Die vielen Ungereimtheiten bei der Pfizer-Zulassungsstudie

Veröffentlicht am 17.02.2023

Von Elke Bodderas
Verantwortliche Redakteurin

Die Genehmigung des mRNA-Impfstoffs von Biontech/Pfizer erfolgte möglicherweise aufgrund von falschen Unterlagen. An den Daten der entscheidenden Phase-3-Studie gibt es immer mehr Zweifel. Pfizer weicht den Vorwürfen aus und verweigert sich einer Nachprüfung.

Als der Patient mit der Nummer 12312982 an die Öffentlichkeit ging, ahnten die Manager beim US-Pharmakonzern Pfizer, dass es jetzt sehr ungemütlich werden könnte. Während der letzten Testphase für die Zulassung des mRNA-Impfstoffs war Nummer 12312982 im September 2020 mit schweren Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Patient zog die Reißleine, er stieg aus dem Testverfahren aus.

Nummer 12312982 heißt Augusto Roux. Er ist Anwalt, 36 Jahre alt, er lebt in Buenos Aires. Die Millionenmetropole war mit fast 6000 der weltweit 43.548 Probanden der mit Abstand wichtigste Standort für die dritte, entscheidende Testphase des Biontech/Pfizer-Impfstoffs. Doch in Buenos Aires liefen nicht nur im Fall Roux die Dinge nicht so, wie sie sollten. Es gab erhebliche, folgenschwere Unregelmäßigkeiten. Sie lassen jetzt die gesamte Studie zur Wirksamkeit und zu den Nebenwirkungen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs in einem anderen Licht erscheinen.

Der argentinische Anwalt Augusto Roux, 36
Quelle: Roux

Roux hatte die erste Test-Dosis mit dem mRNA-Impfstoff im August 2020 im Militärkrankenhaus erhalten, dem Pfizer-Studienzentrum in Buenos Aires. Roux’ Arm begann zu schmerzen, er schwoll an. Später kamen Übelkeit und Schluckbeschwerden hinzu, Roux fühlte sich verkatert. Sein Geruchssinn veränderte sich in den folgenden Tagen, sein Stuhlgang färbte sich weiß, sein Urin dunkel. Zwei Tage nach der Impfung meldete Roux sich bei seinen Test-Ärzten, diese vermerkten im Protokoll, das WELT vorliegt: „Unerwünschte Wirkung des Toxizitätsgrades 1“.

Drei Wochen später erhielt Testkandidat Roux die zweite Dosis. Er blieb 40 Minuten unter Beobachtung, dann verließ er mit gutem Gefühl das Krankenhaus. Im Taxi nach Hause fühlte er sich unwohl, später kamen Atemnot, brennende Brustschmerzen, Übelkeit und Fieber hinzu. Sein Urin färbte sich schwarz wie Cola, er wurde bewusstlos. Drei Tage danach lag Roux im Hospital Alemán, mehrere PCR-Tests auf Covid verliefen negativ. Oberärztin Gisela di Stilio notierte im Entlassungsbericht, der WELT vorliegt: „Unerwünschte Reaktion auf den Coronavirus-Impfstoff (hohe Wahrscheinlichkeit)“. Der Computertomograf hatte Bilder von Flüssigkeit in Roux’ Herz geliefert. Ein Perikarderguss.

In den nächsten Monaten verlor Roux 14 Kilo Gewicht, er hatte Leberprobleme, sein Herz schlug manchmal unregelmäßig. Seine Leber wurde untersucht, wegen des Verdachts einer toxischen Hepatitis. Wie sich später herausstellte, leidet er an einem Gendefekt, der ihn möglicherweise empfindlich gegenüber Impfungen macht. Die amerikanische Ärztin Gemma Torrell, die Roux‘ Krankendaten kennt und ihn im Frühjahr 2021 ausführlich befragte, vermerkte: Die Diagnose für die Symptome nach der zweiten Impfung laute mit hoher Wahrscheinlichkeit auf „Perikarditis“, Herzbeutelentzündung. Das alles passt genau zu einem Krankheitsbild, das auch das Paul-Ehrlich-Institut in der Liste der „seltenen Nebenwirkungen“ bei mRNA-Impfstoffen führt.

