Amerikas Statthalter von Adenauer bis Merkel

erschienen am 01.05.2023 in DEUTSCHE WIRTSCHAFTSNACHRICHTEN

Seit Langem ist Deutschland ein treuer Verbündeter der USA. Wie kommt es, dass sich gerade Deutschland so artig unterordnet? Und welcher Kanzler hat Amerikas Interessen am besten bedient? Ein Gespräch mit dem Publizisten Dr. Werner Rügemer.

US-Präsident Barack Obama verleiht Angela Merkel die Presidential Medal of Freedom. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Jüngst hat der französische Präsident Emmanuel Macron für die EU eine „strategische Autonomie“ verlangt, mit Blick auf die steigenden Spannungen zwischen den USA und China. Die Entrüstung in den deutschen Medien war groß. Spiegel online titelte, Baerbock müsse bei ihrem China-Besuch „die Scherben zusammenkehren“. Wie kommt es, dass Deutschland ein so treuer Vasall der USA bleiben will, während es in Frankreich – zumindest verbal – Absetzbewegungen gibt?

Werner Rügemer:
Frankreich hat geopolitisch, im imperialen Sinne, im Unterschied zu Deutschland, einige Merkmale von Souveränität: Eine eigene Atombombe, 18 Übersee-Territorien im Atlantik, im Indischen Ozean, im Pazifik und in der Antarktis sowie enge wirtschaftliche und Währungsbeziehungen zu ehemaligen Kolonien in Afrika.

Frankreich gehört zu den Siegermächten des 2. Weltkriegs und zu den fünf ständigen Mitgliedern des US-Sicherheitsrats. All diese Merkmale hat Deutschland nicht. Und Deutschland ist der militärisch, geheimdienstlich und wirtschaftlich am intensivsten von den USA durchdrungene Staat in Europa.

Freilich: Angesichts der von den USA geführten NATO, des riesigen US-Militärapparats, der führenden US-Rüstungsindustrie, des US-Nuklearpotentials, der globalen Militärpräsenz der USA mit 850 Militärstützpunkten – da sind die Souveränitätsmerkmale Frankreichs eher Nostalgie. Zudem: Auch im Frankreich Macrons dominieren US-Investoren die meisten wichtigen Unternehmen und Banken, ähnlich wie in Deutschland.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Auch historisch gesehen standen erst die BRD und dann das wiedervereinigte Deutschland nach dem 2. Weltkrieg immer unverbrüchlich an der Seite der USA. Hätte es dazu eine Alternative gegeben, etwa in Form eines – wie Österreich – neutralen Deutschlands, das nicht geteilt worden wäre?

Werner Rügemer:
Die Bundesrepublik Deutschland stand nie „an der Seite der USA“, sondern wurde auf Druck der USA 1949 überhaupt erst als Separatstaat ganz neu gegründet und ist den USA bis heute untergeordnet.

Natürlich hätte es die genannte Alternative gegeben. Es gab – als Konsequenz aus der Hitler-Herrschaft und dem tödlichen Weltkrieg – eine breite Bewegung für ein neutrales, demokratisches Gesamtdeutschland, in Deutschland selbst, und das wurde auch von der Siegermacht Sowjetunion unterstützt.

Die USA hatten aber schon nach dem 1. Weltkrieg mit der Unterstützung Mussolinis (Italien), dann Francos (Spanien), Salazars (Portugal), Metaxas‘ (Griechenlands) und Pilsudskis (Polen) in Europa antidemokratisch Fuß gefasst, gleichzeitig auch mit Investitionen und Niederlassungen insbesondere in den reicheren Staaten Westeuropas wie Deutschland, Frankreich, England, Belgien.

Schon 1938 entwickelten das State Department und der Council on Foreign Relations zusammen mit Konzernen wie Ford, General Motors, ITT, IBM, Standard Oil, General Electric, Coca Cola, Dow Chemical und Banken wie J.P. Morgan, Dillon Read, Harriman das Konzept: Wir müssen unsere gewachsene wirtschaftliche Präsenz in Europa auch militärisch absichern.

