verstärkt und soziale Erwartungen vergrößert.
daß das asiatische Wirtschaftswunder in der Menschheitsgeschichte nicht
seinesgleichen hat, versteht sich von selbst. Schon ein paar grundlegende
statistische Daten machen dies überdeutlich. Vor weniger als vier Jahrzehnten
stellte Ostasien (einschließlich Japan) etwa vier Prozent des weltweiten
Bruttosozialprodukts, während Nordamerika mit ungefähr 35 bis 40 Prozent an der
Spitze stand; Mitte der neunziger Jahre hatten die beiden Regionen annähernd
gleichgezogen (um die 25 Prozent). Ebenfalls historisch beispiellos ist die
Wachstumsrate in Asien gewesen. Wirtschaftswissenschaftler haben darauf
hingewiesen, daß Großbritannien in der Anfangsphase der Industrialisierung mehr
als fünfzig Jahre und die USA knapp fünfzig Jahre gebraucht haben, um ihre
jeweilige Pro-Kopf-Leistung zu verdoppeln, wohingegen China wie auch Südkorea es
in ungefähr zehn Jahren schafften. Wenn es zu keinen massiven Turbulenzen in der
Region kommt, wird Asien innerhalb eines Vierteljahrhunderts wahrscheinlich mit
seinem Bruttosozialprodukt sowohl Nordamerika als auch Europa überholen.
Jedoch ist Asien nicht nur dabei, das ökonomische Gravitationszentrum der Welt
zu werden, es könnte sich auch als politisches Pulverfaß erweisen. Zwar
überflügelt es mit seinem Wirtschaftswachstum Europa, doch steckt es mit seiner
politischen Entwicklung noch in den Kinderschuhen. Es fehlen ihm die Strukturen
multilateraler Zusammenarbeit, die die politische Landschaft Europas prägen und
die territorialen, ethnischen und nationalen Konflikte, die es dort von jeher
gegeben hat, abschwächen, dämpfen und eindämmen. Es gibt in Asien nichts der
Europäischen Union oder auch der NATO Vergleichbares. Keine der drei regionalen
Verbände -ASEAN (Vereinigung der südostasiatischen Nationen), ARF (Asiatisches
Regionalforum, sicherheitspolitisches Forum der ASEAN Staaten) und APEC (Gruppe
für wirtschaftliche Zusammenarbeit im asiatischpazifischen Raum) — entspricht
auch nur im entferntesten dem Netz multilateraler und regionaler Beziehungen,
das die Staaten Europas miteinander verbindet.
Im Gegenteil: Wie kein anderer Teil der Welt ist Asien heute ein Herd
aufstrebender, bis vor kurzem noch schlummernder Nationalismen. Angefacht durch
den plötzlichen Zugang zu Massenkommunikationsmitteln, wurden sie von den
wachsenden gesellschaftlichen Erwartungen geschürt, die wiederum der
wirtschaftliche Wohlstand und die sich zusehends vertiefende Kluft zwischen Arm
und Reich hervorgerufen haben. Bevölkerungsexplosion und fortschreitende
Verstädterung erleichtern es, die Menschen zu mobilisieren. Die dramatische
Steigerung des asiatischen Waffenpotentials macht diese Lage noch bedrohlicher.
Nach Erkenntnissen des internationalen Instituts für strategische Studien wurde
die Region 1995 zum größten Waffenimporteur der Welt und übertraf damit Europa
und den Nahen Osten.
Kurzum, Ostasien brodelt vor Tatendrang und Energie, die bisher durch das rapide
Tempo des regionalen Wirtschaftswachstums in friedliche Bahnen gelenkt wurden.
Aber dieses Sicherheitsventil könnte eines Tages versagen, wenn politische
Leidenschaften die Oberhand gewinnen. Und Anlässe gibt es genug angesichts der
zahlreichen ungelösten Probleme und strittigen Fragen, die ein gefundenes
Fressen für Demagogen und somit potentiell hochexplosiv sind:
- Der Unmut Chinas über den Sonderstatus Taiwans wächst in dem Maße, wie es
selbst mächtiger wird und das prosperierende Taiwan mit dem offiziellen Status
eines Nationalstaats zu liebäugeln beginnt.
- Die Paracel- und Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer bergen das Risiko, daß
es wegen der Frage des Zugangs zu wertvollen Ölquellen auf dem Meeresboden zu
einem Zusammenstoß zwischen China und verschiedenen südostasiatischen Staaten
kommt, zumal China das Südchinesische Meer als sein legitimes nationales Erbe
reklamiert.
- Auf die Senkaku-Inseln erheben sowohl die Japaner als auch die Chinesen
Anspruch (hierin sind sich die Rivalen Taiwan und Volksrepublik China einig),
und die uralte Rivalität zwischen Japan und China um die regionale Vorherrschaft
verleiht dieser strittigen Frage auch eine symbolische Bedeutung.
- Die Teilung Koreas und die damit einhergehende Instabilität Nordkoreas — die
durch Nordkoreas Streben nach Atomwaffen noch gefährlicher wird — birgt die
Gefahr, daß eine plötzliche Explosion die Halbinsel in einen Krieg stürzen
könnte, der wiederum die Vereinigten Staaten mit hineinziehen und indirekt auch
Japan betreffen würde.
- Die Frage der südlichsten Kurilen-Inseln, die sich die Sowjetunion 1945
einverleibte, lähmt und vergiftet weiterhin die russisch-japanischen
Beziehungen.
- Andere latente Konflikte territorial ethnischer Art haben mit
russisch-chinesischen, chinesisch-vietnamesischen, japanisch-oreanischen und
chinesisch-indischen Grenzproblemen, möglichen ethnischen Unruhen in der Provinz
Xinjiang und chinesisch-indonesischen Streitigkeiten über ozeanische
Grenzverläufe zu tun (Siehe Karte Seite 225).
Hinzu kommt die unausgewogene Machtverteilung in der Region. China stellt mit
seinem Atomwaffenarsenal und seiner großen Armee ganz klar die beherrschende
Militärmacht (siehe nachfolgende Karte) dar. Die Chinesische Marine hat bereits
eine Strategie der »seegestützten Verteidigung« ausgearbeitet und strebt
innerhalb der nächsten 15 Jahre ein hochseetaugliches Potential zur »wirksamen
Kontrolle der Gewässer innerhalb der ersten Inselkette« (gemeint sind die Straße
von Taiwan und das Südchinesische Meer) an. Zwar verstärkt auch Japan seine
militärische Schlagkraft, deren Qualität in der Region ihresgleichen sucht.
Gegenwärtig jedoch sind die japanischen Streitkräfte kein Werkzeug der
Außenpolitik des Inselstaates und werden zum größten Teil als verlängerter Arm
der militärischen Präsenz der USA im Fernen Osten betrachtet.
Das stärkere Gewicht, das China inzwischen auf der internationalen Bühne
genießt, hat bereits seine südöstlichen Nachbarn zu größerer Willfährigkeit
gegenüber chinesischen Anliegen veranlaßt. Es ist bemerkenswert, daß während der
Minikrise um Taiwan Anfang 1996 (in der sich China an einigen drohenden
Militärmanövern beteiligte und den Luft- und Seeweg zu einem Gebiet nahe Taiwan
abriegelte und damit sogleich ein demonstratives Flottenaufgebot der USA auf den
Plan rief) sich der thailändische Außenminister zu erklären beeilte, eine solche
Abriegelung sei durchaus normal, sein indonesischer Amtskollege behauptete, es
handele sich um eine rein chinesische Angelegenheit, während die Philippinen und
Malaysia für eine Politik der Neutralität in dieser strittigen Frage eintraten.
Asiatische Armeestärken:
Aktive Armeestärke |
|
Panzer Total |
Flugzeuge Total |
Kriegsschiffe Total |
U-Boote Total |
|
Total |
|
(Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf technologisch hochwertige systeme, gebaut ab Mitte der 60er Jahre) |
China |
3030000 |
|
9400 (500) |
5224 (124) |
57 (40) |
53 (7) |
Pakistan |
577 000 |
1890 (40) |
336 (160) |
11 (8) |
6 (6) |
Indien |
1100000 |
3500 (2700) |
700 (374) |
21 (14) |
18 (12) |
Thailand |
295 000 |
633 (313) |
74 (18) |
14 (6) |
0 (0) |
Singapur |
55 500 |
350 (0) |
143 (6) |
0 (0) |
0 (0) |
Nordkorea |
1127000 |
4200 (2225) |
730 (136) |
3 (0) |
23 (0) |
Südkorea |
633 000 |
1 860 (450) |
334 (48) |
17 (9) |
3 (3) |
Japan |
237700 |
1200 (929) |
324 (231) |
62 (40) |
17(17) |
Taiwan* |
442 000 |
1400 (0) |
460 (10) |
38 (11) |
4 (2) |
Vietnam |
857 000 |
1 900 |
(400) 240 (0) |
7 (5) |
0 (0) |
Malaysia** |
114 500 |
26 (26) |
50 (0) |
2 (0) |
0 (0) |
Philippinen |
106 500 |
41 (0) |
7 (0) |
1 (0) |
0 (0) |
Indonesien
| 270900 |
235 (110) |
54 (12) |
17 (4) |
2 (2) |
* Taiwan hat 150 F-16, 60 Mirage und 130 weitere Kampfbomber geordert und baut
zur Zeit an mehreren Kriegsschiffen. ** Malaysia kauft 8 F-18 und wahrscheinlich
18 MIG-29 Kampfflugzeuge.
Quelle: »General Accounting Office-Bericht«, Impact of China's Military
Modernization in the Pacific Region, Juni 1995.
Das nicht vorhandene Machtgleichgewicht in der Region hat Australien und
Indonesien — die einander zuvor mit ziemlichem Mißtrauen begegnet waren — in
jüngster Zeit zu immer engerer Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet
veranlaßt. Beide Länder machen kein Hehl aus ihrer Besorgnis über die
langfristigen Aussichten einer militärischen Vorherrschaft Chinas in der Region
und über das Stehvermögen der Vereinigten Staaten als Sicherheitsgarant. Diese
Sorge hat auch Singapur bewogen, eine engere Zusammenarbeit in
Sicherheitsbelangen mit den genannten Nationen auszuloten. Tatsächlich stellen
sich Strategen in der gesamten Region inzwischen die zentrale, aber noch
unbeantwortete Frage: »Wie lange können 100 000 amerikanische Soldaten den
Frieden in der bevölkerungsreichsten und inzwischen fast am höchsten gerüsteten
Region der Welt noch sichern? Und wie lange werden sie überhaupt noch bleiben?
In dieser brisanten Atmosphäre immer ausgeprägterer Nationalismen, rapide
steigender Bevölkerungszahlen, wachsenden Reichtums, explodierender Erwartungen
und sich überschneidenden Machtstrebens spielen sich tief greifende
Veränderungen in der geopolitischen Landschaft Ostasiens ab:
- China ist eine aufstrebende und bald vielleicht schon beherrschende Macht,
egal, wie seine Absichten im einzelnen aussehen mögen.
- Amerikas Rolle als Sicherheitsgarant gerät in immer stärkere Abhängigkeit von
der Zusammenarbeit mit Japan.
- Japan ist auf der Suche nach einer klarer umrissenen und autonomen Rolle in
der Weltpolitik.
- Rußland hat erheblich an Einfluß verloren, während früher von der Sowjetunion
dominierte Zentralasien Gegenstand internationalen Wettstreits geworden ist.
Diese Verwerfungen verleihen den beiden zentralen Problemen, die am Anfang
dieses Kapitels dargestellt wurden, zusätzliches Gewicht.
China: Regionale, aber keine Weltmacht
China kann auf eine große Geschichte zurückblicken. Das gegenwärtig starke
Nationalgefühl des chinesischen Volkes ist nur in seiner gesellschaftlichen
Verbreitung neu, denn nie zuvor identifizierten sich so viele Chinesen, auch
emotional, mit ihrem Staat und den Geschicken ihres Landes. Anders als zu Beginn
dieses Jahrhunderts, wo vor allem Studenten für einen politischen Nationalismus
eintraten und damit dem Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas den Weg
ebneten, ist der chinesische Nationalismus inzwischen ein Massenphänomen und
bestimmt das Bewußtsein des bevölkerungsreichsten Staates der Welt.
Dieses Bewußtsein hat tiefe historische Wurzeln. Aufgrund der nationalen
Geschichte neigt die chinesische Führung dazu, China für den natürlichen
Mittelpunkt der Welt zu halten. Nun enthält das chinesische Wort für China —
Chung-kuo oder »Reich der Mitte« — einerseits die Vorstellung von Chinas
zentraler Rolle im Weltgeschehen und bekräftigt andererseits die Bedeutung
nationaler Einheit. Der Begriff beinhaltet zugleich, daß der Einfluß von einem
Machtzentrum ausgeht und in hierarchischen Abstufungen die Randzonen erfaßt;
daher erwartet China als der Mittelpunkt von seinen Nachbarn Ehrerbietung und
Achtung.
Seit undenklichen Zeiten ist China mit seiner riesigen Bevölkerung eine
eigenständige und stolze Zivilisation ganz besonderer Art gewesen. Diese
Zivilisation war auf allen Gebieten hoch entwickelt: im Bereich der Philosophie,
der Kultur, der Künste, der gesellschaftlichen Fähigkeiten, des technischen
Erfindungsreichtums und der politischen Macht. Die Chinesen erinnern daran, daß
China bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts weltweit die höchste
landwirtschaftliche Produktivitäts- und industrielle Innovationsrate sowie den
höchsten Lebensstandard hatte. Aber im Unterschied zur europäischen und
islamischen Zivilisation, aus denen etwa 75 Staaten hervorgegangen sind, ist
China in seiner Geschichte fast immer ein einziger Staat geblieben, der zur Zeit
der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bereits mehr als 200 Millionen
Menschen umfaßte und dessen Manufakturen führend auf der Welt waren.
So gesehen, ist Chinas Niedergang, die Demütigung der letzten 150 Jahre, eine
Verirrung, eine Entweihung des besonderen Ranges, den China immer genoß, und
eine für jeden Chinesen persönliche Beleidigung. Sie muß getilgt werden, und
diejenigen, die dieses Verbrechen begangen haben, müssen gebührend bestraft
werden. Daran waren, in unterschiedlichem Maße, hauptsächlich vier Mächte
beteiligt: Großbritannien, Japan, Rußland und Amerika — Großbritannien wegen des
Opiumkriegs und der daraus folgenden schmachvollen Erniedrigung Chinas; Japan
wegen der Raubkriege in den letzten hundert Jahren, die entsetzliches (und bis
heute ungesühntes) Leid über das chinesische Volk brachten; Rußland wegen seiner
fortgesetzten Übergriffe auf chinesisches Territorium im Norden und weil Stalin
die chinesische Selbstachtung mit Füßen trat; und schließlich Amerika, das mit
seiner militärischen Präsenz in Asien und seiner Unterstützung Japans Chinas
außenpolitischen Bestrebungen im Weg steht.
Zwei der vier Mächte hat nach Ansicht der Chinesen bereits die Geschichte
bestraft. Großbritannien ist kein Weltreich mehr, und mit dem Einholen des Union
Jack in Hongkong ist dieses besonders schmerzliche Kapitel ein für allemal
beendet. Rußland mußte in seiner Stellung, seinem Ansehen und Territorium zwar
starke Einbußen hinnehmen, bleibt aber nach wie vor der unmittelbare Nachbar.
Doch die ernstesten Probleme wirft Chinas Verhältnis zu Amerika und Japan auf.
Welche Rolle es künftig in der Region und in der Welt spielen wird, hängt
wesentlich davon ab, wie sich dieses Verhältnis gestaltet.
In erster Linie kommt es jedoch darauf an, wie sich China entwickelt, wie
mächtig es auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet letzten Endes wird.
Deshalb sind die Voraussagen für China, wenn auch mit einigen größeren
Unwägbarkeiten behaftet und unter manchen Einschränkungen, im großen und ganzen
viel versprechend. Sowohl aufgrund der Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft
als auch aufgrund des ausländischen Investitionsaufkommens — mit beiden bewegt
sich China ganz oben auf der internationalen Skala — kann man die Prognose
aufstellen, daß China innerhalb der, grob gesagt, nächsten zwei Jahrzehnte zu
einer Weltmacht aufsteigen wird, etwa gleichauf mit den Vereinigten Staaten und
Europa (vorausgesetzt, es kommt dort zu einer Erweiterung und Einigung). Bis zu
diesem Zeitpunkt könnte China ein Bruttosozialprodukt erreichen, das über das
Japans beträchtlich hinausgeht. Das russische übersteigt es bereits jetzt
erheblich. Angesichts dieser wirtschaftlichen Dynamik dürfte sich China eine
Militärmacht leisten können, die alle seine Nachbarn einschüchtern wird,
vielleicht sogar jene Widersacher chinesischen Ehrgeizes, die, geographisch
gesehen, weiter weg sind. Mit der Einverleibung Hongkongs und Macaos und
vielleicht auch durch eine am Ende erfolgende politische Subordination Taiwans
zusätzlich gestärkt, wird ein Großchina entstehen, das nicht nur den Fernen
Osten dominiert, sondern auch eine Weltmacht erster Ordnung ist.
