Gesundheitssystem

Ritter Karl und die Invasion der Heuschrecken

Von Hartmut Reiners | 01. März 2023 | Makroskop

Hintergrund: Sandro Halank, CC BY-SA 4.0/wikimedia.org

Private Equities und andere Kapitalfonds haben das Gesundheitswesen als profitables Anlagefeld entdeckt. Die Journalistin Christina Berndt promoviert Karl Lauterbach zum Retter der Arztpraxen vor dieser Heuschreckenplage. Aber von ihm haben die Investoren nichts zu befürchten.

Karl Lauterbach hat nicht nur bei Twitter, sondern auch in den sich als seriös verstehenden Medien Fans, die in ihm einen sich bis in die späte Nacht um die Probleme des Gesundheitswesens kümmernden Politiker sehen. Dazu gehört Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung, die ihn am 17. Februar 2023 als „Arzt Ihres Vertrauens“ und Kämpfer gegen die Invasion von profitgierigen Investoren im Gesundheitswesen präsentierte und dabei die Grenzen zur Hofberichterstattung schrammte. Weil es „an allen Enden und Ecken brennt im ausgemergelten deutschen Gesundheitssystem“, habe Lauterbach nicht einmal Zeit für die Einrichtung seines neuen Büros und überlasse sie seinem Stab. Ganz so, als würden Ministerinnen und Minister sonst ihre Büroausstattung höchstpersönlich einkaufen und in ihren Amtszimmern platzieren.

Das Gesundheitswesen als Kapitalanlage

Das nicht nur von Christina Berndt gefürchtete Interesse von Kapitalfonds am Gesundheitswesen ist keineswegs neu. Seit Jahren berichten TV-Magazine, Wirtschaftsredaktionen und gesundheitspolitische Fachmedien über Anlagestrategien von Investoren, die sich in Arztpraxen, Krankenhäuser und vor allem Medizinische Versorgungszentren (MVZ) einkaufen. Das geschieht entweder als dauerhafte Kapitalanlage oder als Buy and Build-Modell von Private Equities, die Arztpraxen erwerben, zu ertragreichen MVZ ausbauen und dann nach ein paar Jahren mit hohem Gewinn verkaufen.

 

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Darüber kann sich nur wundern, wer nicht mitbekommen hat, dass sich das Gesundheitswesen zur größten Dienstleistungsbranche entwickelt hat. An seinem 440 Milliarden Euro (2020) umfassenden Umsatz wollen anlagesuchende Kapitalfonds teilhaben, für die es sich mit seinem stabilen Wachstum von jährlich vier bis fünf Prozent geradezu aufdrängt. Es ist klar, dass die Investoren sich nicht für eine verbesserte medizinische Versorgung interessieren, sondern für hohe Renditen. Die können wegen der weitgehend administrativ gesteuerten Vergütungen und Preise im Gesundheitswesen nur in ausgewählten Sektoren erzielt werden. Für diese Rosinenpickerei bieten die Strukturen unseres Gesundheitswesens komfortable Möglichkeiten, wie noch gezeigt wird.

Die Invasion dieser finanzkapitalistischen Heuschrecken sei, so Christina Berndt, für die Solidargemeinschaft „eine echte Bedrohung“, für die sich die Politik bislang nicht interessiert habe. Aber jetzt wolle Karl Lauterbach dieses unsoziale Profitstreben als erster Politiker nicht nur beklagen, sondern auch entschlossen bekämpfen. Sie zitiert ihn so:

„MVZ in der Hand von Investoren, das werden wir unterbinden. Wenn alles nach Plan läuft, wird es schon bald vorbei sein mit den Praxen als Goldgruben.“

Na, da werden die Hedgefonds und Private Equities aber zittern ‒ vor Lachen. Denn sie wissen, dass sie von Karl Lauterbach nichts zu befürchten haben. Weder hat er einen Plan für die Bekämpfung der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, noch kann er dafür mit ausreichender Unterstützung in der Ampel-Koalition und im Bundesrat rechnen. Karl Lauterbach präsentiert sich mal wieder als ein in seiner eigenen Welt lebender politischer Irrläufer.

Wie kam es zu den MVZ?