Roux‘ Fall nahm eine überraschende Wendung, als der Anwalt bei Fernando Polack, Studienchef in Buenos Aires und zugleich Erstautor der weltweiten Phase-3-Zulassungsstudie, Einsicht in seine Akte erzwang. Er fand dort ganz Erstaunliches. Seine Geschichte, so könnte man meinen, müsste so in den Unterlagen von Pfizers Zulassungsstudie auftauchen – doch dem ist nicht so. In den Papieren des Pharmakonzerns heißt es, Roux habe das Forschungsteam im Anschluss an die erste, als „Unerwünschte Wirkung des Toxizitätsgrades 1“ eingestufte Meldung darüber informiert, dass er mit einer beidseitigen Lungenentzündung im Krankenhaus liege. Das könne nichts mit dem Impfstoff zu tun haben, heißt es in der Akte weiter, es handele sich vermutlich um eine Covid-Infektion. Kein Wort davon, dass Roux in mehreren PCR-Tests negativ auf Corona getestet worden war.

Umdeutung zum Covid-Patienten

Roux erfuhr noch weitere Dinge über sich, die er selbst nicht wusste: Er habe am 23. September einen „schweren Angstanfall“ gehabt, hatte Studienleiter Polack am 8. Oktober 2020 vermerkt. Roux leide unter Angstzuständen (die aber nicht durch den Impfstoff verursacht seien).

Die Umdeutung Roux’ vom Impfstoff-Opfer zum Covid-Patienten und psychischen Problemfall wirft Fragen auf. In der Zulassungsstudie von Dezember 2020 bleibt seine Krankengeschichte unerwähnt, auch bei späteren Auswertungen taucht sein Fall nicht auf. In einer Zusammenfassung aller Studiendaten vom 11. August 2021 für die US-Zulassungsbehörde FDA ist nur ein Fall von Perikarditis unter den geimpften Probanden verzeichnet. Betroffen sei ein Mann, älter als 55, heißt es da. Augusto Roux bleibt unerwähnt. Wurde er als Covid-Fall und damit als Ungeimpfter registriert?

Fast zeitgleich mit dem Fall Roux muss es im Testzentrum Buenos Aires einen Zwischenfall gegeben haben. Auf einen Schlag hatte sich die Testleitung am 31. August 2020 von 53 Probanden verabschiedet. Die Testkandidaten waren „entblindet“ worden, das heißt, sie wurden über ihren Impfstatus aufgeklärt, ein Vorgang, den das Pfizer-Studienprotokoll ausdrücklich nur „in Notfällen“ vorsieht. Doch in der Zulassungsstudie findet sich nichts darüber. In Protokoll-Dokumenten, die WELT vorliegen, und die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, verstricken sich die Verantwortlichen in Widersprüche. „Für den Ausschluss der 53 Probanden finden sich in drei verschiedenen Dokumenten drei verschiedene Erklärungen“, klagt David Healy, Professor für Psychiatrie und Experte für Pharmakologie sowie Chef des Netzwerks „Data Based Medicine“ und der Geschädigten-Hilfe React-19 in den USA. „Ein Dokument vermerkt, dass alle Teilnehmer die Standarddosis zur richtigen Zeit erhalten haben, ein zweites besagt, dass es einen Fehler bei der Dosis für alle gab, und das dritte erwähnt Unregelmäßigkeiten für alle, sagt aber nicht, welche.“ Wurden die Teilnehmer etwa ausgeschlossen, weil sie ernste Nebenwirkungen gemeldet hatten?

Insgesamt wurden 302 Probanden der Impfstoffgruppe nach der zweiten Impfung aus der Studie getilgt und damit nicht in die Bewertung einbezogen. 200 davon kamen aus Buenos Aires. Sind hier unliebsame Ergebnisse unterdrückt worden? Dass in dem Militärkrankenhaus die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten, war offenbar auch der argentinischen Gesundheitsbehörde ANMAT aufgefallen: Gleich zweimal schauten ihre Inspekteure zur Kontrolle vorbei. Das hat es weltweit in keinem anderen Studienort gegeben.

