Deutscher Freidenker-Verband e.V.

Die Kirche des Guten

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 1-22, April 2022, S. 15-18, 81. Jahrgang

von Sebastian Bahlo

Gemäß dem vom Verbandsvorstand beschlossenen Plan widmet sich dieses Heft einem Schwerpunkt aus unserem Arbeitsgebiet Religionskritik. Mitten im Herstellungsprozeß trafen uns weltpolitische Ereignisse, die erstens „wichtiger“ und drängender erscheinen, das Denken, die Diskussionen und die Handlungsorientierung beherrschen, zweitens zu bestätigen scheinen, was in unserem Verband oft gesagt wurde: daß die Religion längst durch wirksamere Methoden der Steuerung des Massenbewußtseins im Interesse der Herrschenden abgelöst worden ist. Denn an der großen ideologischen Generalmobilmachung gegen Rußland, die gerade stattfindet, sind religiöse Institutionen zwar beteiligt, aber es kommt ihnen keine entscheidende Rolle zu. Und doch ist gerade dieser Anlaß günstig, um über die veränderte Rolle von Religion und Religionskritik nachzudenken.

Unsere Religionskritik hat drei Teilaufgaben:

  • Philosophische Auseinandersetzung mit der religiösen Weltanschauung,
  • humanistischer Kampf gegen religiöse Bevormundung des vernünftigen Denkens,
  • politischer Kampf gegen die gesellschaftliche Macht der religiösen Institutionen.
Sebastian Bahlo
(Foto: arbeiterfotografie.com)

Die Kämpfe auf diesen Feldern unterscheiden sich hinsichtlich der Gegner und der Kampfformen. Die philosophische Auseinandersetzung ist wissenschaftlicher Natur und im weiteren Sinne Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie überhaupt. Der Kampf gegen Bevormundung hat die Bevormundeten selbst zu ihrem Gegner, denn ihre Unmündigkeit ist mit Kants Wort eine „selbstverschuldete“. Dieser Kampf wird aber nicht auf feindselige Weise, sondern durch Aufklärung und Überzeugung geführt und darf sich niemals gegen die intimen religiösen Gefühle und Überzeugungen richten. Der politische Kampf hat schließlich die Vertreter der religiösen Institutionen selbst und ihre Verbündeten in Staat, Wirtschaft und Medien zum Feind.

Religionskritik ist kein Selbstzweck. Ihr Zweck wird durch die Gesamtheit der drei genannten Zwecke bestimmt. Doch abgesehen von den angeführten zu kritisierenden und zu bekämpfenden Mißständen kann die Religion auch je nach Umständen eine fortschrittliche, positive, humane Rolle spielen. In dieser Hinsicht ist besonders ihre Rolle als kollektivistische Ideologie hervorzuheben, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dient, Duldsamkeit und Opferbereitschaft des Einzelnen fördert.

Es hängt von den historischen Umständen ab, ob diese Funktionen, so leicht sie reaktionär gewendet werden können, einen fortschrittlichen Charakter annehmen. Hier sei nur beispielhaft erwähnt, daß im christlichen Mittelalter die Religion mit ihrem Passions- und Erlösungsmythos wesentlich geholfen haben muß, das entbehrungsvolle bäuerliche Leben zu ertragen, und so hatte sie auf die Erhaltung und Entwicklung der Produktivkräfte zur Bewirtschaftung der Fläche eine große Wirkung.

Bekannt ist auch als ein weiteres Beispiel der persönliche Heldenmut, zu dem religiöse Überzeugungen in vielen fortschrittlichen Kriegen und Widerstandskämpfen motiviert haben. Und in vielen religiös geprägten Kulturen läßt sich der positive Charakter auch noch in der heutigen Welt nachweisen. Wissenschaftliche Religionskritik hat auch die positiven Seiten der Religion gründlich zu betrachten. Allein schon, um die Erkenntnis zu fördern, wie ein vernunftbasiertes Gedankengut beschaffen sein muß, das die Religion vollständig ersetzen kann.