Dafür war dann nach dem 2. Weltkrieg die kapitalistische Bundesrepublik ideal: Sie liegt in der Mitte (West)Europas und am nächsten zum sowjetischen Einflussbereich. Sie ist der wirtschaftlich stärkste Staat. Vor allem: Seine militärische, wirtschaftliche, staatliche und mediale Elite ist besiegt worden – sie freut sich, wenn sie mehrheitlich ungestraft davonkommt und weitermachen darf, selbst in untergeordneter Stellung.

Und gerade weil 99 Prozent insbesondere der deutschen Kapitalisten und Banker und ihres Führungspersonals nicht bestraft, nicht enteignet wurden und auch weil arisiertes Unternehmenseigentum nicht zurückgegeben werden musste – dieses größte antirussische, antikommunistische Potential Europas war für die Siegermacht USA eine Art Gottesgeschenk: Mit ihm konnte weiter gegen den Systemfeind Sowjetunion vorgerückt werden.

Dieses Potential wurde nach 1945 unter den westlichen Militärregierungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs in Westdeutschland zusammengezogen. So wurde auf diesem Gebiet erstmal der antirussische und antikommunistische Frontstaat BRD gegründet, als vorgeschobene neue US-Bastion.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Viele betonen, dass dank des Marshall-Plans zumindest der westliche Teil Deutschlands wirtschaftlich wieder auf die Beine kam und der amerikanische Einfluss, zumal nach den Nürnberger Prozessen, eine Demokratisierung des Landes ermöglichte. Teilen Sie diese Einschätzung?

Werner Rügemer:
Nur zum sehr kleinen Teil. Der Marshall-Plan war ja der Zwilling der NATO. George Marshall war im Krieg der oberste Militär (Chief of Staff), danach gab er als Wirtschaftsminister dem Marshall-Plan den Namen, danach war er US-Verteidigungsminister und leitete die Gründung der NATO.

Der Marshall-Plan war an Bedingungen gebunden: Es durften keine Kommunisten oder sonstige Antikapitalisten und Nationalbewusste in den Regierungen beteiligt sein. So bekam Griechenland erst Marshall-Plan-Gelder, als die USA in den Bürgerkrieg militärisch eingriffen und die erfolgreiche antifaschistische Befreiungsbewegung vernichtet hatten. Frankreich bekam erst Marshall-Plan-Gelder, als der konservative nationalbewusste Charles de Gaulle aus der Regierung entfernt war.

Der Marshall-Plan hatte als wichtigstes Ziel, die regulatorischen Verhältnisse in den Empfängerstaaten nach US-Vorgaben zu vereinheitlichen, um US-Investitionen zu fördern, den Markt für US-Produkte zu öffnen, die Währungen an den US-Dollar zu binden sowie der von den USA geführten Weltbank, verbunden mit dem Internationalen Währungsfonds, Zugang in Europa zu verschaffen.

Die „Hilfen“ des Marshall-Plans galten vor allem den US-Konzernen, auch als Kompensation für den 1945 beendeten, bisher größten Wirtschaftsboom durch den 2. Weltkrieg.

Die USA koordinierten die Gründung neuer, christlich genannter Parteien wie die CDU und in Italien die Democrazia Cristiana, die US-“freundlich“ waren. Nur in England durften Sozialdemokraten regieren, aber nicht lange.

Die USA leiteten also schon mit Beginn die direkt am kapitalistischen Privateigentum orientierte politische Rechtsentwicklung in Europa ein.

Auch die Nürnberger Prozesse trugen nicht zur Demokratisierung Deutschlands bei, auch nicht Europas. Nur das alleroberste politische und militärische Nazi-Personal wurde abgeurteilt. 98 Prozent des führenden Unternehmens-, Banken-, Medien-, Militär-, Geheimdienst-, Verwaltungs-, Justiz- und Wissenschafts-Personals wurden nicht einmal angeklagt. Von den unternehmerischen Mitgestaltern und Profiteuren des Nationalsozialismus wurden nur die zwei bekanntesten angeklagt: Flick und Krupp; sie wurden zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt und dann schon kurz nach Gründung der BRD vorzeitig aus dem Gefängnis geholt. Sie wurden nicht enteignet, auch durften sie alle Gewinne behalten – einschließlich der Gewinne aus Arisierungen und Zwangsarbeit. So war das Führungspersonal der BRD weitgehend dasselbe wie unter Hitler, wenn auch parlamentarisch organisiert.