Seltsam auch das Schicksal eines Testteilnehmers, der das Verfahren nicht überlebte. Der Mann war Proband der Placebo-Gruppe, kam kurz nach Studienbeginn mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus Aleman und starb. Doch gegenüber den ANMAT-Kontrolleuren wurde der Todesfall verschwiegen. Auch im Protokoll der Gesundheitsbehörde, das WELT vorliegt, heißt es ausdrücklich, dass es keine Verstorbenen gab, weder in der Impfstoff- noch in der Placebogruppe. Erst in der Zulassungsstudie ist der Tote unter der ID 12313972 plötzlich wieder vorhanden. „Polack hat diesen Toten gegenüber der Gesundheitsbehörde ganz offensichtlich verheimlicht“, vermutet Roux. Doch welchen Grund gab es, einen Toten zu verschweigen, wenn er den Impfstoff angeblich nicht bekommen haben kann?

Irgendwann reichten die Vorgänge in Buenos Aires dem angesehenen argentinischen Neurologen Ruben Horecio Manci. Der Experte für klinische Studien schrieb am 15. April 2021 einen Brandbrief an die argentinische Gesundheitsministerin. Im Oktober 2022 richtete das Parlament einen Untersuchungsausschuss ein, der bis heute noch keine Antworten geliefert hat. Es geht unter anderem um diese Fragen: Wie viele schwere Nebenwirkungen, wie viele Todesfälle hat es wirklich gegeben? Was war los an dem Tag, an dem 53 Probanden aus der Studie flogen?

Auch die Verhandlungen zwischen Pfizer und der argentinischen Regierung zur Impfstoffversorgung des Landes sollen beleuchtet werden. Laut Vertrag wollte der Hersteller bei seinem Impfstoff für nichts garantieren. Regierungsvertreter sollten einen Haftungsausschluss sogar für den Fall unterschreiben, dass Pfizer sich Fahrlässigkeit zuschulden kommen lässt, sowie für „Betrug oder Böswilligkeit von Pfizer selbst“. Diese Klauseln, die auch von Experten als ungewöhnlich bewertet werden, hatten dafür gesorgt, dass Argentinien bis ins Frühjahr 2021 hinein komplett auf den russischen Impfstoff Sputnik setzte.

David Healy hat über den Fall Augusto und die Vorgänge in Buenos Aires hinaus noch weitere Fragen zur Zulassungsstudie. Er wundert sich über insgesamt 21 Impfstoffgruppen-Tote, von denen es heißt, sie seien „nicht auf den Impfstoff zurückzuführen“. Zumindest in zwei dieser Todesfälle könnte es nicht ganz so gewesen sein, wie in der Studie dargestellt. WELT liegen Dokumente vor, nach denen Patient Nr. 11621327 drei Tage nach der 2. Dosis tot in seiner Wohnung gefunden wurde, offenbar ein Schlaganfall. Patient Nr. 11521497 starb 20 Tage nach der Impfung, Diagnose Herzstillstand. „Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft würde man diese beiden Fälle der Impfung zuordnen“, sagt die Berliner Pharmaspezialistin Susanne Wagner, „zumal die US-Gesundheitsbehörde CDC momentan Schlaganfälle bei Geimpften untersucht und man weiß, dass Blutgerinnsel nach der Impfung plötzliche Todesfälle auslösen können.“

Resigniert stellt der dänische Mediziner Peter Gøetzsche, vormalig Professor für klinische Studien an der Universität Kopenhagen, im Gespräch mit WELT fest, dass „die Zulassungsstudien der Hersteller unzuverlässig sind, selbst wenn sie in renommierten, wissenschaftlichen Fachzeitschriften erscheinen“. Er beobachtet generell „Betrug und Unterdrückung der Veröffentlichung von Schäden in den klinischen Studien“. Für typisch hält Gøetzsche die Biontech/Pfizer-Publikation zur „Sicherheit, Immunogenität und Wirksamkeit des Covid-19-Impfstoffs BNT162b2 bei Jugendlichen“. Darin kommen die Autoren, darunter auch Biontech-Gründer Uğur Şahin, unter anderem zu dem Schluss, dass der mRNA-Impfstoff bei 12- bis 15-Jährigen „ein günstiges Sicherheitsprofil aufweist“ und es unter den Teilnehmern „keine schwerwiegenden impfstoffbedingten Ereignisse“ gab. In den Anhängen am Schluss steht unter „schwerwiegenden Ereignissen“ die Zahl 4. Davon impfstoffbedingt seien 0. Eine der vier ist die 13-jährige Maddie De Garay. Das Mädchen erlitt nach der zweiten Injektion eine schwerwiegende neurologische Störung. Seitdem kann sie aus eigener Kraft den Rollstuhl nicht verlassen. Sie wird über eine nasogastrale Sonde ernährt.