Allerdings birgt jede Prognose eines zwangsläufig wiedererstehenden »Reichs der
Mitte« gewisse Fehleinschätzungen, deren offensichtlichste mit dem
unerschütterlichen Vertrauen auf statistische Voraussagen zu tun haben. Genau
diesem Trugschluß erlagen vor kurzer Zeit jene, die vorhersagten, daß Japan die
USA als weltweit führende Wirtschaftsmacht ablösen würde und unweigerlich zum
neuen Superstaat aufsteigen werde. Diese Sichtweise stellte weder die
Verwundbarkeit der japanischen Wirtschaft noch das Problem politischer
Diskontinuität in Rechnung — und den gleichen Fehler begehen jene, die den
zwangsläufigen Aufstieg Chinas zur Weltmacht verkünden und auch befürchten.
Zunächst einmal ist es alles andere als sicher, ob China sein explosives
Wachstumstempo in den nächsten beiden Jahrzehnten beibehalten kann. Eine
ökonomische Verlangsamung läßt sich nicht ausschließen, und das allein brächte
schon die gängige Prognose um ihre Glaubwürdigkeit. Um solche Wachstumsraten
über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten zu können, bedürfte es einer
ganz ungewöhnlich glücklichen Koinzidenz günstiger Voraussetzungen, als da sind
eine erfolgreiche Staatsführung, Ruhe im Lande, soziale Disziplin, hohe
Sparzuwächse, ein weiterhin starker Zustrom ausländischer Investitionen und
regionale Stabilität. Eine anhaltende Verbindung dieser positiven Faktoren ist
mehr als fraglich.
Zudem dürfte Chinas enormes Wirtschaftswachstum politische Nebenwirkungen
zeitigen, die es in seiner Handlungsfreiheit einschränken könnten. Der
Energieverbrauch des Landes nimmt bereits jetzt in einem Maße zu, das die
heimische Förderung bei weitem übersteigt. Diese Kluft zwischen Nachfrage und
Angebot wird auf jeden Fall größer werden, besonders dann, wenn Chinas
Wachstumsrate weiterhin so hoch bleibt. Das gleiche gilt für die Ernährungslage.
Auch wenn sich das demographische Wachstum jetzt etwas verlangsamt, nimmt die
chinesische Bevölkerung in absoluten Zahlen stetig zu, so daß
Lebensmittelimporte für das Wohlergehen der Menschen und die politische
Stabilität immer unverzichtbarer werden. Die Abhängigkeit von Importen wird
nicht nur Chinas Finanzen aufgrund höherer Kosten belasten, sie machen das Land
auch wehrloser gegen Druck von außen.
Militärisch gesehen, könnte sich China teilweise als Weltmacht qualifizieren, da
die schiere Größe seiner Volkswirtschaft und ihre hohen Wachstumsraten die
Regierenden in die Lage versetzen dürften, einen erheblichen Teil des
Bruttosozialprodukts für eine bedeutende Erweiterung und Modernisierung seiner
Streitkräfte einschließlich der Aufstockung seines Arsenals an strategischen
Atomwaffen abzuzweigen. Wenn allerdings hierbei übertrieben wird (und nach
Schätzungen westlicher Kreise verschlangen die Militärausgaben bereits Mitte der
neunziger Jahre etwa 20 Prozent des chinesischen Bruttosozialprodukts), könnte
sich das genauso negativ auf Chinas langfristige Wirtschaftsentwicklung
auswirken, wie die Niederlage der UDSSR im Rüstungswettlauf mit Amerika auf die
sowjetische Wirtschaft. Darüber hinaus zögen größere chinesische
Rüstungsanstrengungen sehr wahrscheinlich eine Aufrüstung Japans nach sich,
wodurch der politische Nutzen einer wachsenden militärischen Stärke Chinas zum
Teil wieder zunichte gemacht würde. Und man darf dabei nicht übersehen, daß es
China, abgesehen von seinen Atomwaffen, in nächster Zeit wahrscheinlich noch an
den nötigen Mitteln fehlen wird, sich außerhalb der Region als Militärmacht zu
behaupten.
Auch innerhalb Chinas könnten sich die Spannungen verschärfen, da das hochgradig
beschleunigte, durch die hemmungslose Ausbeutung marginaler Vorteile
angetriebene Wirtschaftswachstum unweigerlich zu einer sozialen Schieflage
führt. Die südlichen und östlichen Küstenstreifen waren ebenso wie die
wichtigsten städtischen Zentren — die den ausländischen Investitionen und dem
Überseehandel leichter zugänglich sind bisher die Hauptnutznießer des
eindrucksvollen Wirtschaftswachstums. Im Gegensatz dazu hinken die ländlichen
Gebiete im Landesinneren ganz allgemein sowie einige abgelegene Regionen
deutlich hinterher (mit über 100 Millionen Arbeitslosen unter der
Landbevölkerung).
Der Unmut über regionale Disparitäten und der Zorn über soziale Ungleichheit
könnten sich gegenseitig hochschaukeln. Chinas rapides Wachstum vertieft die
Kluft in der Verteilung des Wohlstands. Eines Tages könnten diese Spannungen die
politische Stabilität des Landes massiv beeinträchtigen, entweder weil die
Regierung womöglich diese Unterschiede zu begrenzen versucht oder sich von unten
her sozialer Unmut regt.
Der zweite Grund für vorsichtige Skepsis gegenüber weit verbreiteten Prognosen,
die China innerhalb des nächsten Vierteljahrhunderts zu einer dominierenden
Macht in der Weltpolitik aufsteigen sehen, ist die Zukunft der chinesischen
Politik. Der dynamische Charakter von Chinas grundlegender wirtschaftlicher
Veränderung, einschließlich seiner Aufgeschlossenheit gegenüber dem Rest der
Welt, ist auf lange Sicht mit einer relativ geschlossenen, bürokratisch starren
kommunistischen Diktatur nicht vereinbar. Bei dem Kommunismus, den diese
Diktatur verkündet, geht es weniger um ideologisches Engagement als um die
persönlichen Interessen einer Parteibürokratie. Die Organisationsstruktur der
politischen Führung Chinas ist nach wie vor die einer in sich geschlossenen,
starren, disziplinierten, durch Intoleranz und Meinungsmonopol geprägten
Hierarchie, die immer noch rituell ihre Treue zu einem Dogma verkündet, das ihre
Macht rechtfertigen soll, aber dieselbe Elite nicht mehr mit gesellschaftlichem
Leben erfüllt. Wenn die chinesische Politik nicht langsam beginnt, sich an die
sozialen Erfordernisse der chinesischen Volkswirtschaft anzupassen, werden diese
beiden Seiten der Wirklichkeit irgendwann frontal auf einander prallen.
Eine Demokratisierung läßt sich auf die Dauer nicht umgehen, es sei denn, China
trifft plötzlich dieselbe Entscheidung, die es im Jahre 1474 getroffen hat: sich
von der Welt abzuschotten, etwa so wie das heutige Nordkorea. Dazu müßte China
seine mehr als 70 000 Studenten, die gegenwärtig in Amerika studieren,
zurückrufen, ausländische Geschäftsleute des Landes verweisen, seine Computer
abschalten und von Millionen chinesischen Häusern die Satellitenschüsseln
herunterreißen. Es wäre ein Akt des Wahnsinns, vergleichbar der
Kulturrevolution. Eine Weile könnte vielleicht noch ein dogmatischer Flügel der
herrschenden, aber immer schwächer werdenden Kommunistischen Partei im Zuge
eines innenpolitischen Machtkampfs Nordkorea nachzuahmen versuchen, doch wäre
das allenfalls eine kurze Episode. Höchstwahrscheinlich würde ein solcher
Versuch zu wirtschaftlicher Stagnation führen und eine politische Explosion
auslösen.
Eine freiwillige Isolation wäre auf alle Fälle das Ende jedes ernsthaften
chinesischen Anspruchs auf regionale Vorherrschaft, geschweige denn auf eine
führende Rolle im internationalen Machtgefüge. Zudem hängt für das Land zuviel
von einem Zugang zur Welt ab, und diese Welt ist, anders als die von 1474,
einfach zu allgegenwärtig, um wirksam ausgesperrt zu werden. Daher gibt es zu
einer weiteren Öffnung Chinas gegenüber der Welt keine praktische,
wirtschaftlich rentable und politisch gangbare Alternative.
Die Forderung nach Demokratisierung wird die chinesische Führung nicht mehr
loslassen. Sie kann sich weder ihr noch der ihr verbundenen Menschenrechtsfrage
allzu lange entziehen. Deshalb wird Chinas zukünftiger Fortschritt ebenso wie
sein Auftreten als Großmacht im hohen Maße davon abhängen, wie geschickt seine
herrschende Elite die Machtübergabe von der jetzigen Herrschergeneration auf ein
jüngeres Team handhabt und mit der wachsenden Spannung zwischen den ökonomischen
und politischen Strukturen des Landes fertig wird.
Vielleicht gelingt es der chinesischen Führung, einen langsamen und
evolutionären Übergang zu einem sehr begrenzten Wahlautoritarismus
herbeizuführen, in welchem eine gewisse politische Mitsprache der Bevölkerung
auf unterer Ebene hingenommen wird; danach könnte sie sich auf einen echten
Parteienpluralismus zubewegen, der ein größeres Gewicht auf Anfänge einer
verfassungsmäßigen Regierung einschließt. Ein solch kontrollierter Übergang
entspräche den Erfordernissen der zunehmend offeneren Wirtschaftsdynamik des
Landes besser als das Festhalten an dem Machtmonopol einer einzigen Partei.
Eine solch kontrollierte Demokratisierung verlangt von der politischen Führung
Chinas außerordentliches Geschick und einen von gesundem Menschenverstand
geleiteten Pragmatismus: Sie muß eine relative Geschlossenheit wahren und bereit
sein, etwas von ihrem Machtmonopol (und ihren persönlichen Privilegien)
abzugeben — während die Bevölkerung im großen und ganzen Geduld aufbringen muß
und keine großen Ansprüche stellen darf. Dieses Zusammentreffen glücklicher
Umstände dürfte sich wohl nicht so leicht einstellen. Die Erfahrung lehrt, daß
der Druck von unten, mit dem jene, die sich politisch unterdrückt
(Intellektuelle und Studenten), oder jene, die sich ökonomisch ausgebeutet
fühlen (die neue städtische Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung), auf
Demokratisierung drängen, zumeist stärker ist als die Bereitschaft der
Herrschenden nachzugeben. Irgendwann werden sich wahrscheinlich die politischen
Dissidenten und die sozial Unzufriedenen zusammenschließen, um gemeinsam mehr
Demokratie, Meinungsfreiheit und Beachtung der Menschenrechte einzufordern. 1989
auf dem Platz des Himmlischen Friedens war das noch nicht der Fall, aber beim
nächsten Mal könnte es durchaus dazu kommen.
Folglich wird China eine Phase politischer Unruhen wahrscheinlich nicht erspart
bleiben. Angesichts der Größe des Landes, der wachsenden regionalen Unterschiede
und der Erbschaft von fünfzig Jahren doktrinärer Diktatur könnte sie die
politische Führung wie auch die Wirtschaft in eine schwere Krise stürzen. Damit
scheinen selbst die chinesischen Spitzenpolitiker zu rechnen, sagen doch
interne, Anfang der neunziger Jahre durchgeführte Untersuchungen der
Kommunistischen Partei möglicherweise ernste politische Unruhen voraus.23 Einige
Experten prophezeiten sogar, daß China in den Sog eines der in seiner Geschichte
häufigen Zyklen innerer Zersplitterung geraten könnte; damit wäre sein Aufstieg
zur Weltmacht beendet. Allerdings vermindert der starke Einfluß des
Nationalismus und der modernen Kornmmunikationssysteme, die beide für einen
geeinten chinesischen Staat arbeiten, die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem
solchen Extremfall kommt.
23 Das „Official Document Anticipates Disorder During the Post-Deng Period“,
Hong Kong, 1. Februar 1995, bietet eine detaillierte Zusammenfassung zweier
Analysen, die für die Parteiführung über verschiedene Formen politischer Unruhe
vorbereitet wurden. Eine westliche Sichtweise siehe in Richard Baum, „China
After Deng: Ten Scenarios in Search of Reality“ China Quarterly (März 1996).
Schließlich gibt es noch einen dritten Grund, weshalb man den Aussichten, daß
China im Laufe der nächsten zwanzig Jahre zu einer echten Großmacht und — in den
Augen einiger Amerikaner bereits drohenden — Weltmacht, aufsteigt, mit Skepsis
begegnen sollte. Selbst wenn China von ernsten politischen Krisen verschont
bleibt und selbst wenn es seine außerordentlich hohen Wachstumsraten über ein
Vierteljahrhundert aufrechterhalten kann — beides ist noch sehr die Frage -,
wäre es immer noch ein vergleichsweise armes Land. Selbst bei einem dreimal so
hohen Bruttosozialprodukt würde Chinas Bevölkerung in der nach dem
Pro-Kopf-Einkommen gegliederten Rangliste der Nationen weiterhin einen unteren
Platz einnehmen, gar nicht zu reden von der tatsächlichen Armut eines
bedeutenden Teils des chinesischen Volkes.24 Die Anzahl der Telefonanschlüsse,
Autos und Computer, gar nicht zu reden von Konsumgütern, wäre im internationalen
Vergleich sehr niedrig.
Fazit: Selbst um das Jahr 2020 und selbst unter optimalen Bedingungen ist es
ganz unwahrscheinlich, daß China in den für eine Weltmacht maßgeblichen
Bereichen wirklich konkurrenzfähig werden könnte. Trotzdem ist China auf dem
besten Weg, die bestimmende regionale Macht in Ostasien zu werden. Geopolitisch
beherrscht es bereits das Festland. Auf militärischem und wirtschaftlichem
Gebiet stellt es seine unmittelbaren Nachbarn, mit Ausnahme Indiens, deutlich in
en Schatten. Es ist daher nur natürlich, daß sich China, ganz im Einklang mit
seinen historischen, geographischen und ökonomischen Vorgaben, auf regionaler
Ebene zunehmend durchsetzen wird.
24 In einem etwas optimistischen Bericht, der 1996 vom chinesischen Institute
for Quantitative Economic and Technological Studies herausgegeben wurde, wird
das chinesische Pro-Kopf-Einkommen im Jahre 2010 auf etwa $ 735 geschätzt und
damit weniger als $30 über dem Wert liegen, den die Weltbank ihrer Definition
eines Landes mit niedrigem Einkommen zugrunde gelegt hat.
Chinesische Studenten, die sich mit der Geschichte ihres Landes beschäftigen,
wissen, daß sich Chinas Machtbereich noch im Jahr 1840 über ganz Südostasien bis
hinunter zur Straße von Malakka erstreckte, einschließlich Birma, Teilen des
heutigen Bangladesch sowie Nepal, Gebieten des heutigen Kasachstan, der gesamten
Mongolei und der heute fernöstlichen Provinz Rußlands nördlich der Amur-Münder
(vgl. Karte Seite 31). Diese Gebiete unterstanden entweder irgendeiner Form der
chinesischen Kontrolle oder zahlten an China Tribut. Zwischen 1885 und 1895
verdrängten Briten und Franzosen im Zuge ihrer kolonialen Ausdehnung die
Chinesen aus Südostasien, während zwei ihnen von Rußland aufgezwungene Verträge
in den Jahren 1858 und 1864 territoriale Verluste im Nordosten und Nordwesten
zur Folge hatten. Im Anschluß an den chinesisch-japanischen Krieg verlor China
1895 auch noch Taiwan.
Man kann nahezu mit Bestimmtheit davon ausgehen, daß die Chinesen aufgrund ihrer
Geschichte und Geographie immer nachdrücklicher — und emotionsbeladener — auf
der Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland bestehen. Des weiteren ist
anzunehmen, daß ein mächtiger werdendes China, nachdem es Hongkong
wirtschaftlich integriert und politisch verdaut hat, in den ersten zehn Jahren
des nächsten Jahrhunderts sein Hauptaugenmerk auf dieses Ziel richten wird.
Vielleicht könnte eine friedliche Wiedervereinigung — unter der Formel »eine
Nation, verschiedene politische Systeme« eine Variante des 1984 von Deng
Xiaoping geprägten Slogans: »ein Land, zwei Systeme« bei Taiwan Anklang und den
USA Zustimmung finden, vorausgesetzt, China hat seine ökonomische Entwicklung
erfolgreich weiterverfolgt und bedeutende demokratische Reformen durchgeführt.