Die zahlreichen NS-Kollaborateure und NS-Profiteure in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Schweden, Portugal, der Schweiz, Skandinaviens und auch aus den USA wurden nie angeklagt, auch leitmedial gar nicht benannt. Ex-Nazi-Aktivisten aus Osteuropa, etwa aus Kroatien, Polen, Ungarn, dem Baltikum und der Ukraine bekamen in den USA ein lukratives Exil, auch in eng mit den USA befreundeten Staaten wie Kanada und Australien, zum Teil auch in der BRD.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Welche Rolle spielte Konrad Adenauer in den Nachkriegsjahren? Wurde sein Aufstieg von den USA unterstützt? Inwieweit kam seine Politik dann den Interessen der USA entgegen?

Werner Rügemer:
Adenauer hatte schon während der Weimarer Republik Beziehungen in die USA entwickelt. Als Kölner Oberbürgermeister beteiligte er sich intensiv am Dawes-Plan, den die USA 1924 als Kreditprogramm für das Deutsche Reich eingerichtet hatten.

Die Kredite – in Form von Staatsanleihen, die Wall Street-Banken an US-Anleger verkauften – gingen auch an Kommunen: Da griff Adenauer für seine Renommierprojekte besonders intensiv zu. Es wurde wohl kaum etwas zurückgezahlt – die Akten werden von der Stadtverwaltung Köln übrigens bis heute geheim gehalten.

Unter anderen hatte der US-Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) mit seiner Europa-Zentrale in der Schweiz die handelnden Personen in Deutschland und in den besetzten wie neutralen Staaten möglichst genau registriert, von links bis rechts. Es ging auch darum, möglichst frühzeitig das für die Nachkriegszeit jeweils geeignete Personal ausfindig zu machen.

Das OSS unter Allen Dulles hatte in Deutschland auch Kontakte zu allen wichtigen Widerstandsgruppen, ebenfalls von ganz links bis ganz rechts. Und da wusste der OSS: Adenauer hatte alle Anfragen, sich am Widerstand gegen Hitler zu beteiligen, abgelehnt, von christlichen Gewerkschaftern, konservativen Politikern und Offizieren genauso wie von Kommunisten und Sozialdemokraten.

Deshalb war Adenauer, der sich nach 1945 als „Verfolgter des NS-Regimes“ inszenierte, der ideale Politiker für die US-Strategen: er hatte Beziehungen zu US-Banken gehabt, hatte für die Kölner Filiale von Ford 1930 besonders günstige Bedingungen geschaffen, war auch während des Nationalsozialismus im engen Kontakt geblieben mit einem führenden Manager von General Electric.

Und Adenauer war nicht Mitglied der NSDAP gewesen, hatte aber erstens vom NS-Staat bis 1945 eine hohe Pension bekommen und hatte zweitens während des Nationalsozialismus zu großen deutschen Unternehmen seine engen Beziehungen fortgeführt, die er während der Weimarer Republik entwickelt hatte, als Mitglied in einem Dutzend Aufsichtsräten, etwa der Deutschen Bank, der Lufthansa, der RWE. Adenauer war der transatlantisch ideale Politikdarsteller für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des US-geführten Kapitalismus.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Um ihre Macht in Westeuropa zu zementieren, unterstützten die USA zunächst konservativ-christliche Parteien in verschiedenen Ländern. Der französische Präsident Charles de Gaulle war ihnen suspekt – warum?

Werner Rügemer:
OSS-Chef Allen Dulles, der später auch Chef des Nachfolgedienstes CIA war, koordinierte ab 1947 auch mithilfe der vorher gesammelten personellen Kenntnisse die in Westeuropa neu gegründeten „christlichen“ Parteien.