„Die Vorwürfe sollten korrekt aufgeklärt werden“

„Unregelmäßigkeiten in Studien müssen aufgeklärt werden“, sagt der gesundheitspolitische Sprecher der FDP Andrew Ullmann gegenüber WELT. „Fehler in einzelnen Teilen der Studie“ seien aber kein Grund, die gesamte Zulassung infrage stellen. Der Epidemiologe Klaus Stöhr, der von 2007 bis 2017 das Impfstoffprogramm des Herstellers Novartis geleitet hat, weist gegenüber WELT darauf hin, dass sich solche Vorkommnisse nicht immer vermeiden ließen: „Entscheidend ist, dass sie aufgedeckt und bei der Studienbewertung berücksichtigt werden“. Ob die Studie korrigiert werden muss, „lässt sich schlüssig nur bei Einsicht in die Originalunterlagen der gesamten Studie sagen“. Der Charité-Immunologe Andreas Radbruch fordert starke Sanktionen, es gehe um die „Impfakzeptanz in der Gesellschaft, das Vertrauen in die Zulassungsbehörden“. Auch der Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko) Thomas Mertens verlangt: „Die Vorwürfe sollten korrekt aufgeklärt werden“.

WELT bat Pfizer zu den Fällen von Augusto Roux, Maddie de Garay sowie den Vorkommnissen in Buenos Aires und der Rolle Fernando Polacks um eine Stellungnahme. Sie kam unverzüglich: „Zulassungsbehörden auf der ganzen Welt haben unseren COVID-19-Impfstoff zugelassen. Diese Zulassungen beruhen auf einer soliden und unabhängigen Bewertung der wissenschaftlichen Daten zu Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit, einschließlich der klinischen Phase-3-Studie.“

Doch war für solch eine solide Bewertung durch die Behörden überhaupt Zeit? Aus E-Mails der EMA, die WELT vorliegen, geht hervor, dass sich die FDA, die britische MHRA und die EMA selbst schon über den Zeitpunkt der Zulassung verständigt hatten, noch bevor sie überhaupt einen Blick in die Pfizer-Papiere werfen konnten. Die Zeit drängte, das Corona-Virus sorgte für Leid und Schrecken. Für akribische Überprüfungen, so scheint es, war damals keine Zeit.

WELT hat auch den Leiter der Pfizer-Zulassungsstudie, Fernando Polack, um Aufklärung gebeten. Auch Polack zog es vor zu schweigen.


„US-Gesundheitsbehörde ließ sich von acht Labormäusen überzeugen“

Veröffentlicht am 14.09.2022

Von Elke Bodderas
Verantwortliche Redakteurin

Wie sicher sind die Covid-Impfungen? Der renommierte Pharmazieprofessor Peter Doshi behauptet, Pharmahersteller würden wichtige Daten nicht herausgeben. In einer Neuauswertung ihrer klinischen Studien kommen Doshi und andere Forscher auf eine deutlich erhöhte Zahl von schweren Nebenwirkungen.

Der US-Amerikaner Peter Doshi ist Professor für Pharmazie an der Universität of Maryland und Mitherausgeber des „British Medical Journals“ (BMJ), eines der renommiertesten Wissenschaftsmagazine der Welt. Seit 2009 fordert er Pharmakonzerne immer wieder zu mehr Transparenz auf. Gemeinsam mit anderen Forschern verlangte er etwa die Herausgabe essenzieller Studiendaten zum Influenzamittel Tamiflu, zu Diabetesmedikamenten aus der Gruppe der „Inkretine“, zum Epilepsiemedikament Gabax von Pfizer oder dem Grippemittel Relenza von GlaxoSmithKline. Teils hatte Doshi mit seinem Vorgehen Erfolg: Hersteller Roche etwa legte 2013 fast sämtliche Studiendaten zu Tamiflu offen. Im Blick auf die Corona-Pandemie hat Doshi zusammen mit einer Gruppe von internationalen Forschern schwerwiegende Nebenwirkungen bei Erwachsenen nach der mRNA-Impfung gegen Covid-19 analysiert. Seine Studie ist kürzlich im renommierten Fachmagazin „Vaccine“ erschienen. Mit WELT sprach Doshi über seine Einschätzungen.