Einerseits zielt die Religionskritik nicht auf die Gesamtheit der religiösen Erscheinungen ab. Andererseits zielt sie auch nicht nur auf Religion im engeren Sinne ab. Wie aus der obigen Einteilung leicht ersichtlich wird, muß der antireligiöse Kampf seinen Zweck verfehlen, wenn er andere Erscheinungen, die zur Festigung einer idealistischen Weltanschauung, zur Unterordnung des freien Denkens unter unhinterfragbare Dogmen und zur Ausdehnung der Macht der dahinterstehenden Kräfte beitragen, außer acht läßt. Es sind aber gerade derartige Erscheinungen außerhalb der klassischen Religion, die jetzt in Deutschland dominieren.

Dogmen – kein religiöses Monopol

Eine ausgearbeitete zeitgemäße idealistische Philosophie, die außerhalb der Reste des Bildungsbürgertums auf Anklang stieße, gibt es zwar nicht. Doch ein Mythos zieht sich seit Jahren durch die herrschende Propaganda: Wir sind die Guten.

„Wir“ meint dabei die Unterstützer der deutschen Regierungspolitik. Wir sind das Reich des Guten. Im Ausland herrschen Despoten, Diktatoren, Schlächter, Autokraten, Populisten, bei uns aber herrschen „Freiheit“, „Demokratie“, „Pluralismus“, „Wissenschaft“.

Zu den inneren Feinden gehören jene, die „unsere Werte“ nicht teilen oder angeblich bekämpfen oder angebliche Wahrheiten „leugnen“. Natürlich ist es nicht neu, sondern so alt wie die Menschheit, daß die eigene Propaganda das eigene Handeln als moralisch gut darstellt. Doch eine neue Qualität liegt darin, daß das Gute ein von konkreten Problemen losgelöstes und sich selbst legitimierendes Heiligtum geworden ist, ein Kelch, der mit beliebigem Inhalt gefüllt von den Jüngern des Guten (manche nennen sie spöttisch „Gutmenschen“) vorangetragen wird. Der quasireligiöse Charakter dieser Ideologie ist nicht zu übersehen.

Die Kirche des Guten hatte ihr erstes Hochfest im Zusammenhang mit der Massenimmigration ab dem Jahr 2015. Unter völliger Abstraktion von allen ökonomischen, sozialpolitischen und geostrategischen Interessen und Plänen, als deren Werkzeug die Migranten zynisch mißbraucht wurden, galt die Parole „Refugees Welcome“ bald als Erkennungszeichen der Guten, Anständigen und Aufgeklärten, wer ihr nicht zustimmte, vertrat „Dunkeldeutschland“.

Von der Migration zum Klima

Gegen differenzierte Zwischenpositionen wurde Stimmung gemacht. Der Satzanfang: „Ich bin nicht gegen Flüchtlinge, aber…“ wurde hämisch als Erkennungszeichen des verkappten Nazis vorgeführt, denn ein „Wenn und Aber“, die Wörter, die der Einschränkung und Differenzierung dienen, kennen die Gralshüter des Guten nicht. Es wurde ein Klima geschaffen, in dem selbständiges Denken gefährlich ist, weil es zu „falschen“ Ergebnissen und zur Stigmatisierung seiner Urheber führen kann. Dies alles wohlgemerkt im Namen der Aufklärung!

Eine noch größere Perversion der Aufklärung bildeten die folgenden Etappen der Prozession: „Klima“ (ab 2019) und „Corona“ (ab 2020). Denn das Glaubensbekenntnis, das dem braven Mann jetzt abverlangt wurde, sollte nichts anderem als der Wissenschaft selbst gelten, zugespitzt in der Parole „Follow the Science“, die aus unschuldigen Kindermündern erschallte.

Hier wurde „die Wissenschaft“, oder besser: ein falscher Begriff von Wissenschaft mißbraucht, um gerade das, wogegen die Wissenschaft in ihrer revolutionären Periode an der Schwelle zur Neuzeit rebellierte, wieder einzusetzen: Unhinterfragbare Gewißheit, unfehlbare Institutionen. Durfte im Mittelalter der Gemeine nicht am Wort des Geistlichen zweifeln, weil nur der die Heilige Schrift lesen konnte, so hat heute der wissenschaftliche Laie kein Recht, die Ergebnisse der Wissenschaft zu hinterfragen.