Adenauer als US-Wunschkandidat für den Vorsitz der CDU bekam von den westlichen Militärregierungen bevorzugt Fahrzeuge und Visa gestellt. Damit konnte er zwischen der britischen, US-amerikanischen und französischen Besatzungszone zu Parteiversammlungen hin- und her fahren, schneller als mögliche Konkurrenten.

General de Gaulle hatte vom Londoner Exil aus mit seiner Bewegung Freies Frankreich (France Libre) als einziger führender Militär Widerstand gegen die deutsche Besetzung Frankreichs geleistet, auch gegen die von Hitler eingesetzte französische Kollaborationsregierung in Vichy unter Marshall Pétain. Dabei hatte de Gaulle auch mit der linken Résistance zusammengearbeitet.

Wegen seines guten Rufes in der französischen Bevölkerung ließen ihn die US-Streitkräfte beim Einmarsch 1944 in Paris auf den Champs Elysées mitmarschieren. Aber seiner provisorischen Regierung mit Einschluss von wenigen Kommunisten versagten die USA die Anerkennung – erst als er aus dem Amt gedrängt war, wurde eine US-hörige Regierung gebildet, mit maßgeblicher Beteiligung des US-Bankers französischer Herkunft, Jean Monnet – der in Fortsetzung seiner Mission dann zum „Vater Europas“ d.h. der Europäischen Union aufrücken sollte und als solcher bis heute geehrt wird. Souveräne Staaten in (zunächst West-)Europa – das verhinderten die USA mit allen Mitteln.

Als de Gaulle später in einer Krise doch Staatspräsident wurde und die französische Nation zur Souveränität führen wollte und übernational ein „Europa der Vaterländer“ propagierte, wurde er von den USA bekämpft, auch geheimdienstlich, und schließlich vertrieben.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
1989 fiel die Berliner Mauer, ein Jahr später kam es dann zur Wiedervereinigung. Kanzler war seinerzeit Helmut Kohl. Inwieweit bediente auch er US-amerikanische Interessen? Und warum wurde gerade er im Zuge der CDU-Spendenaffäre Ziel einer „brutalst möglichen Aufklärung“?

Werner Rügemer:
Kohl hatte das „Verdienst“, die Sozialdemokraten mit ihren Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt abzulösen. Die SPD war nicht US-kritisch, auch der „Entspannungskanzler“ Brandt hatte nie die NATO, die zahlreichen US-Militärstützpunkte und die nur von den US-Militärs kontrollierten US-Atombomben in Deutschland infrage gestellt. Brandt hatte sich nie gegen US-Kriege gestellt, hatte den US-Krieg gegen Vietnam unterstützt.

Schmidt war mit seiner Zustimmung zu den in Deutschland aufzustellenden US-Mittelstrecken den USA noch viel weiter entgegengekommen. Aber die SPD als Gesamtpartei galt insgesamt nicht 100prozentig als so zuverlässig wie CDU, CSU und FDP.

Die Kohl-CDU und die von ihm geführte bundesdeutsche Regierung ließ, im Unterschied zu SPD, intern etwa durch einzelne Gliederungen, keinerlei Kritik an den Essentials aufkommen, weder an den USA noch am Kapitalismus allgemein.

Die von der SPD geförderte Mitbestimmung, die Stärkung der Betriebsräte, die Nähe zu den Gewerkschaften – auch das ging den damals verstärkt eindringenden US-Konzernen wie UPS, McDonald’s und Microsoft und der American Chamber of Commerce in Germany (AmCham) mit ihren 2000 Mitgliedern viel zu weit.

Kohl sicherte im US-Interesse die deutsche Wiedervereinigung ab. In der Treuhand-Anstalt waren die US-Berater wie McKinsey, Price Waterhouse Coopers und J.P. Morgan führend beim Ausverkauf und der De-Industrialisierung der Ex-DDR.

Aber wie es der führende Präsidenten-Berater in den USA, Zbigniew Brzezinski 1997 öffentlich bekannt gab: Die von Kanzler Kohl als Vorsitzendem und von Wolfgang Schäuble als Fraktionsvorsitzendem im Bundestag geführte CDU repräsentiert ein Deutschland als „geostrategisches Niemandsland“: Es versteht sich als neutrale europäische Mittelmacht zwischen West und Ost.