WELT: Vor einem Jahr kritisierten Sie die Faktenlage bei der Zulassung von Covid-Impfstoffen, die Überschrift lautete: „Entscheidungen ohne Daten“. Jetzt gab die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA die neuen, angepassten Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna frei. Haben Sie Einwände?

Peter Doshi: Die Präparate richten sich gegen das Wuhan-Virus und die Omikron-Variante BA.1 aus dem vergangenen Winter. Diese Variante spielt weder in den USA noch in Europa derzeit eine Rolle.

WELT: Gegen den aktuell vorherrschenden Omikron-Subtyp BA.4/BA.5 gibt es ebenfalls einen fertig entwickelten, angepassten Impfstoff. Die US-Gesundheitsbehörde FDA hat ihn auch schon zugelassen.

Doshi: Bei einem Meeting mit Pfizer Ende Juni hat sich die FDA anhand der Daten von insgesamt acht Mäusen von der Wirksamkeit des Boosters gegen BA.4/BA.5 überzeugen lassen. Daten von menschlichen Probanden wollte der Hersteller nachreichen.

Peter Doshi ist einer der bedeutendsten Kritiker der Pharmaindustrie
Quelle: Doshi

WELT: Pfizer gibt an, die klinischen Versuche für die BA.4/BA.5-Impfstoffe sollten bald beginnen.

Doshi: Das mag sein, aber die Bestellung von 170 Millionen Impfdosen erfolgte auf Grundlage von Mausdaten. Das zeigt eine dramatische Absenkung der Standards bei der FDA.

WELT: Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat sich dem nun angeschlossen*. Nach dem Booster gegen BA.1 gab es am Montagabend auch grünes Licht für den angepassten Impfstoff gegen BA.4./5. Ihre Entscheidung, so hieß es von der EMA, fuße auf den klinischen Daten zum BA.1-Impfstoff.

Doshi: Auch da steht die Öffentlichkeit vor einer Datenwand. Wir versuchen seit Langem, an die detaillierten, individuellen Teilnehmerdaten der großen mRNA-Zulassungsstudien aus dem Jahr 2020 zu gelangen. Ohne Erfolg. Erst anhand dieser Daten lassen sich Risiken und Nutzen zuverlässig gegeneinander abwägen.

WELT: Wie reagieren die Hersteller auf die Vorwürfe?

Doshi: Pfizer hatte im Studienprotokoll geschrieben, dass man die Daten qualifizierten Wissenschaftlern zwei Jahre nach Abschluss der Studie zugänglich machen würde. Das wäre der Mai 2023 gewesen. Vor kurzem hat Pfizer das Datum jedoch um neun Monate hinausgeschoben. Begründung: Eine einzige von rund 44.000 Personen, die an der Studie teilnehmen, sei erst im April 2022 zum zweiten Mal geimpft worden. Das verzögere nun alles. Auch Moderna hat das ursprünglich erwartete Abschlussdatum vom 27. Oktober auf den 29. Dezember 2022 verlegt. Ich bleibe bei meiner Meinung: Keine Daten, keine Wissenschaft – und auch von „wissenschaftlich geprüft“ kann keine Rede sein. Die Geheimhaltung von Daten ist inakzeptabel. Da steht die Frage im Raum, wie Regierungen solche Produkte empfehlen oder gar anordnen können.

WELT: Im Frühjahr hatten 80 Professoren und Wissenschaftler die FDA aufgerufen, die Rohdaten der großen Covid-Impfstudie von Pfizer/Biontech herauszugeben. Was ist daraus geworden?

Doshi: Die FDA verwies auf die hohe Arbeitsbelastung und bot an, 500 Seiten pro Monat zugänglich zu machen, sodass etwa nach 55 bis 75 Jahren alle Dokumente öffentlich wären. Erst ein Gericht brachte die Behörde dazu, die Dokumente freizugeben. Bisher sind also mehrere Hunderttausend Seiten öffentlich zugänglich. Aber was immer noch fehlt, ist das Entscheidende. Es sind die detaillierten Patientendaten der Studienteilnehmer.