Symbol für ein Verständnis
von Wissenschaft:
Fragezeichen aus Fragezeichen,
Grafik:Khaydock,
CC 3.0 nicht portiert

Immer diese Leugner

Ein angeblicher – wie auch immer ermittelter oder zustandegebrachter – „Konsens“ hat Gesetzescharakter. Zweifler und Kritiker heißen „Leugner“ – auch hier drängt sich die Erinnerung an die dunkelsten Kapitel des Mittelalters auf. Dabei müßte wirkliche Wissenschaft eine vorläufige Meinung, wie sie ein „Konsens“ notwendig ist, selbst so lange in Frage stellen, bis sie gesicherte Erkenntnisse gewonnen hat.

Im Zusammenhang mit den Themen Klimaschutz und Corona haben sich im ersten Fall auf der Seite derer, die eine „Dekarbonisierung“ der Wirtschaft fordern, im zweiten Fall auf der Seite derer, die strengste antiepidemische Maßnahmen und eine Covid-19-Impfpflicht fordern, unübersehbare kulthafte Züge in der Beschwörung der eigenen moralischen Überlegenheit und bei der Verteufelung Andersdenkender herausgebildet, wodurch wichtige politische und ökonomische Aspekte und Interessen verschleiert und tabuisiert werden. Überhaupt wird die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft völlig verleugnet. Im mündlichen Rechenschaftsbericht des Verbandsvorstands auf dem vergangenen Verbandstag haben wir formuliert:

„Wissenschaft ist von der Gesellschaft nicht isoliert. Wissenschaftler sind Menschen mit Interessen, Überzeugungen, Ängsten. Auch richtige wissenschaftliche Erkenntnisse können zur Rechtfertigung reaktionärer Entwicklungen mißbraucht werden. Falls es stimmt, daß industrielle Treibhausgasemissionen Haupttreiber des Klimawandels sind, gibt es eine Abwägung, ob der Verzicht auf solche Emissionen für arme Länder nicht schlimmere Folgen hat? Können Wissenschaftler den Ausnahmezustand erklären?“ Hinter all diesen Fragen steht das Problem verschleierter Interessengegensätze. „Die“ Wissenschaft liefert angeblich Erkenntnisse für „die“ Menschheit und diktiert der Politik damit alternativlos das Handeln. Die Meinungen des dummen Volkes sind da völlig irrelevant.

Über Corona in die Ukraine

Es ist nicht zuletzt ein großer Angriff auf die Demokratie, wenn eine Sicht propagiert wird, in der die politische Entscheidungsgewalt der Legitimierung durch die nichtgewählte „Wissenschaft“ bedarf, analog dem religiösen Wächterrat im Iran.

Nach dieser vorbereitenden Entwicklung ist es nun dahin gekommen, daß die Kirche des Guten im Wortsinn die deutschen Waffen für die Ukraine segnet. Es sind große, leere Worte, um derentwillen der Deutsche frieren, hungern und den drohenden Atomtod in Kauf nehmen soll.

Daß in dem korrupten Sumpf mit einem gelernten Komiker als Präsidenten, in die Armee eingegliederten Nazibataillonen und der alltäglichen Terrorisierung der russischsprachigen Bevölkerung „die Freiheit“ oder „europäische Werte“ verteidigt werden sollen – es ist zu hoffen, daß Menschen übrigbleiben, die darüber einmal werden lachen können.

Der irrationale Kult hat breite Massen erfaßt. Ein blaugelbes Fahnenmeer bekundet seine bedingungslose Solidarität mit einem Land, dessen Nationalisten schon in zwei vergangenen Weltkriegen von Deutschland gegen Rußland ausgenutzt wurden. Der neuen deutschen Religion fehlt auch nicht der Kreuzzugsgedanke.