Das aber entspricht nicht dem geostrategischen Interesse der USA: Die „einzige Weltmacht“ braucht, so Brzezinski, für die dauerhafte Absicherung dieser ihrer Stellung die Herrschaft über „ganz Eurasien“, und zwar „von Lissabon bis Wladiwostok“.

Die USA hatten sich seit Adenauer nie daran gestört, dass die CDU von den führenden Privatunternehmen dauerfinanziert wurde, legal wie illegal, über Briefkastenfirmen in Liechtenstein und der Schweiz oder mit Bargeld im Koffer wie bei den CDU-Schatzmeistern Walter Leisler Kiep und Schäuble.

Kohl war der Repräsentant der alten, traditionellen deutschen Kapitalistenklasse. Die war von den USA gestützt worden. Sie hatte das wichtige Eigentum in der Ex-DDR bekommen. Aber für die neue Welle der US-Expansion in Europa hatte sie ausgedient.

Zum Abschuss Kohls war dann die Affäre mit den von ihm verbissen geheim gehaltenen Millionenspendern plötzlich ein „Skandal“. Ihm wurde mit der „brutalst möglichen Aufkärung“ zu Leibe gerückt, auch mithilfe der medialen US-Hauptlobby, der FAZ: Sie schaffte Platz für die Kritik aus der Hand von „Kohls Mädchen“ Angela Merkel. Die junge aufstrebende Politikerin aus der Ex-DDR war besonders geeignet und willig, weil sie ihre Jugendsünde als FDJ-Sekretärin abbüßen wollte und musste.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Angela Merkel, „Kohls Mädchen“, trat dann aus dem Schatten ihres politischen Ziehvaters und wurde zur „ewigen Kanzlerin“. Zuvor hatte Gerhard Schröder das Amt des Kanzlers ausführen dürfen. Welches sind die Verdienste Schröders aus US-amerikanischer Sicht und warum musste er schließlich gehen? Und was hat Angela Merkel getan, um die US-Interessen voranzutreiben?

Werner Rügemer:
Schröder hatte an den bewunderten Vorbildern William Clinton in den USA und Anthony Blair in Großbritannien gelernt, wie auch Sozialdemokraten die Modernisierung des Kapitalismus erfolgreich vorantreiben können.

Zu seiner „Agenda 2010“ gehörten deshalb zwei verbundene Teile: Erstens die „Entflechtung der Deutschland AG“, also die Einladung vor allem an US-Investoren, Unternehmen in Deutschland günstig einzukaufen und lukrativ zu verwerten – beim Ausverkauf der Ex-DDR waren ja vor allem westdeutsche Banken und Unternehmen zum Zuge gekommen, zwar die US-Berater, aber noch keine US-Investoren.

Schröder öffnete den US-Investoren nun auch Westdeutschland. Und als zweiten Teil der Einladung an die US-Investoren schufen Schröders vier Hartz-Gesetze den „größten Niedriglohnsektor Europas“.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Aber was war nun die besondere Rolle der Dauerkanzlerin Merkel?

Werner Rügemer:
Der US-dienliche Bundeskanzler Schröder hatte zwei Fehler gemacht: Er beteiligte Deutschland nicht direkt am US-Krieg unter Präsident George W. Bush gegen den Irak. Dass er die US-Militärs über ihre deutschen Stützpunkte aufmarschieren ließ, das machte seine Abweichung nicht wett. Für die USA sind auch Millimeter-Abweichungen strafbar.

Zweitens ließ sich Schröder mit dem Präsidenten der Russischen Föderation ein. Der hieß Putin. Und der beendete den US-geführten Ausverkauf Russlands, den sein Vorgänger Boris Jelzin mithilfe der US-Regierung von William Clinton und mithilfe von US-Beratern wie Geoffrey Sachs korruptiv gedeckt hatte.

Dagegen unterstützte die neue CDU-Vorsitzende Merkel begeistert den US-Präsidenten George W. Bush, seinen Krieg gegen den Irak und gegen den „internationalen Terrorismus“. Merkel ließ das US-Militär die neue Kommandozentrale für Afrika AFRICOM in Deutschland einrichten – kein afrikanischer und auch kein anderer NATO-Staat hatte AFRICOM haben wollen.