Andernfalls wird wahrscheinlich nicht einmal ein regional beherrschendes China
seinen Willen militärisch durchsetzen können, erst recht nicht angesichts einer
amerikanischen Opposition. In diesem Falle dürfte die Taiwan-Frage dem
chinesischen Nationalismus weiterhin enormen Auftrieb geben und dabei die
amerikanisch-chinesischen Beziehungen erheblich belasten.
Geographische Gesichtspunkte stehen auch hinter dem Interesse Chinas, ein
Bündnis mit Pakistan einzugehen und in Birma militärisch präsent zu sein. In
beiden Fällen heißt das geostrategische Ziel Indien. Eine enge militärische
Zusammenarbeit mit Pakistan bringt Indien sicherheitspolitisch in größere
Verlegenheit und hindert es daran, sich selbst als regionale Hegemonialmacht in
Südasien und als Rivale Chinas zu etablieren. Von der militärischen
Zusammenarbeit mit Birma verspricht sich China Zugang zu Marineeinrichtungen auf
küstennahen birmanischen Inseln im Indischen Ozean, mit denen es ein weiteres
strategisches Druckmittel in Südostasien allgemein und der Straße von Malakka im
besonderen erhielte. Und wenn China die Straße von Malakka und den
geostrategischen Dreh- und Angelpunkt Singapur in die Hand bekäme, könnte es
Japans Zugang zu den Ölquellen im Nahen Osten und zu den europäischen Märkten
kontrollieren.
Chinas Interesse an Korea hat neben geographischen auch historische Gründe. Ein
wiedervereinigtes Korea als Verlängerung des amerikanischen (und mittelbar auch
japanischen) Einflusses würde für China eines Tages unerträglich sein. Zumindest
würde China darauf bestehen, daß ein wiedervereinigtes Korea ein neutraler
Pufferstaat zwischen China und Japan wäre, und auch damit rechnen, daß sich
Korea aufgrund seiner traditionellen Animosität gegen Japan von selbst auf die
Seite Chinas schlagen wird. Vorläufig jedoch ist ein geteiltes Korea China am
genehmsten, daher wird es wahrscheinlich für den Fortbestand des
nordkoreanischen Regimes eintreten.
Nicht zuletzt bestimmen natürlich wirtschaftliche Erwägungen die Stoßrichtung
chinesischer Bestrebungen in der Region. So hat zum Beispiel China aufgrund
seines rapide steigenden Energiebedarfs bereits sein Mitspracherecht bei jeder
regionalen Nutzung der Erdöllager im Südchinesischen Meer durchgesetzt. Aus
demselben Grund zeigt China nun ein wachsendes Interesse an der Unabhängigkeit
der an Rohstoffen reichen zentralasiatischen Staaten. Im April 1996
unterzeichneten China, Rußland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan ein
gemeinsames Grenz und Sicherheitsabkommen; und während des Besuchs von Präsident
Jian Zemin in Kasachstan im Juli desselben Jahres soll die chinesische Seite den
»Bemühungen Kasachstans, seine Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale
Integrität zu verteidigen, Unterstützung zugesichert haben. Aus dem bisher
Gesagten geht deutlich hervor, daß sich China künftig zunehmend in die
Geopolitik Zentralasiens einschalten wird.
Geschichte und Ökonomie sind gemeinsam dafür verantwortlich, daß sich ein
regional mächtigeres China immer stärker für Rußlands Fernen Osten interessiert.
Zum ersten Mal, seit China und Rußland eine offizielle Grenze miteinander
teilen, ist China der wirtschaftlich dynamischere und politisch stärkere Part.
Inzwischen hat die Kolonie chinesischer Einwanderer und Händler, die auf
russischem Gebiet leben, bedeutende Ausmaße angenommen, und China setzt sich
inzwischen tatkräftiger für eine nordostasiatische Wirtschaftskooperation ein,
die sich auch auf Japan und Korea erstreckt. Bei dieser Zusammenarbeit hat
Rußland nunmehr die viel schlechteren Karten, während seine fernöstliche Provinz
in wirtschaftlicher Hinsicht zunehmend auf enge Bindungen zur chinesischen
Mandschurei angewiesen ist. Ähnliche ökonomische Kräfte sind auch in Chinas
Beziehungen zur Mongolei am Werk, die kein russischer Satellitenstaat mehr ist
und deren formelle Unabhängigkeit China widerwillig anerkannt hat.
Eine regionale Einflußsphäre Chinas ist also im Entstehen begriffen. Eine
Einflußsphäre sollte jedoch nicht mit einer Zone politischer Vorherrschaft
verwechselt werden, wie sie die Sowjetunion früher in Osteuropa ausübte. Sie ist
sozioökonomisch poröser und auf politischem Gebiet weniger von der
Monopolstellung eines Staates geprägt. Nichtsdestoweniger entsteht dabei ein
geographischer Raum, in dem die einzelnen Staaten bei der Festlegung ihrer
jeweiligen Politik auf die Interessen, Standpunkte und voraussichtlichen
Reaktionen der regional bestimmenden Macht besondere Rücksicht nehmen. Kurz,
eine chinesische Interessensphäre — vielleicht wäre Sphäre der Rücksichtnahme
auf chinesische Interessen eine passendere Formulierung — läßt sich dadurch
charakterisieren, daß die erste Frage, die man sich in den verschiedenen
Hauptstädten bei einem auftauchenden Problem stellt, lautet:
»Was sagt Peking dazu?«
Die nachfolgende Karte (Seite 242) zeigt das Einflußgebiet, das ein in der
Region dominierendes China im Laufe des nächsten Vierteljahrhunderts erlangen
könnte und stellt darüber hinaus die mögliche Einflußsphäre einer Weltmacht
China dar, falls es — allen bereits erwähnten inneren und äußeren Hindernissen
zum Trotz — tatsächlich eine werden sollte. Ein in der Region dominierendes
Großchina, das die politische Unterstützung seiner ungeheuer reichen und
wirtschaftlich mächtigen Diaspora in Singapur, Bangkok, Kuala Lumpur, Manila und
Jakarta, gar nicht zu reden von Taiwan und Hongkong, gewänne (einige
überraschende Daten hierzu finden sich in der Fußnote25) und sowohl nach
Zentralasien als auch in den Fernen Osten Rußlands vordringen würde, entspräche
von seinem Radius her der Ausdehnung des chinesischen Kaiserreichs vor dem
Beginn seines Niedergangs, wobei es durch das Bündnis mit Pakistan seine
geopolitische Einflußzone sogar noch erweitern könnte. Je mehr China an Macht
und Ansehen gewinnt, desto stärker werden sich wahrscheinlich die reichen
Auslandschinesen Pekings Bestrebungen zu eigen machen und damit zu einer
mächtigen Vorhut auf dem Weg Chinas zur Großmacht werden. Die südostasiatischen
Staaten könnten es womöglich für klüger halten, auf Chinas politische
Empfindlichkeiten und ökonomische Interessen Rücksicht zu nehmen — und tun dies
bereits in zunehmendem Maße.26 Ähnlich betrachten die neuen zentralasiatischen
Länder China mehr und mehr als eine Macht, die an ihnen als unabhängige
Pufferstaaten zwischen China und Rußland ein echtes Interesse hat.
25 Laut Yazhou Zhoukan (Asiaweek) vom 25. September 1994 belief sich das Kapital
der 500 führenden chinesischen Unternehmen in Südostasien auf insgesamt etwa 540
Milliarden Dollar. Andere Schätzungen liegen sogar noch höher: In ihrer Ausgabe
vom November/Dezember 1996 berichtete International Economy, daß das
Jahreseinkommen der 50 Millionen im Ausland lebenden Chinesen ungefähr die oben
genannte Summe erreiche und somit in etwa dem Bruttosozialprodukt des
chinesischen Festlandes entspreche. Die außerhalb Chinas lebenden Chinesen
sollen an die 90% der indonesischen Volkswirtschaft, 75% der Thailands, 50-60%
der Malaysias und die gesamte Wirtschaft Taiwans, Hongkongs und Singapurs unter
ihrer Kontrolle haben. Aus Sorge über diese Sachlage sah sich der indonesische
Botschafter in Japan genötigt, öffentlich vor einem „wirtschaftlichen Eingreifen
Chinas in die Region“ zu warnen, was nicht nur eine derartige Präsenz der
Chinesen ausnützen, sondern sogar zu „Marionettenregierungen“ unter der
Schirmherrschaft Chinas führen könnte. (Saydiman Suryohadiprojo, „How to Deal
with China and Taiwan“, Asahi Shimbun Tokio), 23. September 1996.
26
Symptomatisch hierfür war der in der englischsprachigen Tageszeitung Bangkoks
The Nation (31. März 1997) veröffentlichte Bericht über den Besuch des
thailändischen Premierministers Chavalit Yongchaiudh in Peking. Als Zweck des
Besuchs wurde die Herstellung eines festen strategischen Bündnisses mit
„Großchina“ genannt. Die thailändische Führung soll „China als eine Supermacht,
die eine globale Rolle hat, anerkannt“ haben und soll als „eine Brücke zwischen
China und ASEAN“ dienen wollen. Singapur ist in seinem demonstrativen
Schulterschluß mit China sogar noch weiter gegangen.
Das Einflußgebiet einer Weltmacht China würde vermutlich wesentlich tiefer nach
Süden ausbuchten, so daß sich sowohl Indonesien als auch die Philippinen darauf
einstellen müßten, daß die chinesische Flotte das Südchinesische Meer
beherrscht. Ein solches China könnte viel stärker versucht sein, das
Taiwan-Problem gewaltsam zu lösen, ohne Rücksicht auf die Haltung Amerikas. Im
Westen könnte Usbekistan, also der zentralasiatische Staat, der sich russischen
Übergriffen auf dessen früheres Reichsgebiet am entschiedensten widersetzt, für
ein ausgleichendes Bündnis mit China eintreten, dasselbe gilt für Turkmenistan.
Und auch in dem ethnisch gespaltenen und daher für Nationalitätenkonflikte
anfälligen Kasachstan könnte sich China womöglich stärker zur Geltung bringen.
Ein China, das wirklich ein politischer wie auch wirtschaftlicher Riese wird,
könnte sich außerdem offener in die inneren Angelegenheiten der fernöstlichen
Provinz Rußlands einschalten, während es Koreas Vereinigung unter chinesischer
Schirmherrschaft betreibt.
Aber ein derart aufgeblähtes China bekäme es höchstwahrscheinlich mit einer
starken Opposition von außen zu tun. Aus der Karte aus Seite 242 geht deutlich
hervor, daß im Westen sowohl Rußland als auch Indien triftige geopolitische
Gründe haben, sich zusammenzuschließen, um die von China ausgehende Gefahr
gemeinsam abzuwehren. Die Zusammenarbeit zwischen ihnen dürfte sich dann wohl in
erster Linie auf Zentralasien und Pakistan konzentrieren, von woher China ihre
Interessen am stärksten bedroht. Im Süden ginge der heftigste Widerstand von
Vietnam und von Indonesien aus (das wahrscheinlich von Australien Rückendeckung
erhielte). Im Osten würde Amerika, vermutlich unterstützt von Japan, jedem
Versuch Chinas entgegentreten, die Vormachtstellung in Korea zu gewinnen und
sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben, zumal ein solcher Akt die politische
Präsenz der USA im Fernen Osten auf einen potentiell unsicheren und abgelegenen
Stützpunkt in Japan reduzieren würde.
Ob eines der auf der Karte eingezeichneten Szenarios Wirklichkeit wird, hängt
letzten Endes nicht nur von der weiteren Entwicklung Chinas, sondern auch ganz
wesentlich von dem Verhalten und der Präsenz der Vereinigten Staaten ab. Sollte
sich Amerika heraushalten, würde das zweite Szenario sehr viel wahrscheinlicher,
aber auch wenn das erste Wirklichkeit werden sollte, wäre dazu ein gewisses Maß
an Entgegenkommen und Selbstbeherrschung von seiten der USA nötig. Die Chinesen
wissen das; daher muß es der chinesischen Politik in erster Linie darum gehen,
auf das Verhalten Amerikas und auf die alles entscheidende amerikanisch
japanische Partnerschaft gleichermaßen einzuwirken und seine anderen Beziehungen
entsprechend diesem strategischen Anliegen zu handhaben.
Chinas Haupteinwand gegen die USA richtet sich weniger gegen das, was diese
tatsächlich tun, als gegen das, was die USA derzeit sind und wo sie sind.
Amerika ist in den Augen Chinas die gegenwärtig bestimmende Weltmacht, deren
bloße Gegenwart in der Region, gestützt auf seine dominierende Position in
Japan, Chinas Einfluß eindämmt. Mit den Worten eines Analytikers in der
Forschungsabteilung des chinesischen Außenministeriums: »Das strategische Ziel
der USA besteht darin, ihre Hegemonie auf die ganze Welt auszudehnen, und sie
können nicht hinnehmen, daß in Europa oder Asien eine Großmacht entsteht, die
einmal ihre Führungsposition bedroht.«27 Somit wird Amerika ungewollt, einfach
durch seine nationale Identität und geographische Lage, eher Chinas Gegner als
sein natürlicher Verbündeter.
27 Song Yimin, „Discussion of the Division and Grouping of Forces in the World
After the End of the Cold War“, International Studies (China Institute of
International Studies, Peking) 6-8 (1996) : 10. daß diese Einschätzung Amerikas
die Meinung von Chinas oberster Führung wiedergibt, belegt der Umstand, daß eine
Kurzfassung der genannten Untersuchung am 29. April 1996 in dem in Massenauflage
erscheinenden offiziellen Parteiorgan Renmin Ribao (People`s Daily) erschien.
Demgemäß ist es die Aufgabe chinesischer Politik entsprechend der strategischen
Einsicht Sun Tsus — Amerikas Macht zu benutzen, um die amerikanische Hegemonie
auf friedlichem Wege zu überwinden, ohne dadurch irgendwelche latenten
regionalen Gelüste Japans zu entfesseln. Zu diesem Zweck muß Chinas Geostrategie
zwei Ziele gleichzeitig verfolgen, wie dies Deng Xiaoping etwas verklausuliert
im August 1994 klargemacht hat: »Erstens, Hegemoniestreben und Machtpolitik
entgegenwirken und den Weltfrieden sichern; zweitens, eine neue internationale
politische und ökonomische Ordnung aufbauen.« Ersteres zielt unverkennbar auf
die Vereinigten Staaten ab und bezweckt eine Schwächung der amerikanischen
Vormachtstellung, während ein militärischer Zusammenstoß sorgfältig vermieden
wird, der Chinas ökonomischen Aufschwung beenden würde; die zweite Forderung
strebt eine Revision der Machtverteilung auf der Erde an und schlägt dabei aus
dem Unmut Kapital, den einige Schlüsselstaaten gegen die derzeit bestehende
internationale Hackordnung hegen, in der die Vereinigten Staaten ganz oben
rangieren, unterstützt von Europa (oder Deutschland) im äußersten Westen und von
Japan im äußersten Osten Eurasiens.
Chinas zweite Zielsetzung veranlaßt Peking, eine regionale Geostrategie zu
verfolgen, die ernste Konflikte mit seinen unmittelbaren Nachbarn zu vermeiden
sucht, auch wenn es dabei weiterhin nach einer Vormachtstellung in der Region
strebt. Eine taktische Verbesserung der chinesisch-russischen Beziehungen kommt
da wie gerufen, zumal Rußland nun schwächer ist als China. Dementsprechend
erteilten im April 1996 beide Länder jeglichem »Hegemoniestreben« eine klare
Absage und erklärten die NATO-Erweiterung für »unzulässig«. Es ist allerdings
unwahrscheinlich, daß China ein langfristiges und umfassendes Bündnis mit
Rußland gegen Amerika ernsthaft in Erwägung zöge. Ein solches Bündnis hätte zur
Folge, daß die amerikanisch-japanische Partnerschaft, die China langsam
aufweichen möchte, an Festigkeit und Umfang gewönne, und würde China außerdem
von relevanten Kapitalquellen und moderner Technologie isolieren.
Wie in den chinesisch-russischen Beziehungen empfiehlt es sich für China, jede
direkte Konfrontation mit Indien zu vermeiden, auch wenn es weiterhin an seiner
engen militärischen Zusammenarbeit mit Pakistan und Birma festhält. Eine Politik
offener Feindseligkeit hätte den negativen Effekt, Chinas aus taktischen Gründen
ratsame Einigung mit Rußland zu komplizieren, während es zudem Indien in ein
kooperativeres Verhältnis zu Amerika triebe. Da auch Indien unterschwellig einen
leicht antiwestlichen Vorbehalt gegen die bestehende »globale Hegemonie« teilt,
steht eine Verminderung der chinesischindischen Spannungen im Einklang mit
Chinas umfassenderem geostrategischen Interesse.