Private Investoren haben schon immer im Gesundheitswesen viel Geld verdient, nicht nur im profitablen medizinisch-industriellen Komplex (Arzneimittel, Medizingeräte). Schon in den 1970er und 1980er Jahren wurden dubiose „Bäderkönige“ wie der Strauß-Spezl Josef Zwick dank politischer Beihilfe und lukrativer Verträge mit den Renten- und Krankenversicherungsträgern als Betreiber von Reha-Kliniken zu Millionären. In den 1990er und 2000er Jahren investierten einige dieser Klinikketten in Akut-Krankenhäuser. Die Rhön-Klinikum AG, wo Karl Lauterbach von 2001 bis 2013 im Aufischtsrat saß, kaufte in dieser Zeit sogar die Universitätsklinik Gießen-Marburg.

Die ambulanten Arztpraxen wurden für Investoren erst ab 2004 mit der Zulassung von Medizinischen Versorgungszentren zur vertragsärztlichen Versorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) interessant. Bis dahin gab es dort, bis auf wenige Ausnahmen, keine interdisziplinären Versorgungseinrichtungen mit angestellten Ärztinnen und Ärzten, sondern nur von ihren Eigentümern geführte Einzel- oder Gruppenpraxen.

Das war aus medizinischen und ökonomischen Gründen ein Anachronismus. Die moderne Medizin erfordert die fallorientierte Kooperation von ärztlichen Fachrichtungen und nichtärztlichen Gesundheitsberufen. Auch sind Einzelpraxen von niedergelassenen Ärzten vor allem in der Fachmedizin wegen der hohen Fixkosten kaum noch wirtschaftlich zu betreiben.

Deshalb sind die Medizinischen Versorgungszentren ein gesundheitspolitischer Fortschritt. Mit dem 2003 von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gemeinsam mit den Ländern und damit auch der CDU/CSU erarbeiteten GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) erhielten sie ab 2004 die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung. Christina Berndts Behauptung, diese Idee habe Karl Lauterbach gemeinsam mit Ulla Schmidt „vorangetrieben“, ist pure Ereignisschöpfung. Er hat erst ab 2005 als Bundestagsabgeordneter der SPD in der Gesundheitspolitik mitgespielt und hatte mit der Einführung der Medizinischen Versorgungszentren nicht das Geringste zu tun. Karl Lauterbach war nie ein enger Berater von Ulla Schmidt. Vielleicht sollte Christina Berndt dazu mal bei ihr selbst nachfragen.

Die Medizinischen Versorgungszentren haben auch nicht, wie sie annimmt, die Polikliniken des DDR-Gesundheitswesens zum Vorbild. Das sind vielmehr die vom IGES-Institut im Auftrag von Regine Hildebrandt konzipierten Gesundheitszentren, zu denen in Brandenburg in den 1990er Jahren einige ehemalige Polikliniken umgebaut wurden. Unter einem Dach mit gemeinsamer Verwaltung arbeiten dort angestellte mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zusammen, unterstützt von anderen Gesundheitsberufen (Physiotherapie, Podologie usw.). Sie entwickelten sich von einem Auslaufmodell zur effektiven Alternative der niedergelassenen Arztpraxis, wie das Deutsche Ärzteblatt schon vor 20 Jahren feststellte. Der erste Gesetzentwurf des GMG enthielt noch die Bezeichnung Gesundheitszentrum, die dann auf Druck der CDU/CSU in Medizinisches Versorgungszentrum umbenannt wurde, um die Verbindung zum Modell von Regine Hildebrandt zu vernebeln.

Weshalb sind die MVZ attraktiv für Investoren?

Untersuchungen des IGES-Instituts (hier und hier) zeigen, dass sich die Investoren vor allem für Praxen in der Radiologie, Augenheilkunde, Kardiologie, Orthopädie und der Zahnmedizin interessieren. Die haben, wie die Daten des Statistischen Bundesamtes in der nachstehenden Tabelle zeigen, einen relativ niedrigen Anteil von Einnahmen mit Kassenpatientinnen und -patienten. Deren Behandlungen werden im Rahmen einer zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassenverbänden auf Landesebene jährlich vereinbarten Gesamtvergütung honoriert, die wenig Spielraum für die Bedienung von Kapitalinteressen bietet.