„Bisher keine unbekannten Nebenwirkungen in den Impfstoffstudien“

Ein an Omikron angepasster Impfstoff ist von der Europäische Arzneimittel-Behörde zugelassen worden. Bereits in den nächsten Tagen soll dieser ausgeliefert werden. „Jetzt war eine Anpassung sehr angebracht“, sagt Prof. Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, bei WELT.
Quelle: WELT

WELT: Was könnten uns die Daten sagen?

Doshi: In unserer Meta-Analyse kommen wir zu dem Ergebnis, dass bei den mRNA-Impfstoffen schwerwiegende unerwünschte Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen wie etwa Nierenschäden, die bereits im Vorfeld als „von besonderem Interesse“ eingestuft worden waren, bei einem von 800 Geimpften auftreten können. Dieser Wert liegt deutlich höher als die ein bis zwei Fälle von schwerwiegenden Nebenwirkungen pro Million Geimpfter, die für klassische Impfstoffe akzeptiert werden. Generell traten in der Pfizer/Biontech-Impfstoffgruppe schwere Nebenwirkungen um 36 Prozent häufiger auf als in der Placebogruppe, bei Moderna waren es sechs Prozent. Kombiniert man beide Studien, kommt man auf ein um 16 Prozent erhöhtes Risiko einer schweren Nebenwirkung durch Covid-Impfstoffe. Das ist bedenklich für Menschen, die ein niedriges Risiko für schwere Verläufe haben, etwa Kinder, Jugendliche oder gesunde Erwachsene unter 60 Jahren. Allerdings liefern unsere Werte nur einen Durchschnitt der schweren Nebenwirkungen in allen Altersgruppen, eben weil wir keine detaillierten Patientendaten hatten.

WELT: Beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und auch beim Bundesgesundheitsministerium spricht man von gerade einmal 0,02 Prozent schweren Impfnebenwirkungen. Wie kann es sein, dass Sie nun auf eine fast zehnfach erhöhte Gefahr kommen? Was haben Sie anders gemacht als die Forscher der Zulassungsstudien vor zwei Jahren?

Doshi: Unsere Re-Analyse beruht auf den Daten der klinischen Phase-III-Studie, die Pfizer und Moderna für die Beantragung der Eilzulassung vorgelegt haben. Unsere Auswertung unterscheidet sich von denen der Hersteller und der FDA bei den Kriterien „vollständig geimpft“ und beim Beobachtungszeitraum. Wir beziehen uns nur auf Probanden, die zweimal geimpft wurden und haben die Beobachtungszeit auf mindestens zwei Monate nach der zweiten Dosis erweitert. Die Hersteller haben auch jene Probanden gezählt, die nur eine Dosis erhalten hatten. Damit vergrößert sich die Zahl der Teilnehmer und führt zu einem rechnerisch verminderten Nebenwirkungsrisiko.

WELT: Eine Voraussetzung für die Studien sollte die „doppelblinde“ Durchführung sein. Weder der Teilnehmer noch der Impfarzt sollte wissen, ob in der Spritze das Placebo oder das Präparat aufgezogen ist. Sie halten es für einen bedeutenden Verfahrensfehler, dass ein Großteil der Probanden „entblindet“ worden war.

Doshi: Das hatten die Unternehmen rasch angekündigt. Und die FDA nahm das hin.


EMA gibt grünes Licht für angepasste Corona-Impfstoffe

Ein Expertenausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur EMA hat den Weg für zwei an die Omikron-Variante angepasste Corona-Impfstoffe freigemacht. Das teilte die EMA am Donnerstagnachmittag in Amsterdam mit.
Quelle: WELT

WELT: Was passierte dann?

Doshi: Im Studienplan war festgelegt, dass Pfizer etwas über 40.000 Personen, Moderna 30.000 Personen über zwei Jahre beobachten und vergleichen sollten, je zur Hälfte als Impf- oder Placebogruppe. Nach durchschnittlich nur zwei Monaten Beobachtungszeit nach der zweiten Dosis wurde für beide Impfstoffe die Eilzulassung beantragt und gleichzeitig die Studien entblindet, das heißt: Den Teilnehmern der Placebogruppen wurde angeboten, sich impfen zu lassen. Sechs Monate nach Studienbeginn waren dann nur noch sieben Prozent der Studienteilnehmer verblindet. Damit wurden die Impfstoff- und Placebogruppen immer weniger vergleichbar.