Es fehlt ihr auch nicht die Inquisition. In der Medienbranche hat sich das neue Geschäftsfeld des professionellen Faktencheckens etabliert. Während gegen elementares Checken überprüfbarer Tatsachenbehauptungen nichts einzuwenden ist, führen die Berufsfaktenchecker oft einen ideologischen Feldzug gegen alles, was den Glaubenssätzen der Kirche des Guten widerspricht. Dabei gehen sie über elementares Faktenchecken hinaus und präsentieren selbst Meinungen als Fakten, „widerlegen“ Ansichten, die ihrer Natur nach gar keine elementaren Tatsachenbehauptungen darstellen, oder sie widerlegen die Meinung des Experten A mit der Meinung des Experten B.

Die Urteile der Faktenchecker werden von den Plattformen der Sozialen Medien vollstreckt, indem Beiträge mit Warnhinweisen versehen, gelöscht oder Nutzer gesperrt werden. Die Steigerung dieser Zensur liegt in dem, was Kritiker als „Cancel Culture“ bezeichnen. Mit gezielten Kampagnen werden Veranstalter dazu gedrängt, Redner oder Künstler auszuladen, die bei der Kirche des Guten in Ungnade gefallen sind, Vermieter werden gedrängt, Räume für geplante und beworbene Veranstaltungen zu kündigen.

Auch die Forderung, Denkmäler zu schleifen, weil die Geehrten vor mehr als hundert Jahren nicht alles so sahen wie man es heute sehen muß, Bücher umzuschreiben, weil ihre Wortwahl heute nicht mehr gern gesehen ist, entspringt dieser bornierten Ideologie, die den Geist der Bücherverbrennung atmet.

Papieretikett an Volksempfängern

Als wäre das alles nicht schlimm genug, sind seit Rußlands militärischem Eingreifen in der Ukraine weitere Dämme gebrochen: Ein Dirigent wird gefeuert, weil er Russe ist und sich nicht von Putin distanziert, (offenbar schlimmer, als daß Herbert von Karajan NSDAP-Mitglied war und auf Goebbels‘ „Gottbegnadeten-Liste“ stand); selbst die Musik seit langem toter russischer Komponisten wird vom Programm genommen.

Vorläufiger Höhepunkt des Wahns ist allerdings die Ausladung einer Sängerin durch die „FFF“-Bewegung, weil ihr Tragen einer Dreadlocks-Frisur für sie als Weiße einen Akt „kultureller Aneignung“ darstelle. Ja, im Deutschland des Jahres 2022 ist es Menschen mit bestimmten Hautfarben verboten, bestimmte Frisuren zu tragen...

Es sollte durch diese Schlaglichter deutlich geworden sein, daß die Ziele der Religionskritik im heutigen Deutschland noch nicht im mindesten erreicht sind, weshalb unser Verband dringend gebraucht wird, daß wir sie aber auch nicht erreichen können, wenn wir die Religionskritik nicht auf die akut gefährlichen zeitgemäßen quasireligiösen Erscheinungen anwenden, sondern nur auf die von selbst im Abstieg begriffenen klassischen Religionen.

Sebastian Bahlo ist Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes


Download

Sebastian Bahlo: Die Kirche des Guten (Auszug aus FREIDENKER 1-22, ca. 295 KB)

Video: Vortrag von Sebastian Bahlo bei "Berliner Freidenker im Gespräch"

Am 10. September 2022 fand in Berlin eine Veranstaltung zum Thema "Hauptfeind Religion? Oder eine neue „Kirche des Guten“?" statt, auf der Sebastian Bahlo referierte und sich dabei im Wesentlichen auf den hier veröffentlichten Aufsatz stützte.

Das Referat wurde von Bruno Jeup per Video mitgeschnitten.

 Den Vortrag als Video ansehen oder herunterladen (externe Seite, Dauer 53:57 min)).

Sebastian Bahlo am 10.09.2022
in Berlin, Foto: Bruno Jeup

Zur Beachtung: Das Video kann gestreamt oder heruntergeladen werden. Die Download-Datei ist 914 MB groß.

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