Bush-Nachfolger Barack Obama verlieh Merkel daher den höchsten Verdienstorden für Ausländer, die Presidential Medal of Freedom – für Merkels Beitrag zum „nationalen Interesse der USA“.

Dann unterstützte Merkel Obamas Aufforderung an die europäischen NATO-Mitglieder, weiter aufzurüsten und auch die Ukraine, auch schon vor jeder Mitgliedschaft in NATO und EU, in gemeinsame Militärmanöver, in Handelsbeziehungen, westliche Subventionen und Investitionen einzubeziehen.

Dazu führte Merkel seit 2009 zusammen mit Brüssel die „Östliche Partnerschaft“ mit sechs ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter Georgien und die Ukraine. Schließlich deckte sie mithilfe des zum Scheitern geplanten Minsker Abkommens von 2015 die Aufrüstung der Ukraine durch die USA und Großbritannien.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Inzwischen befindet sich Deutschland in einer Phase massiver De-Industrialisierung und – nach den Worten von Außenministerin Baerbock – „im Krieg mit Russland“. Liegt auch dies im – auch geopolitischen – Interesse der USA? Sehen Sie hier einen Zusammenhang mit der Sprengung der Nordstream-Pipeline?

Werner Rügemer:
Die De-Industrialisierung Deutschlands ist bereits seit 30 Jahren im Gange. Sie begann mit den US-Beratern in der schon erwähnten Treuhand-Anstalt. Die De-Industrialisierung betraf damit zuerst Ost-Deutschland. Danach griff mit Schröders „Agenda 2010“ die De-Industrialisierung auf West-Deutschland über – zunächst fielen mehrere Dutzend US-Private Equity-Investoren über tausende der lukrativen deutschen Mittelstandsfirmen her. Diese rabiaten Investoren erhielten schnell die Bezeichnung „Heuschrecken“. Sie haben seit der Jahrtausendwende bis heute etwa zehntausend gutgehende mittelständische deutsche Unternehmen aufgekauft und im durchschnittlichen Zeitraum von drei bis fünf Jahren „restrukturiert“, Löhne gestoppt, Teile verkauft oder nach Osteuropa, China und Indien ausgelagert, Firmen-Immobilien verkauft und teuer zurückgemietet, Betriebsräte rausgemobbt – und dann entweder an die nächste „Heuschrecke“ weiterverkauft oder in einigen Fällen an die Börse gebracht. Dabei wurden hunderttausende Arbeitsplätze und industrielle Potentiale abgebaut.

Unter der Dauerkanzlerin Merkel kam, verstärkt mit der Finanzkrise ab 2008, dann schließlich die erste Liga der US-Investoren, die viel größeren Kapitalorganisatoren wie BlackRock, Vanguard, State Street, Masschusetts Financial, Fidelity, Wellington und so weiter. In den DAX- und MDAX-Unternehmen wurden sie unter Merkel scheinbar unmerklich in jeweils etwas anderer Zusammensetzung die führenden Aktionärsgruppen, auch etwa im größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall und im größten Wohnungskonzern Vonovia.

Die allermeisten Deutschen haben davon noch nie gehört, und im Bundestag und in den Landtagen herrscht darüber Schweigen. Auch die Massenmedien machen mit, während die Kapital-Postillen wie FAZ, Handelsblatt, Süddeutsche und Welt sich um liebedienerische Interviews etwa mit dem BlackRock-Chef Laurence Fink balgen.

Wenn diese globalen Großinvestoren, die natürlich in Frankreich, Belgien, der Schweiz usw. ebenso verfahren wie in Deutschland, wegen der Energieverteuerung in einigen europäischen Konzernen und Branchen vor allem zukünftig weniger Gewinne machen werden, so machen sie in anderen Bereichen viel höhere Gewinne, und etwa auch als führende Aktionäre in der US-Fracking-, Rüstungs- und Ölindustrie.