WELT: Hunderte von Probanden wurden aus der Pfizer/Biontech-Studie ausgeschlossen. Auch das kritisieren Sie in Ihrer Analyse.

Doshi: Wenn Teilnehmer von einer Studie im Nachhinein ausgeschlossen werden, und wenn das so unausgewogen geschieht wie hier, ist das ein Warnsignal. Es verzerrt das Ergebnis. Insgesamt 371 Personen wurden wegen „wichtiger Protokollabweichungen“ ausgeschlossen und damit nicht in die Bewertung einbezogen: 311 aus der Impfstoffgruppe, 60 aus der Placebogruppe. In diesem Fall hat das zur Folge, dass die Angabe von 95 Prozent Wirksamkeit des mRNA-Impfstoffes, mit der Pfizer/Biontech warben, aus insgesamt acht Corona-Erkrankten bei den Geimpften errechnet wurde und 162 bei den Placebo-Geimpften, ein Unterschied von 154 Fällen. Demgegenüber wurden bei Moderna nur 36 Personen ausgeschlossen: 12 davon in der Impfgruppe, 24 in der Placebogruppe.

WELT: In Europa haben die Impfstoffe nur eine bedingte Zulassung. Mit diesem Status könnten sie theoretisch Jahrzehnte auf dem Markt bleiben.

Doshi: Auch in den USA gibt es einen Status jenseits der regulären Zulassung, das ist die Notfallzulassung Emer (emergency use authorization). In den Emer muss der Hersteller laut Gesetz ein Merkblatt beifügen, dass es Ihre Entscheidung ist, ob Sie sich impfen lassen wollen oder nicht. Deshalb dürfte es für ein „Emer“ -Produkt niemals offizielle Vorschriften geben. Aber jetzt gibt es das, in Deutschland etwa mit der Impfpflicht im Gesundheitswesen. Ich bin überrascht, dass diese Regelung Bestand hat, obwohl die Impfstoffe Infektion und Übertragung nicht verhindern.

WELT: Eben jener Schutz vor Übertragung war anfangs angenommen worden. Es war sogar von Herdenimmunität durch massenhafte Impfung die Rede.

Doshi: Diese irrige Vorstellung gab es 2020 und sogar noch 2021. Herdenimmunität erreicht man durch natürliche und verimpfte Immunität. Und zwar mit einem Impfstoff, der Ansteckung und Übertragung verhindert, wie etwa bei den Masern. Die Krankheit gilt in den USA durch die Impfungen fast als ausgerottet. Das hatte man sich auch durch die mRNA-Impfstoffe erhofft. Die Idee von „No Covid“ beruhte darauf, dass die Impfstoffe Infektionen verhindern könnten. Dass das bei den mRNA-Impfstoffen nicht der Fall ist, war sehr früh klar. Der medizinische Vorstand von Moderna, Tal Zaks, hat das bereits im November 2020 ganz offen eingeräumt. Er sagte: „Wir sollten die Wirkungen der Impfstoffe nicht überinterpretieren. Sie können nicht verhindern, dass man das Virus möglicherweise in sich trägt und andere ansteckt.“

WELT: In den Zulassungsstudien spielt der Schutz vor Ansteckung keine Rolle. Wie konnten derart wichtige Dinge beim Studiendesign übergangen werden?

Doshi: Die Hauptfrage der Studien lautete: Verringert der Impfstoff die Wahrscheinlichkeit einer symptomatischen Covid-19-Erkrankung? Die Frage lautete nicht: Verringert er das Risiko einer Sars-Cov-2-Infektion? Das hätte man untersuchen können, aber alle Unternehmen entschieden sich, dies nicht zu tun. Für mich ist es überhaupt nicht überraschend, dass wir einen Impfstoff haben, der die Infektion nicht verhindert.

WELT: Warum nicht?