Dieselben Gesichtspunkte gelten im großen und ganzen für Chinas derzeitige
Beziehungen zu den südostasiatischen Staaten. Obwohl sie das Südchinesische Meer
einseitig für sich reklamieren, pflegen Chinesen gleichzeitig ihre Beziehungen
zu den südostasiatischen Regierungen (mit Ausnahme der von jeher feindlich
gesinnten Vietnamesen). Dabei machen sie sich die unverhohlenen antiwestlichen
Ansichten (vor allem in den Fragen westlicher Wertvorstellungen und der
Menschenrechte) zunutze, die in den letzten Jahren von den Regierungschefs
Malaysias und Singapurs geäußert worden sind. Insbesondere begrüßten sie die
gelegentlich schrille antiamerikanische Rhetorik des malaysischen
Premierministers Datuk Mahatir, der auf einem Forum im Mai 1996 in Tokio sogar
öffentlich die Notwendigkeit des amerikanisch-japanischen Sicherheitsabkommens
mit der Frage anzweifelte, welchen Feind die Allianz denn abwehren solle, und
behauptete, Malaysia brauche keine Verbündeten. Die Chinesen rechnen ganz
offensichtlich damit, daß jede Verminderung des amerikanischen Ansehens
automatisch ihrem Einfluß in der Region zugute komme.
Auf ähnliche Weise scheint steter, geduldig ausgeübter Druck der Leitgedanke der
momentan gegenüber Taiwan verfolgten chinesischen Politik zu sein. Während sie
sich einerseits auf eine kompromißlose Haltung hinsichtlich des internationalen
Status` Taiwans versteift derart, daß sie sogar bewußt internationale Spannungen
in Kauf nimmt, um deutlich zu machen, daß es Peking in dieser Sache ernst ist
(wie im März 1996) -, sind sich diese bewusst, daß sie vorläufig nicht über die
Macht verfügen werden, eine für sie befriedigende Lösung zu erzwingen. Ihnen ist
klar, daß eine verfrühte Anwendung von Gewalt nur einen unsinnigen Streit mit
Amerika vom Zaun brechen und dadurch die USA in ihrer Rolle als Garant für
Frieden in der Region stärken würde. Überdies gestehen sich die Chinesen selbst
ein, daß die Aussichten für die Entstehung eines Großchina nicht zuletzt davon
abhängen, wie wirksam Hongkong in die Volksrepublik integriert wird.
Die gütliche Einigung, die in Chinas Verhältnis zu Südkorea stattgefunden hat,
ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil seiner Politik, die Flanken zu
konsolidieren, um sich wirksam auf das eigentliche Ziel konzentrieren zu können.
Angesichts der koreanischen Geschichte und der antijapanischen Stimmung im Lande
trägt eine chinesisch-koreanische Verständigung an sich schon zu einer
Schwächung der potentiellen Rolle Japans in der Region bei und bereitet den
Boden für ein wiedererstehendes traditionelleres Verhältnis zwischen China und
(einem wiedervereinigten oder weiterhin geteilten) Korea.
Am wichtigsten jedoch ist: Die auf friedlichem Wege erzielte Verbesserung des
chinesischen Ansehens in der Region erleichtert es Peking, sein zentrales Ziel
zu verfolgen, das der alte chinesische Stratege Sun Tsu folgendermaßen
formuliert haben könnte: Amerikas Macht in der Region so weit zu schwächen, daß
ein geschwächtes Amerika ein regional beherrschendes China als Verbündeten und
schließlich sogar eine Weltmacht China als Partner brauchen wird. Dieses Ziel
sollte auf eine Weise verfolgt und erreicht werden, die weder eine Erweiterung
der amerikanisch-japanischen Allianz zu Verteidigungszwecken provoziert noch
dazu, daß Japans Macht die der USA in der Region ersetzt.
Um dieses zentrale Ziel zu erreichen, sucht China kurzfristig die Festigung und
Ausdehnung der amerikanisch japanischen Sicherheitspartnerschaft zu verhindern.
Besonders beunruhigt war China, als deren Geltungsbereich Anfang 1996 indirekt
von einem engeren »fernöstlichen« zu einem umfassenderen »asiatisch-pazifischen«
Raum ausgeweitet wurde. Peking sah darin nicht nur eine unmittelbare Bedrohung
seiner nationalen Interessen, sondern den Ausgangspunkt für ein von den USA
dominiertes asiatisches Sicherheitssystem (in dem Japan die wichtigste Stütze
sein würde, etwa so wie Deutschland in der NATO während des Kalten Krieges), das
China in Schach halten soll.28 Das Abkommen wurde in Peking als der Versuch
aufgefaßt, Japan den Aufstieg zu einer bedeutenden Militärmacht zu erleichtern,
die dann ungeklärte Streitfälle wirtschaftlicher Art und auf dem Gebiet des
Seerechts vielleicht sogar allein und mit Waffengewalt lösen könne. China wird
also wahrscheinlich die immer noch starken Ängste der Asiaten vor jeder
wichtigen militärischen Rolle Japans in der Region energisch anfachen, um
Amerika Einhalt zu gebieten und Japan einzuschüchtern.
In Chinas strategischem Kalkül kann jedoch die Hegemonie Amerikas nicht von
langer Dauer sein. Obwohl einige Chinesen, besonders in militärischen Kreisen,
dazu neigen, Amerika als Chinas erbitterten Feind zu betrachten, geht man in
Peking überwiegend davon aus, daß die USA in der Region in die Isolation
geraten, weil sie allzu sehr auf Japan setzen. Dadurch werde ihre Abhängigkeit
von dem Inselstaat noch größer, was indes auch für die Widersprüche im
amerikanisch japanischen Verhältnis und die amerikanischen Ängste vor einem
japanischen Militarismus gelte. Diese Entwicklung wird China in die Lage
versetzen, Amerika und Japan gegen einander auszuspielen, wie es das früher im
Fall der USA und der Sowjetunion tat. Nach Ansicht Pekings wird die Zeit kommen,
da Amerika begreift, daß es — um eine einflußreiche Macht im
asiatischpazifischen Raum zu bleiben — keine andere Wahl hat, als sich seinem
natürlichen Partner auf dem asiatischen Festland zuzuwenden.
28 Eine ausführliche Untersuchung der angeblichen Absicht Amerikas, ein solches
antichinesisches asiatisches System zu errichten, stellt Wang Chunyiun in
„Looking Ahead to Asia-Pacific Security in the Early Twenty-first Century“, an.
Guoji Zhanwang (World Outlook), Februar 1996.
Japan: Nicht regional, aber international
Die Entwicklung des amerikanisch-japanischen Verhältnisses ist somit von
entscheidender Bedeutung für Chinas geopolitische Zukunft. Seit dem Ende des
chinesischen Bürgerkriegs im Jahre 1949 stützt sich die amerikanische
Fernost-Politik auf Japan. Anfangs nur ein amerikanisches Besatzungsgebiet, ist
Japan Basis für die politisch-militärische Präsenz der USA im
asiatischpazifischen Raum und ein weltweit unverzichtbarer Verbündeter geworden,
gleichzeitig aber zu einer Schutzzone. Das Hervortreten Chinas wirft nun die
Frage auf, ob — und zu welchem Zweck — die engen amerikanisch-japanischen
Beziehungen in dem sich verändernden regionalen Kontext Bestand haben können.
Japans Rolle in einem gegen China gerichteten Bündnis wäre klar; aber wie sollte
Japans Rolle aussehen, wenn man Chinas Aufstieg in irgendeiner Form Rechnung
tragen will, selbst um den Preis, daß Amerikas Vormachtstellung in der Region
Einbußen hinnehmen muß?
Wie China ist Japan ein Nationalstaat mit einem unerschütterlichen Glauben an
seine Einzigartigkeit und Sonderstellung. Aufgrund seiner Insellage, seiner
Geschichte und auch seiner kaiserlichen Mythologie betrachtet sich das
bienenfleißige, disziplinierte japanische Volk als im Besitze einer besonderen,
seinen Nachbarn überlegenen Lebensart, die Japan zunächst durch splendid
isolation verteidigte, ehe es dann, als die Welt sich im 19. Jahrhundert
aufdrängte, die europäischen Reiche nachahmte und sich auf dem asiatischen
Festland selbst ein Imperium zu schaffen trachtete. Die vernichtende Niederlage
im Zweiten Weltkrieg bewirkte, daß sich das japanische Volk ausschließlich auf
den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentrierte, ohne ein darüber hinausgehendes
Selbstverständnis zu entwickeln.
Die gegenwärtigen Ängste Amerikas vor einem übermächtigen China erinnern an die
noch nicht allzu lange zurückliegende Paranoia gegenüber Japan. Die Japanophobie
ist inzwischen einer Chinophobie gewichen. Vor einem Jahrzehnt erst hatten
Vorhersagen, daß ein Aufstieg Japans zum »Welt-Superstaat« — bereit, nicht nur
Amerika zu entthronen (es gar aufzukaufen!), sondern auch eine Art »Pax
Nipponica« zu verhängen — unabwendbar sei und unmittelbar bevorstehe, bei
amerikanischen Kommentatoren und Politikern Hochkonjunktur. Und das nicht nur in
Amerika. Die Japaner stießen selbst schnell in das gleiche Horn mit einer Reihe
von Bestsellern, die die These vertraten, daß Japan den High-Tech-Wettlauf mit
den Vereinigten Staaten zwangsläufig gewinnen müsse und bald schon zum Zentrum
eines weltweiten »Informationsimperiums« werde, wohingegen es mit Amerika, das
mittlerweile erschöpft und gesellschaftlich durch Disziplinlosigkeit geschwächt
sei, bergab gehe.
Bei diesen oberflächlichen Deutungen geriet völlig in Vergessenheit, wie
verwundbar Japan als Staat ist und bleibt. Es ist selbst den geringfügigsten
Störungen im weltweiten Ressourcen- und Handelsfluß, gar nicht zu reden von
Krisen der internationalen Stabilität, hilflos ausgeliefert und wird zu Hause
von demographischen, sozialen und politischen Problemen bedrängt. Japan ist
einerseits ein reiches, dynamisches und wirtschaftlich starkes Land,
andererseits jedoch in der Region isoliert und in seiner politischen
Handlungsfreiheit eingeschränkt, weil es in Sicherheitsfragen von einem
mächtigen Verbündeten abhängig ist, der zufällig der Garant globaler Stabilität
(auf die Japan nicht verzichten kann) und gleichzeitig Japans Hauptkonkurrent
auf wirtschaftlichem Gebiet ist.
Japans gegenwärtige Position — einerseits ein weltweit respektierter
Wirtschaftsriese, andererseits eine geopolitische Verlängerung amerikanischer
Macht — dürfte für künftige Generationen von Japanern, die nicht mehr von der
Erfahrung des Zweiten Weltkriegs traumatisiert und mit Scham erfüllt sind, auf
Dauer nicht akzeptabel sein. Sowohl aus historischen als auch aus Gründen der
Selbstachtung ist Japan, wenn auch verhaltener als China, mit dem weltweiten
Status quo nicht so recht zufrieden. Mit einer gewissen Berechtigung meint es,
Anspruch auf eine förmliche Anerkennung als Weltmacht zu haben, weiß aber auch,
daß die regional nützliche (und für seine asiatischen Nachbarn beruhigende)
Sicherheitsabhängigkeit von Amerika diese Anerkennung behindert.
Überdies verstärkt die wachsende Macht Chinas auf dem asiatischen Festland sowie
die Aussicht, daß sie bald in die für Japan ökonomisch wichtigen ozeanischen
Gebiete ausstrahlen könnte, das zwiespältige Gefühl der Japaner hinsichtlich der
geopolitischen Zukunft des Landes. Auf der einen Seite gibt es in Japan ein
ausgeprägtes kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber China sowie ein
latentes Bewußtsein gemeinsamer asiatischer Identität. Einige Japaner glauben
vielleicht auch, mit dem Entstehen eines stärkeren Chinas und einer Schwächung
der amerikanischen Vormachtstellung in der Region gewinne Japan für die USA an
Bedeutung. Andererseits ist China in den Augen vieler Japaner der traditionelle
Gegner, ein früherer Feind und eine potentielle Bedrohung der regionalen
Stabilität. Dies läßt die Sicherheitsbindung an Amerika wichtiger denn je
erscheinen, selbst wenn dadurch der Unmut mancher nationalistischeren Japaner
steigt, denen die lästigen Beschränkungen der politischen und militärischen
Unabhängigkeit Japans ein Dorn im Auge sind.
Oberflächlich betrachtet, besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der
Situation Japans im fernen Osten Asiens und Deutschlands im äußersten Westen
Eurasiens. Beide sind die wichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten in der
jeweiligen Region. Ja, man kann sagen, Amerikas Stärke in Europa und Asien
beruht unmittelbar auf den engen Allianzen mit diesen beiden Ländern. Beide
verfügen über ansehnliche Militärapparate, aber keines ist in dieser Hinsicht
unabhängig: Deutschland sind durch seine militärische Integration in die NATO
die Hände gebunden, während Japan von seinen eigenen (obzwar die Handschrift
Amerikas aufweisenden) Verfassungsvorbehalten und dem amerikanisch-japanischen
Sicherheitsabkommen in Schranken gehalten wird. Beide sind Wirtschaft und
Finanzriesen, regional bestimmend und rangieren ganz oben auf der globalen
Skala. Beide kann man als Quasi-Weltmächte bezeichnen, und beide verstimmt es,
daß man ihnen die mit einem dauerhaften Sitz im UN Sicherheitsrat verbundene
Anerkennung verweigert.
Aber die Unterschiede in ihren jeweiligen geopolitischen Voraussetzungen fallen
möglicherweise stärker ins Gewicht. Deutschland ist aufgrund seines konkreten
Verhältnisses zur NATO mit seinen wichtigsten europäischen Verbündeten
gleichgestellt und hat im Rahmen des nordatlantischen Pakts gegenüber den
Vereinigten Staaten formell gegenseitige Verteidigungsverpflichtungen. Das
amerikanisch-japanische Sicherheitsabkommen bestimmt, daß die USA Japan zu
verteidigen haben, aber den Einsatz des japanischen Militärs zur Verteidigung
Amerikas sieht es nicht vor (nicht einmal auf dem Papier). Das Abkommen schreibt
im Grunde einen Schutzpakt fest.
Dank seines aktiven Einsatzes in der Europäischen Union und der NATO wird
Deutschland außerdem von jenen Nachbarn, die in der Vergangenheit Opfer seiner
Aggression wurden, nicht mehr als Bedrohung empfunden, sondern gilt heute als
attraktiver Partner auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. Einige würden
es sogar begrüßen, wenn ein von Deutschland angeführtes Mitteleuropa entstünde,
da Deutschland als eine positive regionale Macht betrachtet wird. Das ist bei
Japans asiatischen Nachbarn ganz anders, die wegen des Zweiten Weltkriegs Japan
gegenüber noch immer gewisse Animositäten hegen. Zum Unmut der Nachbarn trägt
ferner die internationale Wertschätzung des Yen bei, die nicht nur bittere
Klagen ausgelöst, sondern auch eine Aussöhnung mit Malaysia, Indonesien, den
Philippinen und selbst China behindert hat, das seine erheblichen langfristigen
Schulden gegenüber Japan in Yen begleichen muß.
Mangels eines mehr oder weniger gleichen regionalen Partners hat Japan auch kein
asiatisches Äquivalent wie Deutschland im Nachbarn Frankreich. Es besteht zwar
eine starke kulturelle Affinität zu China, in die sich vielleicht ein gewisses
Schuldgefühl mischt, aber sie ist politisch zwiespältig, da keine Seite der
anderen traut und keine die regionale Führungsrolle der anderen akzeptieren
will. Ebenso wenig hat Japan ein Äquivalent zu Deutschlands Verhältnis zu Polen:
das heißt einen viel schwächeren, aber geopolitisch wichtigen Nachbarn, mit dem
die Versöhnung und sogar Zusammenarbeit nach und nach Realität werden.
Vielleicht könnte Korea nach einer eventuellen Wiedervereinigung dieses
Äquivalent werden, doch sind die japanisch-koreanischen Beziehungen nur auf dem
Papier gut, da die Erinnerungen der Koreaner an vergangene Herrschaft und das
Überlegenheitsgefühl der Japaner jede echte Aussöhnung der beiden Gesellschaften
erschweren.29
29 Der Japan Digest berichtete am 25. Februar 1997, daß laut einer von der
Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung nur 36% der Japaner gegenüber
Südkorea freundlich gesinnt sind.
Schließlich stand Japan mit Rußland stets auf viel schlechterem Fuß als
Deutschland. Da Rußland in der Rückgabe dersüdlichen Kurilen, die es gegen Ende
des Zweiten Weltkriegs noch schnell besetzt hatte, kein Entgegenkommen zeigt,
bewegen sich die russisch-japanischen Beziehungen um den Nullpunkt. Kurzum,
Japan ist in der Region politisch isoliert, was man von Deutschland nicht
behaupten kann.
Des weiteren hat Deutschland mit seinen Nachbarn sowohl die gleichen
demokratischen Prinzipien als auch Europas umfassenderes christliches Erbe
gemein. Und es strebt danach, in einer Einheit aufzugehen, die größer ist als es
selbst, nämlich in »Europa«. Im Unterschied dazu gibt es kein vergleichbares
»Asien«. Obwohl sich in den letzten Jahren in verschiedenen asiatischen Ländern
die Demokratie durchgesetzt hat, ist Japan infolge seiner insularen
Vergangenheit und auch wegen seines derzeit demokratischen Systems eher ein
Außenseiter im asiatischpazifischen Raum. In den Augen vieler Asiaten ist Japan
eine einseitig auf den eigenen Nutzen bedachte Nation und ein allzu williger
Nachahmer des Westens, zumal sich Tokio sträubt, die abendländische Betonung der
Menschenrechte und die Bedeutung des Individualismus gemeinsam mit anderen
asiatischen Regierungschefs in Frage zu stellen. Somit sehen viele Asiaten in
Japan kein wahrhaft asiatisches Land, wie auch der Westen zuweilen staunt, in
welchem Ausmaß Japan westliche Züge angenommen hat.
In Wirklichkeit fühlt sich Japan, obwohl zu Asien gehörend, nicht so recht wohl
als asiatisches Land. Dieser Umstand schränkt seine geostrategischen
Möglichkeiten beträchtlich ein. Eine wirklich regionale Option, nämlich die
eines regional bestimmenden Japans, das China überragt — selbst wenn sie nicht
mehr auf japanischer Vorherrschaft, sondern eher auf einer friedlichen
Zusammenarbeit unter der Ägide Japans beruht — scheint aus stichhaltigen
historischen, politischen und kulturellen Gründen nicht realisierbar. Hinzu
kommt, daß Japan auch in Zukunft auf den militärischen Schutz und die
internationale Schirmherrschaft der USA angewiesen ist. Ohne das
amerikanisch-japanische Sicherheitsabkommen, ja sogar schon durch seine
allmähliche Verwässerung würde Japan augenblicklich gegenüber jeder ernsthaften
regionalen oder internationalen Krise störungsanfällig. Die einzige Alternative
wäre dann, entweder Chinas regionale Vormachtstellung zu akzeptieren oder ein
massives — ebenso kostspieliges wie sehr gefährliches —
Wiederaufrüstungsprogramm durchzuziehen.
Verständlicherweise halten viele Japaner die gegenwärtige Position ihres Landes
— eine Quasi-Weltmacht und zugleich eine Schutzzone — für abnorm. Aber
zugkräftige und realisierbare Alternativen zu den bestehenden Regelungen bieten
sich nicht an. Wenn Chinas nationale Ziele als einigermaßen klar und die
regionale Stoßrichtung seiner geopolitischen Ambitionen als relativ vorhersehbar
gelten kann, so ist die geostrategische Vision Japans eher verschwommen und die
öffentliche Stimmung im Lande viel uneinheitlicher.
Den meisten Japanern ist klar, daß eine strategisch bedeutsame und abrupte
Richtungsänderung Gefahren in sich birgt. Kann Japan eine regionale Macht in
einer Region werden, in der es noch immer Unmut auf sich zieht und China sich
als regional vorherrschende Macht zu etablieren beginnt? Doch sollte sich Japan
einfach mit einer solchen Rolle Chinas abfinden? Kann Japan eine wirklich
umfassende Weltmacht (in all ihren Dimensionen) werden, ohne amerikanische
Unterstützung aufs Spiel zu setzen und die Feindseligkeit, die ihm in der Region
entgegenschlägt, zu schüren? Vorausgesetzt, die USA werden in jedem Fall in
Asien bleiben, wie wird sich dann ihre Reaktion auf Chinas wachsenden Einfluß
auf die Beziehungen zu Japan auswirken, das bisher Priorität genoß? In der Zeit
des Kalten Krieges waren solche Fragen so gut wie kein Thema. Heute bestimmen
sie die strategische Diskussion und haben in Japan eine zunehmend lebhaftere
Debatte in Gang gesetzt.
Seit den fünfziger Jahren ließ sich die japanische Außenpolitik von vier
wesentlichen Grundsätzen leiten, die der erste Premierminister nach dem Krieg,
Shigeru Yoshida, öffentlich bekannt gab. Die Yoshida-Doktrin postulierte, (1)
Japan solle sich in erster Linie auf seine Wirtschaftsentwicklung konzentrieren,
(2) es solle nur eine kleine Armee unterhalten und sich aus internationalen
Konflikten heraushalten, (3) es solle der politischen Führung der Vereinigten
Staaten folgen und deren militärischen Schutz annehmen und (4) die japanische
Diplomatie solle frei von Ideologie und auf internationale Zusammenarbeit
gerichtet sein. Da jedoch das Ausmaß, in dem sich Japan im Kalten Krieg
engagierte, bei vielen Japanern Unbehagen hervorrief, wurde gleichzeitig die
Fiktion einer Semineutralität gepflegt. Noch im Jahre 1981 mußte Außenminister
Masayoshi Ito seinen Hut nehmen, weil er es zugelassen hatte, daß man die
amerikanischjapanischen Beziehungen mit dem Begriff »Bündnis« (domei)
charakterisierte.
Dies gehört nun alles der Vergangenheit an. Japan war damals in einer
Aufbauphase, China hatte sich selbst isoliert und Eurasien war polarisiert.
Heute dagegen begreift Japans politische Elite, daß ein reiches, wirtschaftlich
in die Welt ein-gebundenes Japan Selbstbereicherung nicht mehr zum vorrangigen
nationalen Zweck betreiben kann, ohne internationales Ressentiment auszulösen.
Ferner kann ein wirtschaftlich mächtiges Japan, das mit Amerika wetteifert,
nicht einfach eine Verlängerung der amerikanischen Außenpolitik sein, während es
zugleich jeder internationalen Verantwortung aus dem Weg geht. Ein politisch
einflußreicheres Japan, das weltweit Anerkennung sucht (beispielsweise einen
ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO), muß in den für den Weltfrieden
entscheidenderen geopolitischen- und Sicherheitsfragen Stellung beziehen.
Die Folge davon war, daß in den letzten Jahren unzählige Studien japanischer
Körperschaften des privaten und öffentlichen Rechts sowie eine Fülle oft
umstrittener Bücher von bekannten Politikern und Professoren erschienen, die
Japans neue Aufgabengebiete und Zielsetzungen in der Zeit nach dem Kalten Krieg
umrissen.30 In vielen dieser Veröffentlichungen ging es unter anderem um die
Frage, wie lange das amerikanischjapanische Sicherheitsbündnis noch Bestand habe
und ob es noch wünschenswert sei. Außerdem sprach man sich für eine aktivere
japanische Diplomatie, vor allem gegenüber China, aus oder redete einer
energischeren militärischen Rolle Japans in der Region das Wort. Wollte man den
Stand der amerikanischjapanischen Beziehungen nach dem öffentlichen Dialog
beurteilen, so müßte man wohl zu dem Schluß kommen, daß das Verhältnis zwischen
beiden Ländern Mitte der neunziger Jahre in eine Krise geraten ist.
30 Zum Beispiel betonte die Higuchi-Kommission, eine Beraterabteilung des
Premierministers, die in einem im Sommer 1994 herausgegebenen Bericht die „drei
Säulen japanischer Sicherheitspolitik“ skizzierte, den Vorrang
amerikanisch-japanischer Sicherheitsbeziehungen, sprach sich daneben aber für
einen multilateralen asiatischen Sicherheitsdialog aus; der Bericht des
Ozawa-Ausschusses von 1994 „Plan für ein neues Japan“ der Entwurf Yomiuri
Shimbuns für „eine umfassende Sicherheitspolitik“ vom Mai 1995, der u.a. für den
Auslandseinsatz japanischer Kräfte zum Zwecke der Friedenssicherung eintrat; der
mit Unterstützung der Fuji-Bank vorbereitete Bericht der Japan Association of
Corporate Executives (keizai doyukai) „Denkfabrik“ drängt auf mehr Symmetrie in
dem amerikanisch-japanischen Verteidigungssystem; der Bericht mit dem Titel
„Möglichkeit und Rolle eines Sicherheitssystems in der asiatischpazifischen
Region“, der dem Premierminister im Juni 1996 von dem Japan-Forum für
internationale Angelegenheiten vorgelegt wurde; sowie zahlreiche Bücher und
Artikel, die in den letzten Jahren erschienen und oft viel polemischere und
extremere Standpunkte vertreten und häufiger von den westlichen Medien zitiert
wurden als die oben erwähnten Berichte, die vorwiegend dem mainstream
zuzurechnen sind. So löste zum Beispiel ein von einem japanischen General 1996
herausgegebenes Buch ein weites Presseecho aus, weil darin Vermutungen darüber
angestellt werden, daß die USA unter bestimmten Umständen Japan nicht mehr
würden schützen können und Japan deshalb sein nationales Verteidigungspotential
erhöhen müsse (vgl. General Yasuhiro Marino, ed. Next Generation Ground
Self-Defense Force und den Artikel darüber in „Myths of the U.S. Coming to Our
Aid“ in Sankei Shimbun, 4. März 1996).
Auf der Ebene der offiziellen Politik waren jedoch die ernsthaft diskutierten
Empfehlungen insgesamt gesehen relativ nüchtern, maßvoll und vernünftig. Die
extremen Optionen — sowohl die vorbehaltlos pazifistische (mit einem
anti-amerikanischen Beigeschmack) als auch die Option einer einseitigen und
größeren Wiederbewaffnung (die eine Revision der Verfassung erfordern und
vermutlich negativen Reaktionen von seiten der USA und der Staaten in der Region
zum Trotz verfolgt würde) — haben wenig Anhänger gefunden. Die breite
Öffentlichkeit und zweifellos auch einflußreiche Wirtschaftskreise spüren
instinktiv, daß keine der beiden Optionen eine echte politische Alternative
darstellt und beide im Grunde Japans Wohlstand nur gefährden würden.
In den politisch entscheidenden öffentlichen Diskussionen ging es primär um eine
unterschiedliche Gewichtung der grundlegenden Rolle Japans auf der
internationalen Bühne und in zweiter Linie um verschiedene Auffassungen über
seine geopolitischen Prioritäten. Grob gesagt, lassen sich drei Hauptstandpunkte
und vielleicht noch ein vierter von nachrangiger Bedeutung festhalten und wie
folgt kennzeichnen: die unerschütterlichen Verfechter eines »Amerika zuerst «,
die globalen Merkantilisten, die weltoffenen Pragmatiker und die weltpolitischen
Visionäre. Letzten Endes ist jedoch allen vier ein Ziel gemeinsam und teilen sie
dieselbe Sorge: Sich das besondere Verhältnis zu den USA zunutze zu machen, um
Japan internationale Anerkennung zu erringen, zugleich Feindseligkeiten in Asien
zu vermeiden und den Sicherheitsschirm der USA nicht vorzeitig aufs Spiel zu
setzen.
Die Vertreter der ersten Richtung gehen davon aus, daß der Erhalt der
bestehenden und zugegebenermaßen asymmetrischen amerikanischjapanischen
Beziehungen der Kern japanischer Geostrategie bleiben sollte. Sie wollen, wie
die meisten Japaner, größere internationale Anerkennung für Japan und mehr
Gleichheit in der Allianz, ihr kardinaler Glaubensgrundsatz aber ist, wie
Premierminister Kiichi Miyazawa es im Januar 1993 ausdrückte, daß »die
Aussichten für die Welt auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert weitgehend davon
abhängen werden, ob Japan und die Vereinigten Staaten in einer koordinierten
Führung mit einer gemeinsamen Vision aufwarten können.« Dieser Standpunkt
herrschte bisher in der internationalistisch orientierten politischen Elite und
dem außenpolitischen Establishment vor, das während der letzten zwei Jahrzehnte
im Amt war. In geostrategischen Schlüsselfragen wie der Rolle Chinas in der
Region und der Präsenz der USA in Korea hat diese Führung die USA unterstützt,
aber sie sieht ihre Aufgabe auch darin, die USA von einem Konfrontationskurs
gegenüber China abzuhalten. Tatsächlich betont selbst diese Gruppierung
inzwischen zunehmend die Notwendigkeit engerer japanischchinesischer
Beziehungen, die sie in ihrer Bedeutung gleich nach denen zu Amerika einstuft.
Die Anhänger der zweiten Richtung bestreiten nicht, daß Japan mit den USA
geostrategisch an einem Strang ziehen sollte, in ihren Augen ist den Interessen
Japans aber am besten gedient, wenn man offen eingesteht und akzeptiert, daß
Japan in erster Linie eine Wirtschaftsmacht ist. Diese Ansicht wird sehr oft mit
der seit jeher einflußreichen MITI-Bürokratie (Ministerium für Internationalen
Handel und Industrie) und den Spitzen von Handel und Export in Verbindung
gebracht. Ihr zufolge ist die weitgehende Demilitarisierung Japans ein Vorteil,
den zu bewahren sich lohnt. Solange Amerika die Sicherheit des Landes
garantiert, kann sich Japan ungehindert weltweit auf wirtschaftlichem Gebiet
engagieren, was insgeheim seinem internationalen Ansehen zugute käme.
In einer idealen Welt würden die Anhänger dieser zweiten Richtung wohl für einen
zumindest de facto neutralen politischen Kurs eintreten. Amerika müßte demnach
ein Gegengewicht zu Chinas Macht in der Region darstellen und Taiwan und
Südkorea Schutz bieten, wodurch Japan freie Hand bekäme, engere
Wirtschaftsbeziehungen zum Festland und zu Südostasien zu pflegen. In Anbetracht
der gegenwärtigen politischen Realitäten nehmen die globalen Merkantilisten
jedoch das amerikanisch-japanische Bündnis als ein notwendiges Arrangement in
Kauf, einschließlich der relativ bescheidenen Haushaltsmittel für die
japanischen Streitkräfte (die noch immer kaum ein Prozent des
Bruttosozialprodukts übersteigen), ohne es darauf anzulegen, das Bündnis mit
irgendeinem regional bedeutsamen Gehalt zu erfüllen.
Die dritte Gruppe, die weltoffenen Pragmatiker, dürften wohl den neuen Typus des
Politikers und geopolitischen Denkers verkörpern. Sie sind der Meinung, daß
Japan als eine reiche und erfolgreiche Demokratie sowohl die Gelegenheit als
auch die Pflicht habe, sich in der Welt nach dem Kalten Krieg anders zu
verhalten. Mit einer anderen Einstellung könne es sich weltweit auch die
Anerkennung verschaffen, die ihm als einem Wirtschaftsriesen zustehe, die
historisch gesehen, zu den wenigen wirklich großen Nationen der Welt zählt.
Bereits in den achtziger Jahren deutete sich mit Premierminister Yasuhiro
Nakasone eine solch entschiedenere und selbstbewußtere Haltung an, aber die
vielleicht bekannteste Darlegung dieses Standpunktes war in dem umstrittenen
Bericht des Ozawa-Ausschusses enthalten, der 1994 unter dem vielsagenden Titel
»Plan für ein neues Japan: das Umdenken einer Nation« veröffentlicht wurde.
Benannt nach dem Vorsitzenden des Ausschusses, Ichiro Ozawa, einem aufstrebenden
Parteipolitiker der politischen Mitte, trat der Bericht sowohl für eine
Demokratisierung der hierarchischen Strukturen des Landes als auch für ein
Umdenken in der japanischen Außenpolitik ein. Er forderte Japan auf, ein
»normales Land« zu werden, und empfahl, an der amerikanisch-japanischen
Sicherheitspartnerschaft festzuhalten, gab dem Inselstaat aber zugleich den Rat,
seine internationale Passivität aufzugeben und sich aktiv an der Weltpolitik zu
beteiligen, indem er neue Wege in den internationalen Bemühungen um
Friedenssicherung weise. Hierfür sollten, so der Bericht, die
Verfassungsvorbehalte gegen eine Entsendung japanischer Streitkräfte ins Ausland
aufgehoben werden.
Unausgesprochen — aber durch die Akzentuierung »ein normales Land« impliziert —
blieb auch der Gedanke einer merklicheren geopolitischen Emanzipation vom
Sicherheitsnetz Amerikas. Die Verfechter dieses Standpunkts neigten zu der
Ansicht, daß Japan in Angelegenheiten von globaler Bedeutung nicht zögern solle,
für Asien einzutreten, anstatt sich automatisch hinter die USA zu stellen. In so
heiklen Fragen wie der wachsenden Bedeutung Chinas in der Region oder der
Zukunft Koreas blieben sie bezeichnenderweise vage und unterschieden sich nicht
sehr von ihren traditionalistischeren Kollegen. In puncto regionale Sicherheit
teilten sie die stark ausgeprägte Neigung der Japaner, die Verantwortung in
beiden Fragen primär den USA zu überlassen, wobei Japan lediglich die Rolle
zufällt, auf allzu übertriebenen Eifer der Amerikaner mäßigend einzuwirken.