Insofern haben sie wegen der Sprengung der Nordstream-Pipeline einige Nachteile, aber ungleich mehr Vorteile. Und sie gieren ja mithilfe der Ukraine auf „ganz Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:
Zurück zu Macron und seiner „strategischen Autonomie“. Glauben Sie, dass Frankreich, Deutschland und die übrigen Staaten der EU ohne eine solche wirtschaftlich und politisch überleben können?

Werner Rügemer:
Wie schon der wohl bekannteste und lange Zeit einflussreichste US-Globalstratege Henry Kissinger sagte: „Es kann gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein. Aber Amerikas Freund zu sein, ist verhängnisvoll.“

Die USA haben als „einzige Weltmacht“ den Anspruch, die Weltverhältnisse allein zu regeln. Dafür wechseln die USA bekanntlich die jeweiligen Freunde wie die Unterhosen. Je nach geostrategischer Situation ist ein Staat ein Freund, im nächsten Moment oder ein paar Jahre später ist er Feind oder auch Todfeind.

Das passierte bekanntlich der Sowjetunion – erst Verbündeter gegen die Nazis, dann Todfeind. Die Volksrepublik China mit Kissinger, Brzezinski und Nixon– erst Freund, dann mit Kissinger, Brezinski und Obama Todfeind.

So ging es etwa auch mit antikolonialen und anderen Befreiungsbewegungen auf allen Kontinenten: Von den USA für Stellvertreterkriege unterstützt, ausgerüstet, finanziert – und danach abserviert.

Solange die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem antirussischen Potential und seiner zentralen Lage die erste wichtigste, besonders geeignete Bastion gegen Russland war, wurde die BRD als Freund behandelt, Wohlstand wurde gefördert. Diese Rolle ist nicht ganz vorbei, aber nun fördern die USA besonders andere Staaten wie Polen: Das liegt näher an Russland, beherbergt großes antirussisches und Großmacht-Potential, wird mit neuen AKWs und US-Raketen aufgerüstet, lässt niedrige Tätigkeiten von Millionen armer Arbeitsmigranten aus der Ukraine verrichten (schon vor dem Krieg). So bauen die USA eine Ost-NATO auf, vom Baltikum über Polen bis Kroatien am Mittelmeer.

So schädigen die USA auch in Europa bisherige Freunde. Die waren aber ohnehin nur situationsbedingte „Freunde“. Die USA haben mit der EU zunächst die „europäische Einheit“ befördert. Abgesehen davon, dass unter dieser Decke die osteuropäischen Staaten volkswirtschaftlich und demokratisch verarmt wurden – jetzt treiben die USA Spaltungen der EU voran. Einige Freunde werden abgewertet, auch de-industrialisiert, noch abhängiger gemacht. Andere Freunde werden aufgewertet – ihre Führungseliten freuen sich, aber auch die Aufwertung ist nur situativ.

Und insgesamt: Die nach dem 2. Weltkrieg geltende US-Doktrin des atomaren Erstschlags gegen die Sowjetunion – auch vom BRD-Gründungskanzler und CDU-Vorsitzenden Adenauer mitgetragen – wurde unter dem freundlich lächelnden US-Präsidenten Barack Obama erneuert. Den Atomkrieg gegen Russland würden die USA in Europa ausfechten wollen.

Deshalb: Europa kann seine Souveränität im Sinne des Friedens, der Demokratie, der volkswirtschaftlichen Entwicklung, des Wohlstands, der industriellen wie technologischen Entwicklung, auch der Natur- und Ressourcenverträglichkeit nur sichern, wenn dies in Kooperation mit den Staaten, Regionen, Organisationen, Institutionen, Initiativen intensiviert wird, national wie global, die solche gleichberechtigten Kooperationen selbst auch wollen. Eine wachsende Mehrheit auf der kleinen Erde will das, die Potentiale sind noch gar nicht ausgeschöpft. Aber hier liegt die Zukunft der Menschheit.


Info zur Person: Der Publizist Dr. Werner Rügemer ist Autor unter anderem von „Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts“, „Imperium EU – Arbeitsunrecht, Krise, neue Gegenwehr“ und „Blackrock & Co enteignen“. Zur Zeit schreibt er eine Konrad-Adenauer-Biographie.