Doshi: Weil wir das auch noch nie bei einem Influenza-Impfstoff gesehen haben. Diese mRNA-Impfstoffe können zwar schwere Krankheiten verhindern. Aber sie erzeugen keine Herdenimmunität, die eine Blockade der Infektion voraussetzt und die der Hauptgrund für viele Menschen war, sich impfen zu lassen. Es ist also überhaupt keine Überraschung, dass es Mitte 2021 zu all diesen Ausbrüchen bei Geimpften kam.

WELT: Vor einem Jahr sagten Sie, die Impfstoffe seien eher ein Versuchsprodukt. Was wissen wir jetzt, nach Milliarden verimpfter Dosen?

Doshi: Die Erkenntnisse aus den weltweiten Impfungen können keine randomisierten Studien ersetzen. Vor allem liefern sie keine Erkenntnisse über die Wirksamkeit der Impfstoffe. Dazu braucht man Vergleichsgruppen. Das Problem ist, dass es sehr, sehr schwierig ist, herauszufinden, ob die Geimpften und die Ungeimpften tatsächlich vergleichbar sind.

WELT: Mit der zunehmenden Impfquote stieg auch die Zahl der Geimpften auf den Intensivstationen. Wie erfolgreich können die Impfstoffe schwere Verläufe verhindern?

Neuer Omikron-Impfstoff? – „Es wäre falsch, Hoffnungen zu schüren“

Der Virologe Klaus Stöhr dämpft die Erwartungen an die neuen Omikron-Booster: „Es wäre falsch, Hoffnungen zu schüren. Was die Infektion angeht, wird es durch den Impfstoff keine große Verbesserung geben“, so Stöhr.
Quelle: WELT

Doshi: Die Daten von Pfizer und Moderna zeigen, dass das Krankenhaus-Risiko verringert ist. Es gab 14 Klinikaufenthalte wegen Covid, was keine große Zahl ist, doch alle Patienten waren aus der Placebogruppe. Aber immer noch ist unklar, wie lange die Impfung wirkt und bei wem. Wir wissen auch nicht, wie stark sich die Virulenz des Virus, also seine krankheitsauslösende Wirkung, inzwischen verändert hat. Oder ob es eine zunehmende Immunflucht des Körpers vor den Impfstoffen gibt. Auch hier versagen die klinischen Daten der Hersteller. Vermutlich tritt gerade beim Nutzen-Schaden-Verhältnis eine drastische Verschiebung ein. Aber ohne ausreichende Daten ist auch das schwer zu beurteilen.

WELT: In Deutschland war es oft schwierig, kritisch über Corona-Impfstoffe zu sprechen. Der Vorwurf lautete oft, man spiele damit Impf- und Demokratiegegnern in die Hände. War das in den USA auch so?

Doshi: Ja. Und es ist ein trauriges Kapitel. Wenn Sie die Zulassungsunterlagen vom Dezember 2020 lesen, dann haben Sie alles schwarz auf weiß: dass wir nicht wissen, wie lange der Schutz anhält. Dass wir nicht wissen, ob die Impfstoffe vor asymptomatischen Infektionen schützen, dass wir nicht wissen, wie wirksam sie in verschiedenen Untergruppen sind. Wir wissen nicht einmal, ob sie die Sterblichkeit verringern. Ich wünsche mir mehr Offenheit in Bezug auf die vielen Wissenslücken. Es sollte klargestellt werden, dass nicht alles perfekt ist. Vor allem sollten wir Wissenschaftler und damit die Öffentlichkeit frei und in der Lage sein, sich selber ein Bild zu machen über das Für und Wider, den Nutzen und die Risiken.

*Transparenzhinweis: Am Anfang des Interviews hieß es zuerst, die EMA gebe noch kein grünes Licht für den Impfstoff gegen BA.4./5. Doch am Montagabend kam dann die Empfehlung zur Zulassung. Wir haben die Passage daraufhin aktualisiert.


Fragezeichen beim mRNA-Impfstoff

Veröffentlicht am 17.02.2022

Von Elke Bodderas, Cornelia Stolze

14 Monate nach der ersten Impfung sind Biontech und Moderna noch immer ohne ordentliche Zulassung – weil essenzielle Studien fehlen. Der Vorgang ist ungewöhnlich. Mediziner und Pharmazie-Experten haben Fragen.

Etwa 62 Millionen Deutsche sind mittlerweile geimpft, die Präparate dazu lieferten überwiegend Moderna und Biontech. