Amerika treibt Europa in einen Atomkrieg

Kanzler Olaf Scholz im Würgegriff der Hasardeure von Washington:
Ein Verhandlungsfrieden mit Moskau wird immer dringlicher.

Oskar Lafontaine


Erschienen an der Weltwoche Nr. 17.22

Politik der Konfrontation
I

m Ukraine-Krieg geht es in Wirklichkeit um eine Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland. In seinem 1997 veröffentlichten Buch «Die einzige Weltmacht» lobt der ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, den beispiellosen Militärapparat der USA als den einzigen, der einen weltweiten Aktionsradius habe. Natürlich seien Russland und China mit der amerikanischen Hegemonie nicht einverstanden. Daher müssten die USA alles tun, um keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen könne.

Die Ukraine sei bei der Verfolgung dieses Ziels der geopolitische Dreh- und Angelpunkt. Ohne die Ukraine sei Russland kein eurasisches Reich mehr. Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlange Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges, Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.

Ergänzt man diese Überlegungen um die Kernaussage eines Vortrags, den der Chef von Stratfor, George Friedman, am 3.Februar 2015 in Chicago gehalten hat, nach der es das Hauptziel der US-Politik seit Jahrhunderten sei, sicherzustellen, dass es keine Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland gibt, dann weiss man, was das Ziel der Nato-Osterweiterung war.

Milliarden für eine Marionette

Man versteht auch, warum die stellvertretende Aussenministerin der USA, Victoria Nuland, vor Jahren freimütig zugab, dass die USA fünf Milliarden Dollar ausgegeben hätten, um eine ihnen genehme Marionettenregierung in Kiew zu installieren. Es wird dann auch klar, warum Washington seit Jahren alles unternimmt, um die Lieferung von Kohle, Öl und Gas aus Russland nach Europa zu verhindern.

Vor diesem Hintergrund ist es auch mehr als plausibel, wenn der renommierte US-Ökonom Jeffrey Sachs davor warnt, dass die US-Strategie auf einen langen Krieg in der Ukraine mit Tausenden von Toten hinauslaufe. Er empfiehlt Europa, einen eigenen Weg zu gehen und eine neutrale Ukraine mit einer Autonomie für den Donbass als Verhandlungslösung ins Gespräch zu bringen. Es ist erstaunlich, in welchem Ausmass Politiker und Journalisten in Europa, vor allem in Deutschland, diese geostrategischen Zusammenhänge nicht erkennen und blind der brandgefährlichen US-Strategie einer weiteren Anheizung des Ukraine-Kriegs folgen. Brandgefährlich, weil die USA offensichtlich den Rat ihres ehemaligen Präsidenten John F. Kennedy nicht befolgen wollen, nach dem man eine Atommacht niemals in eine Situation bringen dürfe, aus der sie keinen gesichtswahrenden Ausweg mehr finde.

Es ist erstaunlich, in welchem Ausmass Politiker in Europa blind der brandgefährlichen US-Strategie folgen.

Es ist ein grosser Nachteil, dass in Deutschland jetzt eine Regierung die Verantwortung trägt, in der die führenden Politiker wenig aussenpolitische Erfahrung haben. Dazu kommt, dass die grösste Oppositionspartei, die CDU, vom ehemaligen Blackrock-Lobbyisten Friedrich Merz geführt wird, dessen früherer Arbeitgeber prächtig am Anstieg der Aktienkurse der Rüstungskonzerne mitverdient.

Cartoon: Kai Felmy

Der SPD fehlen Entspannungspolitiker, die wie Brandt oder Bahr noch wussten, dass Sicherheit in Deutschland und Europa nur gemeinsam mit der Atommacht Russland erreicht werden kann. Auch in der FDP ist weit und breit kein Politiker von der Statur Hans-Dietrich Genschers zu sehen, der als Aussenminister stets die Gefahr eines auf Europa begrenzten Nuklearkriegs im Auge hatte. Selbst Guido Westerwelle hatte noch den Mut, beim Überfall auf Libyen den USA die kalte Schulter zu zeigen. Welchem FDP-Politiker würde man das heute noch zutrauen?

Baerbocks faschistoide Sprache

Die konsequentesten und gefährlichsten US-Vasallen in der Bundesregierung und im Deutschen Bundestag sind die Grünen, deren einstiger Vormann Joschka Fischer mit seiner späteren Geschäftspartnerin Madeleine Albright Deutschlands Beteiligung am völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg vorantrieb. Man dachte, es könne nicht schlimmer kommen, aber die neue Aussenministerin Annalena Baerbock bedient sich schon mal faschistoider Sprache und will Russland «ruinieren». Sie steht nach eigenem Bekunden auf den Schultern der kürzlich verstorbenen Madeleine Albright, die den Tod von 500000 irakischen Kindern durch US-Sanktionen rechtfertigte. Man stelle sich das Geschrei der Grünen vor, wenn der russische Aussenminister Lawrow den Tod von 500 000 ukrainischen Kindern, mit welcher Begründung auch immer, rechtfertigen würde.

In dieser verfahrenen Situation ist es zu wenig, wenn Olaf Scholz Waffenlieferungen verzögert. Steigende Waffenlieferungen sind das Mantra der Biden-Regierung, die Russland um jeden Preis schwächen will, ohne Rücksicht auf die Toten, die bei fortdauernden Waffenlieferungen zu beklagen sein werden. Glaubt denn jemand ernsthaft, die Atommacht Russland könne es sich in der weltpolitischen Lage leisten, den Ukraine-Krieg zu verlieren? Die fanatischen Waffenlieferer im Bundestag werden, ob sie es begreifen oder nicht, mitverantwortlich sein für die täglich steigende Zahl der Toten.Wie lange soll der Krieg denn dauern? So lange wie der Krieg in Afghanistan? Warum lernt die deutsche Politik nicht aus den Fehlschlägen der USgeführten Interventionskriege, an denen sich die Bundeswehr beteiligt hat?

Es gäbe eine, wenn auch geringe, Chance, wenn der wiedergewählte französische Präsident Emmanuel Macron mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz wie einst François Hollande und Angela Merkel den USKriegstreibern in den Arm fallen und eine Verhandlungslösung auf der Basis der schon von Wolodymyr Selenskyj befürworteten Vorschläge – Neutralität der Ukraine und Autonomie für den Donbass – anstreben würde. Der ukrainische Präsident wird dabei kein verlässlicher Partner sein, weil er immer wieder von den USA und den Rechtsextremen in der Ukraine unter Druck gesetzt wird.

Die Rivalität der Weltmächte USA, Russland und China zwingt Europa dazu, alles zu versuchen, um nicht in eine nukleare Auseinandersetzung dieser Grossmächte hineingezogen zu werden. Charles de Gaulle hatte diese Gefahr für Frankreich erkannt und daher eine Integration der französischen Streitkräfte in die US-geführte Nato abgelehnt, weil er sich nicht auf die Bereitschaft der USA verlassen wollte, im Falle einer Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ihre Atomstreitkräfte auch dann einzusetzen, wenn Moskau mit einem Gegenschlag auf die grossen Städte der USA drohte. Daher bestand er darauf, dass Frankreich eine eigene Atomstreitmacht aufbaute. «Staaten haben keine Freunde, nur Interessen», war seine Maxime, und wenn es um Leben und Tod, also um Krieg, gehe, so seine Überzeugung, könne man die Entscheidung nicht anderen überlassen.

Warum lernt die deutsche Politik nicht aus den Fehlschlägen der US-geführten Interventionskriege.

Stabiler Frieden dank Entspannung

Ähnlich wie de Gaulle wusste auch Bundeskanzler Willy Brandt, dass er seine Politik des Friedens und der Entspannung nur gegen Widerstände Washingtons durchsetzen würde. Überzeugt davon, dass nur so der Frieden in Europa gesichert werden könne, setzte er seine Ostpolitik Schritt für Schritt um. Die USA waren sehr verärgert, wie ein Telefonat Henry Kissingers mit Richard Nixon bewies, in dem Kissinger unverhohlen Willy Brandt den Krebs an den Hals wünschte.

Zurzeit wird in Deutschland eine abenteuerliche Diskussion geführt. Die Entspannungs-politik, der Versuch einer guten Zusammenarbeit mit Russland, sei die Ursache für die jetzige Entwicklung. Selten wurde die Wahrheit so auf den Kopf gestellt. Noch nie wurde so deutlich, in welchem Ausmass die US-Propaganda die Medien und die politische Debatte in Deutschland bestimmt. Die Wahrheit ist eine andere. Mitte der sechziger Jahre begann die Entspannungspolitik, sie führte zu einem stabilen Frieden in Europa und bewirkte den Fall der Mauer und den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland und Osteuropa. In den neunziger Jahren begann die Politik der Konfrontation mit der Nato-Osterweiterung und der zunehmenden Einkreisung Russlands. Sie führte zum völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg und zum ebenfalls völkerrechtswidrigen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine.

Wenn es nicht bald gelingt, einen Verhandlungsfrieden zu erreichen, steigt die Gefahr eines Nuklearkriegs, weil die Verantwortlichen in Moskau mit dem Rücken zur Wand stehen und die Hasardeure in Washington seit Jahren glauben, man könne einen Nuklearkrieg auf Europa begrenzen.


Oskar Lafontaine war Vorsitzender der SPD und Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland.


Illustration: Weltwoche; Bilder: Buch&Bee/Adobe Stock, Nickolay