485 1432 251 721 308 587 241 537 193 501 222 471 210 476 220 427 209 404 200 402 192 370 180 363 185 316 Radiologie Zahnmedizin Augenheilkunde Dermatologie Chirurgie Innere Medizin Orthopädie Urologie Gynäkologie Kinder- und Jugendmedizin Allgemeinmedizin Hals, Nasen, Ohren (HNO) Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie Durchschnittliche Umsätze und Reinerträge von Arztpraxen 2019 in 1000 Euro Reinertrag je Praxisinhaber Einnahmen Quelle:Destatis, Fachserie 2 Reihe 1.6.1(eigene Zusammenstellung)

Quelle:Destatis, Fachserie 2 Reihe 1.6.1(eigene Zusammenstellung) Allgemeinmedizin 87% Kinder- und Jugendmedizin 83% Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie 81% Innere Medizin 77% Hals, Nasen, Ohren (HNO) 69% Gynäkologie 67% Urologie 58% Augenheilkunde 57% Radiologie 56% Chirurgie 54% Zahnmedizin 52% Orthopädie 46% Dermatologie 44% GKV-Einnahmen

Die Destatis-Zahlen geben die innerhalb der Fachrichtungen vorhandenen Umsatz- und Ertragsunterschiede nicht wieder. Zu der Inneren Medizin gehören Kardiologie- und Gastroenterologie-Praxen, die oft doppelt so hohe Erträge wie Internisten ohne nähere Gebietsbezeichnung haben. Besonders ungleich verteilt sind die Umsätze und Überschüsse in der Augenheilkunde. Von den im Jahr 2019 von der Destatis-Kostenstrukturanalyse erfassten 2829 Augenarztpraxen hatten 641 einen Umsatz von mehr als 500.000 Euro, bei einem Reinertrag von durchschnittlich 51,9 % in der Umsatzgruppe zwischen 500.000 und 1 Million Euro und 42,3 % bei den Praxen mit über 1 Millionen Jahresumsatz. Diese Großverdiener sind operierende Praxen mit hohen Vergütungen, die deshalb auch im Fokus von Investoren stehen. Die wenig profitablen konservativen Augenarztpraxen interessieren sie nicht.

Profitable PKV-Vergütungen

Nach Berechnungen des PKV-Verbandes geben die privaten Krankenversicherungen für die gleichen ärztlichen Leistungen 50 Prozent mehr aus als die GKV. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:

  • Die PKV vergütet ärztliche Leistungen nach den Gebührenordnungen Ärzte bzw. Zahnärzte (GOÄ. GOZ). Die GOÄ kennt keine Budgetgrenzen wie das System des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) für Kassenarztpraxen. Dort vereinbaren die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) mit den Verbänden der Krankenkassen auf Landesebene Gesamtvergütungen, die nach einem von den KVen festgelegten Honorarverteilungsmaßstab (HVM) auf die Arztpraxen entsprechend der von ihnen erbrachten Leistungsmenge verteilt werden. So entsteht ein Honorardeckel, den es in der GOÄ nicht gibt.

  • Die GOÄ wurde seit 1982 nur unwesentlich verändert. Die seither entwickelten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der Medizin werden durch Zusammenlegung von Gebührenpositionen in der GOÄ vergütet. Diese Analogbewertungen ermöglichen kreative Abrechnungsmöglichkeiten und führen trotz konstanter Einzelvergütungen für die gleichen Leistungen zu deutlich höheren Einnahmen als mit Kassenpatienten und-patientinnen.

In der Zahnmedizin wurden im Zuge der Agenda 2010 der Schröder-Regierung die Leistungen für Zahnersatz ab 2004 aus dem Leistungskatalog der GKV gestrichen. Sie werden nach der Gebührenordnung Zahnärzte (GOZ) abgerechnet, die GKV zahlt nur einen Festzuschuss. Der große Rest kann durch eine private Zusatzversicherung abgedeckt werden. Dadurch haben die Krankenkassen kaum noch Möglichkeiten, die Ausgaben und Versorgungsqualität bei Zahnersatz zu beeinflussen. Die Zahnarztpraxen machen im Durchschnitt nur noch die Hälfte ihres Umsatzes mit der GKV, mit weiter abnehmender Tendenz. Daher kann es nicht wundern, dass sich Investoren für Zahnarztpraxen besonders interessieren. Das kann man nur ändern, indem der Zahnersatz wieder in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen wird.

Vor diesem Hintergrund sind die Klagen von Ärzteverbänden über die Heuschreckeninvasion pure Heuchelei. Die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten selbst durch eine entsprechende Änderung der Verteilung des von den Krankenkassen entrichteten Budgets auf die Arztpraxen die Rosinenpickerei der Investoren-MVZ erschweren. Dazu könnte vor allem die Bundesärztekammer durch entsprechende Konzepte zur GOÄ-Reform beitragen, die in der politischen Zuständigkeit von Karl Lauterbach liegt (in Abstimmung mit den Ländern). Beide müssten sich mit den von der geltenden GOÄ besonders profitierenden Arztgruppen anlegen. Das trauen sie sich nicht und kommen in der seit etlichen Jahren in einer Arbeitsgruppe unter Einschluss der PKV diskutierten Reform der GOÄ nicht zu Potte.

Außerdem gilt: Wer, wie die Ärzteverbände, für ein duales Krankenversicherungssystem von GKV und PKV eintritt, darf sich über Profitinteressen im Gesundheitswesen nicht beklagen.

Karl Lauterbach – Papiertiger und Opportunist

Die oben zitierte Ankündigung von Karl Lauterbach, mit den „Praxen als Goldgruben“ werde es schon bald vorbei sein, ist lächerlich. Sein eigenes Ministerium hat in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der CDU/CSU im Bundestag vor ein paar Wochen in einer Anlage festgestellt, dass sich 15 Jahre nach Einführung der MVZ „keine gravierenden systematische Fehlversorgung in investorenbetriebenen MVZ belegen (lassen).“ Die Bundesregierung habe außerdem keine Kompetenz „Regelungen zu treffen, mit denen Fremdinvestoren mit ausschließlichen Kapitalinteressen von der Gründung und dem Betrieb ärztlicher und zahnärztlicher MVZ ausgeschlossen werden.“[1]

Kennt Karl Lauterbach etwa diese offiziellen Äußerungen seines Hauses nicht? Auf jeden Fall scheinen sie ihn nicht zu interessieren. Sonst würde er nicht ankündigen, er werde die „MVZ in der Hand von Investoren unterbinden“.

Die einzig effektive Möglichkeit, investorenbetriebene MVZ unattraktiv zu machen, ist die Abschaffung der ökonomisch wie gesundheitspolitisch unsinnigen dualen Krankenversicherung von PKV und GKV und die Bildung einer Bürgerversicherung mit einem einheitlichen Vergütungssystem. Nur so kann man den zu Lasten der Versicherten gehenden Profitinteressen von Kapitalfonds das Wasser abgraben.

Für ein einheitliches Krankenversicherungssystem hat sich Karl Lauterbach vor Jahren mal eingesetzt, will aber davon heute offenbar nichts mehr wissen. Auf der Jahrestagung 2022 des PKV-Verbandes wanzte er sich der PKV regelrecht an: „Die PKV ist immer ein Teil in meinem gesundheitspolitischen Herzen gewesen.“ Sie sei „ein Bestandteil der Versorgung, auf den wir nicht verzichten können und wollen.“

Karl Lauterbach erzählt stets das, was die Leute in der jeweiligen Umgebung gerade hören wollen. Er ist kein Kämpfer für ein effektives und soziales Gesundheitswesen, sondern ein Blender, der heute so und morgen so redet. Mit seiner Twitterei kann er nur Leute beeindrucken, die von den komplexen Strukturen des Gesundheitswesens nichts verstehen und außerdem ein kurzes Gedächtnis haben.

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[1] BT-Drucksache 20/5166, S. 6f.

Hartmut Reiners ist Volkswirt, Gesundheitsökonom und freier Publizist. Er war viele Jahre in den Gesundheitsministerien der Länder tätig. Neben zahlreichen Aufsätzen hat er zwei Bücher zum Gesundheitswesen veröffentlicht.