In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre setzte sich der Standpunkt der
weltoffenen Pragmatiker in der öffentlichen Meinung immer mehr durch und
hinterließ auch in der japanischen Außenpolitik seine Spuren. In der ersten
Hälfte des Jahres 1996 sprach die japanische Regierung plötzlich von »Japans
unabhängiger Diplomatie« (jishu gaiko), obgleich das stets vorsichtige
japanische Außenministerium in der japanischen Übersetzung die unbestimmtere
(und für Amerika besser verdauliche) Wendung »weltoffene Diplomatie« wählte.
Die vierte Richtung, die der weltpolitischen Visionäre, ist die am wenigsten
einflußreiche von allen, sie dient allerdings gelegentlich dazu, den japanischen
Standpunkt mit idealistischerer Rhetorik zu garnieren. In der Öffentlichkeit
wird sie gern mit herausragenden Persönlichkeiten — wie Akio Morita von Sony —
in Verbindung gebracht, die mustergültig demonstrieren, wie wichtig es für Japan
ist, sich weltweit energisch für moralisch wünschenswerte Ziele einzusetzen.
Oftmals unter Berufung auf eine »neue Weltordnung« fordern diese Visionäre ihr
Land auf — gerade weil es nicht mit geopolitischen Verantwortungen belastet ist
— eine führende Rolle in der Entwicklung und Beförderung eines wahrhaft humanen
Programms für die Weltgemeinschaft zu übernehmen.
Alle vier Richtungen stimmen in einer regionalen Schlüsselfrage überein: daß
eine stärker multilaterale asiatisch-pazifische Zusammenarbeit in Japans
Interesse ist. Eine solche Zusammenarbeit könnte mit der Zeit in dreierlei
Hinsicht Früchte tragen: durch sie kann China eingebunden (und auch auf
raffinierte Weise in Schranken gehalten) werden; sie kann die USA dazu bewegen,
auch dann in Asien präsent zu bleiben, wenn ihre Vormachtstellung schwindet, und
sie kann zum Abbau antijapanischer Ressentiments beitragen und damit Japans
Einfluß stärken. Es ist zwar unwahrscheinlich, daß Japan die Region zu seiner
Einflußsphäre machen wird, doch es könnte sich vielleicht bei den Inselstaaten
vor dem asiatischen Festland, die über Chinas wachsende Macht beunruhigt sein
mögen, ein gewisses Maß an Achtung verschaffen.
Einigkeit besteht zwischen den Vertretern der genannten vier Standpunkte
außerdem darin, daß ein behutsames Bemühen um ein besseres Verhältnis zu China
jedem von Amerika ausgehenden Versuch, dessen Macht unmittelbar einzudämmen,
eindeutig vorzuziehen ist. Die Idee einer Abwehrstrategie gegen China unter
Führung der USA findet im japanischen Außenministerium keinen großen Anklang,
und dasselbe gilt für die Vorstellung einer informellen, auf die Inselstaaten
Taiwan, die Philippinen, Brunei und Indonesien begrenzten Koalition als
Gegengewicht zu China. Nach japanischer Auffassung erforderte jede Bemühung
dieser Art nicht nur auf unbestimmte Zeit eine erhebliche Militärpräsenz der
Amerikaner sowohl in Japan als auch in Korea, sondern — da sich die
geopolitischen Interessen mit denen des amerikanischjapanischen Bündnisses auf
gefährliche Weise überschneiden zöge wahrscheinlich irgendwann, im Sinne einer
self-fulfilling prophecy, einen Zusammenstoß mit China nach sich.31 Die Folge
davon wäre, daß Japans Emanzipation erschwert und der wirtschaftliche Wohlstand
des Fernen Ostens bedroht würde.
31 Einige konservative Japaner ließen sich von der Vorstellung einer
japanisch-taiwanesischen Sonderbeziehung verleiten und bildeten 1996 eine
japanisch-taiwanesische Parlamentariervereinigung, um diesem Ziel näher zu
kommen. China reagierte darauf, wie vorauszusehen, feindselig.
Aus demselben Grund befürworten nur wenige das Gegenteil: eine große
Übereinkunft zwischen Japan und China. Eine solch klassische Umkehrung der
Bündnisse brächte die ganze Region zu sehr aus dem Gleichgewicht: Zögen sich die
USA aus Fernost zurück und gerieten Taiwan wie auch Korea unter chinesische
Herrschaft, wäre Japan auf Gedeih und Verderb der Gnade Chinas ausgeliefert.
Dies ist keine reizvolle Aussicht, außer vielleicht für ein paar Extremisten. Da
Rußland geopolitisch an den Rand gedrängt wurde und von jeher in Japan keine
große Achtung genießt, gibt es mithin keine Alternative zu dem Grundkonsens, daß
die Bindung an Amerika Japans zentrale Lebensader bleibt. Ohne sie kann Japan
weder seine Ölversorgung sicherstellen noch sich gegen eine einzige chinesische
(und vielleicht bald schon auch eine koreanische) Atombombe schützen. Im Grunde
kann es der japanischen Politik nur darum gehen, sich des Verhältnisses zu den
USA zum optimalen Nutzen des Landes zu bedienen. Demgemäß erklärten sich die
Japaner einverstanden, als Amerika eine Verbesserung der militärischen
Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern verlangte, und stimmten auch einer
scheinbaren Erweiterung seines Geltungsbereichs von »Fernost« auf
»asiatisch-pazifisch« zu. Anfang 1996 erweiterte die japanische Regierung bei
ihrer Überprüfung der so genannten japanisch-amerikanischen
Verteidigungsrichtlinien den Passus über den möglichen Einsatz japanischer
Verteidigungsstreitkräfte von in »fernöstlichen Notfällen« zu »Notfälle in
Japans Nachbarregionen«. Hinter der japanischen Bereitschaft, Amerika in diesem
Punkt entgegenzukommen, standen auch latente Zweifel an dem langfristigen
Stehvermögen der USA in Asien sowie die Sorge, daß Chinas Aufstieg — und
Amerikas offensichtliche Besorgnis darüber Japan irgendwann in der Zukunft vor
die inakzeptable Wahl stellen könnte: mit Amerika gemeinsame Sache gegen China
zu machen oder ohne Amerika und mit China verbündet zu sein. Für Japan enthält
dieses grundlegende Dilemma auch ein historisches Gebot: Da es unrealistisch
ist, eine beherrschende Machtposition in der Region anzustreben und der Aufstieg
zu einer wirklichen Weltmacht eine regionale Basis unabdingbar voraussetzt, kann
Japan folglich den Status einer globalen Führungsmacht am ehesten dann erlangen,
wenn es sich aktiv an der globalen Friedenssicherung und Wirtschaftsförderung
beteiligt. Indem es das amerikanisch-japanische Militärbündnis dazu nutzt, die
Stabilität im Fernen Osten zu sichern — aber ohne es zu einer
Anti-China-Koalition werden zu lassen — kann Japan sich, als die Macht, die
dafür sorgt, daß die internationale Zusammenarbeit durch die Schaffung
effektiver Institutionen verbessert und ausgedehnt wird, in aller Ruhe einer
neuen, weltweit einflußreichen Aufgabe widmen. Japan könnte somit zu einem viel
mächtigeren und weltweit einflußreicheren Äquivalent Kanadas werden: ein Staat,
der geachtet wird, weil er seinen Reichtum und seine Macht zu konstruktiven
Zwecken verwendet, aber keine Ängste und Ressentiments auslöst.
Amerikas Anpassung an die geopolitische Lage
Aufgabe amerikanischer Politik sollte es sein sicherzustellen, daß Japan eine
solche Wahl trifft und daß Chinas Aufstieg zur bestimmenden Größe in der Region
ein solides dreiseitiges Machtgleichgewicht in Ostasien nicht ausschließt. Das
Bemühen, sowohl mit Japan als auch mit China zurechtzukommen und ein tragfähiges
Dreiecksverhältnis aufrechtzuerhalten, das auch Amerika mit einbezieht, wird das
diplomatische Geschick und die politische Phantasie der Amerikaner auf eine
harte Probe stellen. Eine Politik, die sich nicht mehr auf die Bedrohung
fixiert, die Japans wirtschaftlicher Höhenflug angeblich darstellt, und die
Ängste vor Chinas politischer Macht ablegt, könnte zu einem kühlen Realismus
finden und sorgfältige strategische Überlegungen anstellen, wie sich Japans
Energie in die internationale Richtung lenken und Chinas Macht auf eine
regionale Übereinkunft hinsteuern läßt.
Nur so wird Amerika in der Lage sein, im Osten des eurasischen Festlands ein
geopolitisch ebenbürtiges Äquivalent zu Europa an der westlichen Peripherie zu
schaffen, das heißt eine regionale Machtstruktur, die auf gemeinsamen Interessen
der Beteiligten beruht. Doch ein demokratischer Brückenkopf auf dem östlichen
Festland wird noch auf sich warten lassen. Solange muß in Fernost das neu
gestaltete Bündnis mit Japan auch als Basis für eine gütliche Einigung Amerikas
mit einem regional bestimmenden China dienen.
Aus den letzten beiden Abschnitten dieses Kapitels ergeben sich für die USA
mehrere wichtige geostrategische Schlußfolgerungen:
Die derzeit herrschende Einsicht, daß China die nächste Weltmacht ist, erzeugt
paranoide Ängste vor China und nährt in China Größenwahn. Ängste vor einem
aggressiven und feindlichen China, das dazu ausersehen ist, in Kürze die nächste
Weltmacht zu werden, sind bestenfalls verfrüht und können sich schlimmstenfalls
zu einer self-fulfilling-prophecy auswachsen. Folglich wäre es kontraproduktiv,
wollte man eine Koalition auf die Beine stellen, die Chinas Aufstieg zur
Weltmacht verhindern soll. Damit würde man nur erreichen, daß ein in der Region
einflußreiches China eine feindselige Haltung einnähme. Zugleich würde jeder
derartige Versuch das amerikanisch-japanische Verhältnis belasten, da die
meisten Japaner wahrscheinlich gegen eine solche Koalition wären. Daher sollte
Amerika aufhören, Japan zur Übernahme größerer Verantwortung im
asiatisch-pazifischen Raum zu drängen. Bemühungen in dieser Richtung hemmen
lediglich das Entstehen eines stabilen Verhältnisses zwischen Japan und China,
während sie Japan noch weiter in der Region isolieren.
Aber gerade weil China wohl nicht so schnell eine Weltmacht werden dürfte — und
schon deshalb wäre es unklug, eine Politik der regionalen Eindämmung Chinas zu
verfolgen — sollte es als wichtiger Akteur auf der internationalen Bühne
behandelt werden. Bezieht man China in weitere internationale Zusammenarbeit mit
ein und billigt man ihm den Status, nach dem es strebt, zu, so könnte man damit
vielleicht seinem nationalen Ehrgeiz die Spitze nehmen. Ein wichtiger Schritt in
diese Richtung wäre es, wenn man China bei dem jährlichen Gipfel der führenden
Wirtschaftsnationen, den erweiterten G7-Staaten, hinzuzöge.
Allem Anschein zum Trotz hat China im Grunde keine großen strategischen
Optionen. Sein anhaltender wirtschaftlicher Erfolg ist weiterhin stark auf
Kapital und Technologie aus dem Westen sowie auf den Zugang zu ausländischen
Märkten angewiesen, und dies schränkt Chinas Möglichkeiten drastisch ein. Ein
Bündnis mit einem instabilen und verarmten Rußland würde Chinas wirtschaftliche
und geopolitische Aussichten nicht verbessern (und für Rußland Unterordnung
unter China bedeuten). Es bietet daher keine realistische Lösung, obgleich es
aus taktischen Gründen für beide Länder verlockend sein mag, mit diesem Gedanken
zu spielen. Unmittelbarere regionale und geopolitische Bedeutung hat für China
die Hilfe, die es dem Iran und Pakistan zukommen läßt, aber auch das verschafft
ihm keinen Ausgangspunkt für ein ernsthaftes Streben nach Weltmacht. Eine
»antihegemoniale« Koalition könnte ein letzter Ausweg sein, wenn China zu der
Auffassung gelangte, daß seine nationalen und regionalen Bestrebungen von den
Vereinigten Staaten (mit japanischer Unterstützung) blockiert werden. Es wäre
jedoch eine Koalition der Armen, die dann wahrscheinlich für eine geraume Zeit
gemeinsam arm blieben.
Ein Großchina wird die dominierende Macht in der Region sein. Als solche könnte
es versuchen, sich seinen Nachbarn auf eine Weise aufzudrängen, die die
Stabilität in der Region zerstört; oder es könnte sich damit begnügen, seinen
Einfluß weniger offen auszuüben, was seiner imperialen Vergangenheit mehr
entspräche. Ob eine hegemoniale Einflußsphäre oder eine offenere Sphäre
entsteht, in der jedoch die Nachbarstaaten ihre politischen Entscheidungen mehr
oder weniger mit Peking abstimmen, wird zum einen Teil davon abhängen, wie
brutal und autoritär das chinesische Regime bleibt, und zum anderen Teil von der
Art, in der die wichtigsten Akteure außerhalb, nämlich Amerika und Japan, auf
das Entstehen eines Großchina reagieren. Eine Politik der einfachen Befriedung
könnte China zu einer anmaßenderen Haltung ermuntern; das gleiche Ergebnis aber
würde wahrscheinlich eine Politik zeitigen, die das Entstehen eines solchen
China nur hintertreibt. Durch eine vorsichtige Einigung in einigen strittigen
Fragen und eine scharfe Abgrenzung in anderen würden vielleicht beide Extreme
vermieden.
Auf jeden Fall könnte ein Großchina in einigen Gebieten Eurasiens einen
geopolitischen Einfluss ausüben, der mit Amerikas hochfliegendem
geostrategischen Interesse an einem stabilen, aber politisch pluralistischen
Eurasien vereinbar ist. So schränkt beispielsweise das wachsendes Interesse
Chinas an Zentralasien Rußland in seiner Handlungsfreiheit zwangsläufig bei dem
Versuch ein, die Region in irgendeiner Form von politischer Reintegration wieder
unter seine Kontrolle zu bringen. Chinas steigender Energiebedarf diktiert ihm
in diesem Zusammenhang und in bezug auf den Persischen Golf wegen der
Aufrechterhaltung freier Zugänge zu und politischer Stabilität in den
Erdölgebieten mit Amerika an einem Strang zu ziehen. Auf ähnliche Weise schiebt
China mit seiner Unterstützung für Pakistan Indiens Ehrgeiz einen Riegel vor,
sich dieses Land zu unterwerfen, und schafft damit ein Gegengewicht zu Indien,
das im Hinblick auf Afghanistan und Zentralasien mit Rußland gerne
zusammenarbeiten würde. Zur regionalen Stabilität kann schließlich beitragen,
mit wenn China und Japan sich an der Erschließung Ostsibiriens beteiligen. Alle
diese gemeinsamen Interessen sollten in einem anhaltenden strategischen Dialog
ausgelotet werden.32
Es gibt auch Gebiete, wo die Bestrebungen Chinas mit amerikanischen (und ebenso
japanischen) Interessen vor allem dann kollidieren könnten, wenn jene mit einer
aus der Vergangenheit wohlvertrauten Politik der Härte verfochten werden
sollten. Dies gilt insbesondere für Südostasien, Taiwan und Korea.
32 Bei einem Treffen mit Chinas Topfunktionären für Fragen der nationalen
Sicherheit und Verteidigung 1996 nannte ich (gelegentlich unter Verwendung
bewusst vager Formulierungen) die folgenden Gebiete gemeinsamen strategischen
Interesses als grundlegend für einen solchen Dialog: 1) ein friedliches
Südostasien; 2) kein Einsatz von Gewalt in der Resolution von „offshore-Fragen“
3) friedliche Wiedervereinigung Chinas; 4) Stabilität in Korea; 5)
Unabhängigkeit Zentralasiens; 6) Gleichgewicht zwischen China und Pakistan; 7)
ein wirtschaftlich dynamisches und international gutartiges Japan; 8) ein
stabiles, aber nicht zu starkes Rußland.
Südostasien ist potentiell zu reich, geographisch zu ausgedehnt, einfach zu
groß, um sich selbst von einem mächtigen China ohne weiteres unterjochen zu
laßen — aber es ist auch zu schwach und politisch zu zerstückelt, um davor
gefeit zu sein, in den Sog Pekings zu geraten. Chinas regionaler Einfluß, dem
die Finanz- und Wirtschaftsmacht der Auslandschinesen in allen Ländern des
asiatischpazifischen Raums noch dazu Vorschub leistet, wird stetig zunehmen.
Viel hängt davon ab, wie China diese Macht handhabt, aber es versteht sich
durchaus nicht von selbst, daß Amerika ein besonderes Interesse hat, sich ihr
direkt zu widersetzen oder sich in Probleme, wie den Streit um das
Südchinesische Meer, hineinziehen zu lassen. Die Chinesen haben historische
Erfahrung im raffinierten Umgang mit ungleichen (oder auch tributpflichtigen)
Beziehungen, und es wäre bestimmt für China von Vorteil, sich in
Selbstbeherrschung zu üben, um regionale Ängste vor chinesischem Imperialismus
zu vermeiden. Diese Furcht könnte eine regionale Anti-China-Koalition
hervorbringen (und einige derartige Untertöne sind in der im Entstehen
begriffenen militärischen Zusammenarbeit zwischen Indonesien und Australien
durchaus vorhanden), die dann höchstwahrscheinlich bei den Vereinigten Staaten,
Japan und Australien um Unterstützung nachsuchen würde.
Ein Großchina wird, nachdem es Hongkong verdaut hat, mit ziemlicher Sicherheit
energisch auf eine Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland hinarbeiten. Man
darf nicht vergessen, daß China nie in eine endgültige Trennung Taiwans
eingewilligt hat. Daher könnte diese Frage irgendwann einmal eine direkte
Konfrontation zwischen Amerika und China heraufbeschwören, mit fatalen
Konsequenzen für alle Beteiligten: China würde wirtschaftlich zurückgeworfen,
Amerikas Beziehungen zu Japan könnten ernsthaft belastet werden, und die
Bemühungen der USA, im östlichen Eurasien ein stabiles Machtgleichgewicht zu
schaffen, könnten scheitern.
Folglich müssen beide Seiten über dieses Problem äußerste Klarheit erzielen.
Obwohl es China wahrscheinlich in absehbarer Zeit an den nötigen Mitteln fehlen
wird, Taiwan wirksam unter Druck zu setzen, muß Peking wissen — und glaubhaft
überzeugt werden — daß eine amerikanische Einwilligung in den Versuch der
gewaltsamen Wiedereingliederung Taiwans für das Ansehen der USA in Fernost so
verheerend wäre, daß diese es sich einfach nicht leisten könnten, militärisch
passiv zu bleiben, sollte sich Taiwan nicht selbst schützen können.
Mit anderen Worten, Amerika würde nicht einem eigenständigen Taiwan zuliebe
eingreifen müssen, sondern wegen seiner eigenen geopolitischen Interessen im
asiatisch-pazifischen Raum. Dies ist ein wichtiger Unterschied. Die Vereinigten
Staaten haben per se kein besonderes Interesse an einem eigenständigen Taiwan.
Tatsächlich lautete ihre offizielle Position (und daran sollte sich auch nichts
ändern), daß es nur ein China gibt. Aber wie China eine Wiedervereinigung
betreibt, kann die vitalen Interessen Amerikas tangieren, und darüber müssen
sich die Chinesen im klaren sein.
Das Taiwan-Problem verschafft Amerika außerdem einen legitimen Grund, in
Verhandlungen mit China die Frage nach den Menschenrechten zu stellen, ohne sich
den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, es mische sich in Chinas innenpolitische
Angelegenheiten ein. Es ist absolut angebracht, Peking gegenüber ständig zu
wiederholen, daß eine Wiedervereinigung erst zustande kommen wird, wenn es der
chinesischen Bevölkerung materiell besser geht und demokratische Reformen
stattgefunden haben. Nur ein China, das auch bereit ist, eine auf dem Grundsatz
»ein Land, verschiedene Systeme« basierende Konföderation zu werden, wird für
Taiwan attraktiv sein und dieses assimilieren können. Taiwans wegen ist es auf
jeden Fall in Chinas eigenem Interesse, den Menschenrechten mehr Achtung
einzuräumen und in diesem Zusammenhang sollte Amerika das Thema durchaus
ansprechen. Gleichzeitig sollten sich die Vereinigten Staaten — im Einklang mit
ihrem China gegebenen Versprechen — des direkten oder indirekten Eintretens für
eine internationale Aufwertung des taiwanesischen Sonderstatus enthalten. In den
neunziger Jahren erweckten offizielle Kontakte zwischen den USA und Taiwan den
Eindruck, als begännen die USA stillschweigend, Taiwan als eigenen Staat zu
behandeln, und der Ärger Chinas darüber war ebenso verständlich wie sein Unmut
über die verstärkten Bemühungen taiwanesischer Regierungskreise, dem
Sonderstatus Taiwans internationale Anerkennung zu verschaffen.
Die Vereinigten Staaten sollten daher ruhig deutlich machen, daß taiwanesische
Versuche, die seit langem das Verhältnis zwischen China und Taiwan prägende
Politik in der Schwebe zu ändern, sich auf Washingtons Haltung gegenüber Taiwan
negativ auswirken werden. Wenn China prosperiert und zur Demokratie findet und
wenn seine Einverleibung Hongkongs nicht zu einer Rückentwicklung in der
Menschenrechtsfrage führt, würden die USA mit einem von ihnen angeregten
ernsthaften Dialog zwischen Peking und Taipeh über die Bedingungen einer
Wiedervereinigung zudem Druck auf eine fortschreitende Demokratisierung
innerhalb Chinas ausüben und wären somit einer umfassenderen strategischen
Einigung mit einem Großchina förderlich.
Korea, der geopolitische Dreh- und Angelpunkt in Nordostasien, könnte erneut zum
Zankapfel zwischen Amerika und China werden, und außerdem wird seine Zukunft
unmittelbare Auswirkungen auf das amerikanisch-japanische Verhältnis haben.
Solange Korea geteilt und anfällig für einen Krieg zwischen dem instabilen
Nordkorea und dem immer reicher werdenden Süden ist, werden US-Streitkräfte auf
der Halbinsel stationiert bleiben müssen. Jeder einseitige Abzug der USA würde
wahrscheinlich nicht nur einen neuen Krieg heraufbeschwören, sondern wohl auch
das Ende der amerikanischen Militärpräsenz in Japan einläuten. Es ist schwer
vorstellbar, daß sich die Japaner noch viel von einem weiteren
US-Truppenkontingent auf japanischem Boden versprechen, wenn die Amerikaner
Südkorea aufgegeben haben. Eine rasche Aufrüstung Japans wäre die
wahrscheinlichste Folge, mit destabilisierendem Effekt für die gesamte Region.
Koreas Wiedervereinigung dürfte jedoch ernste geopolitische Probleme aufwerfen.
Sollten amerikanische Streitkräfte in einem wiedervereinigten Korea stationiert
bleiben, würden die Chinesen sie unweigerlich als gegen ihr Land gerichtet
betrachten. Ob die Chinesen unter diesen Umständen in eine Wiedervereinigung
einwilligen würden, ist zweifelhaft. Falls diese Wiedervereinigung sich
schrittweise, gewissermaßen als weiche Landung, vollzieht, würde China sie
politisch hintertreiben und jene Kräfte in Nordkorea unterstützen, die sich
beharrlich gegen eine Wiedervereinigung sträuben. Sollte die Wiedervereinigung
gewaltsam erfolgen und Korea dabei eine Bruchlandung erleben, könnte selbst eine
militärische Intervention der Chinesen nicht ausgeschlossen werden. Aus der
Sicht Pekings wäre ein wiedervereinigtes Korea nur dann hinnehmbar, wenn es
nicht gleichzeitig eine direkte Verlängerung amerikanischer Macht wäre (mit
Japan als dem Sprungbrett im Hintergrund).
Ein wiedervereinigtes Korea, in dem keine US-Truppen mehr stationiert wären,
würde vermutlich zunächst zu einer Art Neutralität zwischen China und Japan
tendieren und hierauf allmählich — teils aufgrund noch immer in Resten
vorhandener starker antijapanischer Vorurteile — ins Magnetfeld Chinas, das
heißt entweder direkt unter den politischen Einfluß Pekings oder aber in ein
indirektes Abhängigkeitsverhältnis geraten. Es erhöbe sich dann die Frage, ob
Japan immer noch willens wäre, den USA als einziger Militärstützpunkt in Asien
zu dienen. Zumindest würde diese Frage das Land innenpolitisch spalten. Jeder
daraus resultierende militärische Rückzug der USA aus Fernost hätte umgekehrt
eine Gefährdung des Machtgleichgewichts in Eurasien zur Folge. Aufgrund dieser
Überlegungen sind Japan und Amerika um so mehr daran interessiert (wenn auch aus
jeweils etwas anderen Gründen), daß sich am Status quo Koreas nichts ändert, und
wenn es dennoch zu einer solchen Änderung kommen sollte, so muß diese in sehr
langsamen Schritten erfolgen, vorzugsweise im Rahmen einer zunehmenden
amerikanischchinesischen Einigung über regionale Belange.
In der Zwischenzeit würde eine echte Aussöhnung zwischen Japan und Korea
entscheidend zu einem stabileren regionalen Umfeld beitragen, das einer
Wiedervereinigung des geteilten Landes zugute käme. Eine echte Versöhnung
zwischen Japan und Korea würde die verschiedenen internationalen Komplikationen,
die aus einer koreanischen Wiedervereinigung erwachsen könnten, mildern und zu
einer zunehmend kooperativen und verbindlichen politischen Beziehung führen. Die
USA könnten eine ganz entscheidende Rolle beim Zustandekommen einer solchen
Versöhnung spielen. Die vielen einzelnen Schritte, die zuerst die deutsch
französische Aussöhnung und später die zwischen Deutschland und Polen
vorangebracht (zum Beispiel vom akademischen Austausch bis hin zu gemeinsamen
Militärverbänden) haben, könnten auch hier unternommen werden. Eine umfassende
und sich auf die regionale Stabilität positiv auswirkende japanisch- koreanische
Partnerschaft wiederum würde eine ständige Präsenz der USA im Fernen Osten,
selbst nach einer Wiedervereinigung Koreas, erleichtern.
Es erübrigt sich fast zu erwähnen, daß ein enges politisches Verhältnis zu Japan
im globalen geostrategischen Interesse Amerikas liegt. Aber ob Japan der Vasall,
Gegner oder Partner Amerikas sein wird, hängt davon ab, ob Amerikaner und
Japaner in der Lage sind, die von beiden Ländern gemeinsam zu verfolgenden
internationalen Ziele deutlicher herauszuarbeiten, und ob sie klarer bestimmen
können, wo die Grenzlinie zwischen der geostrategischen Mission der USA in
Fern-Ost und Japans Streben nach Weltgeltung verläuft. Trotz der im Lande
geführten Debatten über die japanische Außenpolitik bleibt für Japan die
Beziehung zu Amerika das Leuchtfeuer, nach dem es sich international orientiert.
Ein desorientiertes Japan, das zwischen Wiederaufrüstung oder einem
Sonderabkommen mit China schwankt, bedeutete das Ende der amerikanischen Rolle
im asiatischpazifischen Raum und verhinderte das Entstehen einer regional
stabilen DreiecksVereinbarung zwischen Amerika, Japan und China; damit wäre auch
der Plan der USA, in Eurasien ein politisches Gleichgewicht herzustellen,
hinfällig.
Kurz: ein desorientiertes Japan wäre einem gestrandeten Wal vergleichbar: der
hilflos, aber gefährlich um sich schlägt. Es könnte Asien destabilisieren, aber
es könnte keine realistische Alternative zu der notwendigen stabilisierenden
Balance zwischen Amerika, Japan und China anbieten. Nur in einer engen Allianz
mit Japan werden die USA Chinas regionale Bestrebungen ausgleichen und deren
willkürlichere Auswüchse zügeln können. Allein auf dieser Basis kann eine
komplizierte, dreiseitige Vereinbarung zustande kommen — eine, die Amerikas
Weltmacht, Chinas Übergewicht in der Region und Japans internationale
Führungsrolle berücksichtigt.
Folglich ist ein Abbau der derzeitigen Truppenstärke in Japan (und um Korea
erweitert) in nächster Zeit nicht wünschenswert. Aus demselben Grund allerdings
ist eine erkleckliche Erweiterung der geopolitischen Ausdehnung und eine
Erhöhung der tatsächlichen militärischen Schlagkraft Japans nicht
erstrebenswert. Ein Rückzug Amerikas hätte sehr wahrscheinlich ein größeres
japanisches Rüstungsprogramm vor dem Hintergrund einer beunruhigenden
strategischen Desorientierung zur Folge. Der Druck Amerikas auf Japan, eine
größere militärische Rolle zu übernehmen, kann hingegen nur die Aussichten auf
regionale Stabilität beschädigen, eine umfassendere regionale Einigung mit
Großchina erschweren und Japan davon abbringen, eine konstruktivere Aufgabe auf
internationaler Ebene zu übernehmen und hierdurch die Bemühung, einen stabilen
geopolitischen Pluralismus in ganz Eurasien zu fördern, komplizieren.
Des weiteren folgt daraus, daß Japan — wenn es sich der Welt zu und von Asien
abwenden soll — einen sinnvollen Anreiz und einen Sonderstatus erhalten muß,
damit auch seinen nationalen Interessen gedient ist. Im Unterschied zu China,
das den Status einer Weltmacht anstreben kann, nachdem es eine regionale Macht
geworden ist, kann Japan weltweiten Einfluß erlangen, indem es das Streben nach
regionaler Macht aufgibt. Dadurch wird es aber für Japan um so wichtiger, sich
an der Seite Amerikas einer auf politischem Gebiet ebenso befriedigenden wie auf
wirtschaftlichem Gebiet segensreichen globalen Aufgabe zu widmen. Mit Hinblick
darauf täten die USA gut daran, ein amerikanisch-japanisches Freihandelsabkommen
in Erwägung zu ziehen, mit dem ein gemeinsamer amerikanisch-japanischer
Wirtschaftsraum geschaffen würde. Ein solcher Schritt, der die wachsende
Verkettung der beiden Volkswirtschaften formalisiert, würde sowohl die ständige
Präsenz Amerikas im Fernen Osten als auch Japans weltweites konstruktives
Engagement untermauern.33
Um zum Schluß zu kommen: Japan sollte für Amerika der unerläßliche und
vorrangige Partner beim Aufbau einer immer umfassenderen und alle Lebensbereiche
durchdringenden globalen Zusammenarbeit sein, aber nicht in erster Linie ihr
militärischer Verbündeter in einem regionalen Abkommen, das es darauf anlegt,
Chinas regionale Vormachtstellung anzufechten. In Wirklichkeit sollte Japan
Amerikas globaler Partner sein, der mit ihm das neue Programm der Weltpolitik in
Angriff nimmt. In der traditionellen Sphäre der Machtpolitik sollte ein regional
herausragendes China Amerikas fernöstlicher Anker werden und. dadurch ein
eurasisches Machtgleichgewicht befördern helfen, wobei Großchinas Rolle im Osten
Eurasiens der eines größer werdenden Europa in Eurasiens Westen entspricht.
33 Für diese initiative hat sich besonders Kurt Tong stark gemacht, der in
„Revo1utionazing America`s Japan Policy“, Foreign Policy (Winter 1996--1997) auf
die gegenseitigen Wirtschaftsvorteile hinwies.
7SCHLUSSFOLGERUNGEN
Es ist an der Zeit, daß Amerika eine einheitliche, umfassende und langfristige
Geostrategie für Eurasien als Ganzes formuliert und verfolgt. Diese
Notwendigkeit ergibt sich aus dem Zusammenwirken zweier grundlegender Faktoren:
Amerika ist heute die einzige Supermacht auf der Welt, und Eurasien ist der
zentrale Schauplatz. Von daher wird die Frage, wie die Macht auf dem eurasischen
Kontinent verteilt wird, für die globale Vormachtstellung und das historische
Vermächtnis Amerikas von entscheidender Bedeutung sein.
Amerikas globale Vorherrschaft ist in ihrer Ausdehnung und in ihrer Art
einzigartig. Sie ist eine Hegemonie neuen Typs, die viele Merkmale der
amerikanischen Demokratie widerspiegelt: sie ist pluralistisch, durchlässig und
flexibel. In weniger als einem Jahrhundert zustande gekommen, zeigt sie sich vor
allem in der beispiellosen Rolle Amerikas auf der eurasischen Landmasse, wo
bisher alle früheren Konkurrenten um die Weltmacht ihren Ursprung hatten.
Amerika ist nun der Schiedsrichter Eurasiens, und kein größeres eurasisches
Problem läßt sich ohne die Beteiligung der USA oder gegen ihre Interessen lösen.
Ausschlaggebend für die Dauer und Stabilität der amerikanischen
Weltmachtstellung wird sein, wie die Vereinigten Staaten die wichtigsten
geostrategischen Spieler auf dem eurasischen Schachbrett einerseits steuern und
ihnen andererseits entgegenkommen, und wie sie mit den entscheidenden
geopolitischen Dreh- und Angelpunkten umzugehen verstehen. In Europa werden
Deutschland und Frankreich auch weiterhin die Schlüsselfiguren sein, und Amerika
sollte sich bemühen, den bestehenden demokratischen Brückenkopf an der
westlichen Peripherie Eurasiens zu festigen und zu erweitern. Im Fernen Osten
Eurasiens wird wahrscheinlich China immer starker in den Mittelpunkt des
Geschehens treten, und Amerika wird auf dem asiatischen Festland politisch nicht
Fuß fassen können, wenn es nicht erfolgreich auf einen geostrategischen Konsens
mit China hinarbeitet. In der Mitte Eurasiens wird der Raum zwischen einem sich
erweiternden Europa und einem regional aufstrebenden China geopolitisch solange
ein Schwarzes Loch bleiben, wie sich Rußland noch zu keiner postimperialen
Selbstdefinition durchgerungen hat, während die Region südlich von Rußland — der
eurasische Balkan — ein Hexenkessel ethnischer Konflikte und Großmacht
Rivalitäten zu werden droht.
Vor diesem Hintergrund wird Amerikas Status als führende Weltmacht in absehbarer
Zeit — für mehr als eine Generation wohl von keinem Herausforderer angefochten
werden. Kein Nationalstaat dürfte sich mit den USA in den vier
Schlüsselbereichen der Macht (militärisch, wirtschaftlich, technologisch und
kulturell) messen können, die gemeinsam die entscheidende globale politische
Schlagkraft ausmachen. Außer einer bewußten oder unfreiwilligen Abdankung
Amerikas ist in absehbarer Zeit die einzig reale Alternative zur globalen
Führungsrolle der USA die internationale Anarchie. So gesehen, kann man zu Recht
behaupten, daß Amerika, wie Präsident Clinton es ausdrückte, die für die Welt
»unentbehrliche Nation ist«.
Man muß hier dem Faktum der Unentbehrlichkeit das Potential für weltweite
Anarchie gegenüberstellen. Die verheerenden Folgen der Bevölkerungsexplosion,
Armutsmigration, sich rasant beschleunigender Urbanisierung, ethnischer und
religiöser Feindseligkeiten und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
wären nicht zu bewältigen, sollte auch noch das bestehende, auf Nationalstaaten
basierende Grundgerüst rudimentärer geopolitischer Stabilität zu Bruch gehen.
Ohne ein abhaltendes und gezieltes Engagement Amerikas könnten bald die Kräfte
weltweiter Unordnung die internationale Bühne beherrschen. Angesichts der
geopolitischen Spannungen, nicht nur im heutigen Eurasien, sondern überall auf
der Welt, ist ein solches Szenario durchaus denkbar.
Die daraus resultierenden Gefahren für eine globale Stabilität werden durch die
Aussicht auf eine allgemeine Verschlechterung der menschlichen Lebensbedingungen
noch vergrößert. Vor allem in den ärmeren Ländern der Welt lassen
Bevölkerungsexplosion und gleichzeitige Verstädterung das Heer der
Benachteiligten und der Abermillionen arbeitsloser und immer unruhiger werdender
junger Leute unaufhaltsam anwachsen, deren Frustrationspegel rasend steigt. Die
modernen Medien verstärken den Bruch, den diese jungen Leute gegenüber
traditionellen Autoritäten vollziehen, und führen ihnen die krasse Ungleichheit
auf der Welt vor Augen. Das schürt ihren Unmut und macht sie für extremistische
Rattenfänger anfällig. Einerseits könnte das Phänomen weltweiter
Wanderungsbewegungen, die bereits in die zehn Millionen gehende Menschen umfaßt,
für einige Zeit als Sicherheitsventil wirken, andererseits werden dadurch auch
ethnische und soziale Konflikte von einem Kontinent auf den anderen übertragen.
Das Amt des Weltpolizisten, das Amerika geerbt hat, wird daher kaum von
Turbulenzen, Spannungen und zumindest sporadischen Gewaltausbrüchen verschont
bleiben. Die neue und komplexe internationale Ordnung, die unter amerikanischer
Hegemonie zustande kam und ihre Handschrift trägt, und innerhalb derer die
Kriegsgefahr vom Tisch ist, wird sich wohl auf jene Teile der Welt beschränken,
in denen demokratische Gesellschaften und Verfassungen sowie ausgeklügelte
multilaterale — doch ebenfalls von Amerika dominierte — Strukturen die Macht der
USA gestützt haben.
Eine amerikanische Geostrategie für Asien wird sich folglich gegen die Kräfte
des Chaos behaupten müssen. In Europa gibt es Anzeichen dafür, daß der Impuls zu
Integration und Erweiterung nachläßt und die alten europäischen Nationalismen
bald wieder aufleben könnten. Selbst in den erfolgreichsten europäischen Staaten
dauert die Massenarbeitslosigkeit unvermindert an und erzeugt
ausländerfeindliche Reaktionen, die in der deutschen oder französischen Politik
einen plötzlichen Rechtsruck und chauvinistische Tendenzen herbeiführen könnten.
Es wäre in der Tat denkbar, daß dort eine vorrevolutionäre Lage entsteht. Der
historische Zeitplan für Europa, wie er in Kapitel 3 skizziert wurde, wird nur
dann eingehalten werden können, wenn die Vereinigten Staaten Europas
Einigungsbestrebungen nachhaltig ermuntern, ja sogar anspornen.
Die Ungewißheiten über die Zukunft Rußlands sind noch größer und die Aussichten
auf eine positive Entwicklung viel geringer. Darum muß Amerika unbedingt einen
geopolitischen Rahmen entwerfen, der Rußlands Assimilation an einen von
wachsender europäischer Zusammenarbeit geprägten Hintergrund Rechnung trägt und
der außerdem die selbstbewußte Unabhängigkeit seiner neuerdings souveränen
Nachbarn fördert. Doch ob die Ukraine oder Usbekistan (gar nicht zu reden vom
ethnisch zweigeteilten Kasachstan) als unabhängige Staaten überleben können,
bleibt ungewiß, zumal wenn neue Krisen innerhalb Europas, wie etwa die wachsende
Kluft zwischen der Türkei und der EU oder feindseliger werdende Töne im
amerikanisch-iranischen Verhältnis die Aufmerksamkeit der USA ablenken sollten.
Die Möglichkeit, daß es schließlich doch zu einer großen Einigung mit China
kommt, könnte durch eine zukünftige Taiwan-Krise zunichte werden oder weil
innenpolitische Turbulenzen ein aggressives, feindseliges Regime in Peking an
die Macht bringen, beziehungsweise weil sich die amerikanisch-chinesischen
Beziehungen als Fehlschlag erweisen. China könnte dann zu einer äußerst
destabilisierenden Kraft in der Welt werden, das amerikanisch-japanische
Verhältnis enorm belasten und vielleicht auch in Japan eine zerrüttende
geopolitische Orientierungslosigkeit auslösen. In einem solchen Szenario wäre
zweifellos die Stabilität Südostasiens in Gefahr, und man kann nur Vermutungen
anstellen, wie sich das Zusammentreffen dieser Ereignisse auf die Haltung und
nationale Geschlossenheit Indiens auswirken würde, einem für die Stabilität
Südasiens entscheidenden Land.
Diese Bemerkungen sollen vor Augen führen, daß weder die neuen globalen
Probleme, die die Zuständigkeit der einzelnen Nationalstaaten übersteigen, noch
die herkömmlichen geopolitischen Angelegenheiten gelöst oder auch nur in Grenzen
gehalten werden können, falls die geopolitischen Grundstrukturen zu bröckeln
beginnen. In Anbetracht des Wetterleuchtens am politischen Horizont Europas und
Asiens muß sich jede erfolgreiche amerikanische Politik auf Eurasien als Ganzes
konzentrieren und sich von einem geostrategischen Plan leiten lassen.
Eine Geostrategie für Eurasien
Die hierfür erforderliche Politik muß zuallererst die drei bislang nie
dagewesenen Bedingungen ungeschminkt zur Kenntnis nehmen, von denen das
Weltgeschehen geopolitisch derzeit bestimmt wird: zum ersten Mal in der
Geschichte ist (1) ein einzelner Staat die wirkliche Weltmacht, hat (2) ein
außereurasischer Staat weltweit diese Vormachtstellung inne und wird (3) der
zentrale Schauplatz der Welt, Eurasien, von einer außereurasischen Macht
dominiert.
Eine umfassende und einheitliche Geostrategie für Eurasien muß allerdings auf
der Einsicht gründen, daß auch der Macht Amerikas Grenzen gesetzt sind und daß
mit der Zeit Verschleißerscheinungen unvermeidlich sind. Wie schon erwähnt,
setzen allein die schiere Größe und Vielfalt Eurasiens wie auch die potentielle
Macht einiger seiner Staaten dem Einfluß Amerikas und dem Ausmaß seiner
Kontrolle über den Gang der Ereignisse Grenzen. Dieser Umstand erfordert
geostrategisches Verständnis und den bewußt selektiven Einsatz amerikanischer
Ressourcen auf dem riesigen eurasischen Schachbrett. Und da die beispiellose
Macht der USA mit der Zeit notgedrungen abnimmt, muß es in erster Linie darum
gehen, mit dem Aufkommen anderer regionaler Mächte so zurechtzukommen, daß
Amerikas globale Vormachtstellung nicht bedroht wird.
Wie beim Schach müssen Amerikas globale Strategen etliche Züge im voraus
durchdenken und mögliche Züge des Gegners vorwegnehmen. Eine konsequente
Geostrategie muß daher zwischen kurzfristiger Perspektive (grob gesagt, für die
nächsten fünf Jahre), einer mittelfristigen (bis zu zwanzig Jahren in etwa) und
einer langfristigen (über zwanzig Jahre hinaus) Perspektive unterscheiden. Zudem
dürfen diese Zeitabschnitte nicht als in sich abgeschlossen betrachtet werden,
sondern als Teil eines Kontinuums. Die erste Phase muß allmählich und stetig in
die zweite überleiten — ja, muß bewußt auf sie ausgerichtet sein und die zweite
muß entsprechend in die dritte übergehen.
Kurzfristig ist es in Amerikas Interesse, den derzeit herrschenden Pluralismus
auf der Landkarte Eurasiens zu festigen und fortzuschreiben. Dies erfordert ein
hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition
zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen
könnte, ganz abgesehen davon, daß dies einem einzelnen Staat so schnell nicht
gelänge. Mittelfristig sollte die eben beschriebene Situation allmählich einer
anderen weichen, in der auf zunehmend wichtigere, aber strategisch kompatible
Partner größeres Gewicht gelegt wird, die, veranlaßt durch die Führungsrolle
Amerikas, am Aufbau eines kooperativeren transeurasischen Sicherheitssystems
mitwirken können. Schließlich, noch längerfristiger gedacht, könnte sich aus
diesem ein globaler Kern echter gemeinsamer politischer Verantwortung
herausbilden.
Zunächst besteht die Aufgabe darin sicherzustellen, daß kein Staat oder keine
Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien
zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu
beeinträchtigen. Die Festigung des transkontinentalen geopolitischen Pluralismus
sollte jedoch nicht Selbstzweck sein, sondern nur dem mittelfristigen Ziel,
echte strategische Partnerschaften in den Schlüsselregionen Eurasiens zu bilden,
dienen. Es ist nicht anzunehmen, daß ein demokratisches Amerika sich auf Dauer
der schwierigen, aufreibenden und kostspieligen Aufgabe zu widmen gewillt sein
wird, Eurasien durch dauerndes Taktieren und Manipulieren in den Griff zu
bekommen, und dabei weltweit seine militärischen Ressourcen einsetzt, um die
regionale Dominanz irgendeiner Macht zu verhindern. Die erste Phase muß daher
logisch und planvoll in die zweite überleiten, eine Phase, in der eine
friedliche Hegemonie der USA andere auch weiterhin davon abhält, diese in Frage
zu stellen, weil zum einen der Preis, den sie dafür bezahlen müßten, zu hoch ist
und zum andern Amerika die vitalen Interessen derer, die in Eurasien regionale
Zielsetzungen verfolgen, nicht bedroht.
Mittelfristig geht es darum, echte Partnerschaften zu fördern, allen voran jene
mit einem geeinteren und politisch klarer definierten Europa und mit einem
regional beherrschenden China, sowie mit (so ist zu hoffen) einem postimperialen
und nach Europa hin orientierten Rußland und am südlichen Rand Eurasiens mit
einem, auf die Region stabilisierend wirkenden, demokratischen Indien. Aber wie
das Umfeld aussehen wird, das Rußlands Rolle bestimmt, hängt davon ab, ob es
gelingt, umfassendere strategische Beziehungen mit Europa beziehungsweise China
zu schmieden oder nicht.
Daraus folgt, daß ein größeres Europa und eine erweiterte NATO den kurz- und
längerfristigen Zielen der US-Politik durchaus dienlich sind. Ein größeres
Europa wird den Einflußbereich Amerikas erweitern — und mit der Aufnahme neuer
Mitglieder aus Mitteleuropa in den Gremien der Europäischen Union auch die Zahl
der Staaten erhöhen, die den USA zuneigen — ohne daß ein politisch derart
geschlossenes Europa entsteht, das bald schon die Vereinigten Staaten in für sie
bedeutsamen geopolitischen Belangen anderswo, insbesondere im Nahen Osten,
herausfordern könnte. Ein politisch klar definiertes Europa ist nicht zuletzt
für die fortschreitende Einbindung Rußlands in ein System globaler
Zusammenarbeit unverzichtbar.
Amerika kann allein kein geeinteres Europa schaffen — das ist Sache der
Europäer, allen voran der Franzosen und Deutschen — Amerika kann aber das
Entstehen eines geeinteren Europa behindern. Und dies könnte sich für die
Stabilität in Eurasien und somit für Amerikas eigene Interessen als fatal
erweisen. In der Tat droht Europa, wenn es nicht zu einer Einheit kommt, wieder
zu zerfallen. Folglich ist es, wie oben dargelegt, lebenswichtig, daß Amerika
sowohl mit Deutschland als auch mit Frankreich eng zusammenarbeitet, auf ein
politisch lebensfähiges Europa hin, das gleichwohl mit den USA verbunden bleibt
und den Geltungsbereich des internationalen Systems demokratischer
Zusammenarbeit ausdehnt. Ohne Europa wird es kein transeurasisches System geben.
Praktisch heißt das: Es muß allmählich eine Übereinkunft über eine gemeinsame
Führung in der NATO erzielt, Frankreichs Interesse an einer Rolle Europas nicht
nur in Afrika, sondern auch im Nahen Osten stärker berücksichtigt und eine
Osterweiterung der EU anhaltend unterstützt werden, selbst wenn die EU ein
politisch wie wirtschaftlich selbstbewußterer global player werden sollte.34 Ein
transatlantisches Freihandelsabkommen, das bereits eine Reihe prominenter
Staatsmänner des Atlantischen Bündnisses befürworten, könnte außerdem das Risiko
verringern, daß es auf wirtschaftlichem Gebiet zu immer stärkeren Rivalitäten
zwischen einer geeinteren EU und den Vereinigten Staaten kommt. Wenn es der EU
schließlich gelänge, die jahrhundertealten nationalstaatlichen Feindseligkeiten
mit all ihren negativen Folgen für die Welt zu begraben, könnte Amerika dafür
durchaus in Kauf nehmen, daß seine Schiedsrichterrolle in Eurasien nach und nach
an Bedeutung verliert.
34 Eine Reihe konstruktiver Vorschläge zu diesem Zweck wurden auf der CISS
(Center for International Strategic Studies) Konferenz über Amerika und Europa
gemacht, die im Februar 1997 in Brüssel stattfand. Sie reichten von gemeinsamen
Bemühungen um eine Strukturreform zur Reduzierung der Staatsdefizite bis hin zur
Entwicklung einer verbesserten europäischen militärischindustriellen Basis, die
die transatlantische Verteidigungskooperation stärken und eine größere Rolle
Europas in der NATO ermöglichen würde. Eine nützliche Liste ähnlicher und
anderer Initiativen, die auf eine Stärkung der Rolle Europas abzielen, findet
sich in David C. Gompert und E. Stephen Larrabee (Hg.)„America and Europe: A
Partnerchip for a New Era“ (Santa Monica, CA: RAND, 1997).
Die Erweiterung von NATO und EU hätte wohl überdies zur Folge, daß die Europäer
sich wieder stärker ihrer Verantwortung für die Welt bewußt werden, und
zugleich, zum Nutzen Amerikas wie Europas, die durch die erfolgreiche Beendigung
des Kalten Krieges gewonnenen Vorteile der Demokratie, festigen. Bei dieser
Bemühung steht nichts weniger auf dem Spiel als Amerikas langfristiges
Verhältnis zu Europa. Ein neues Europa muß erst noch Gestalt annehmen, und wenn
dieses neue Europa geopolitisch ein Teil des »eu |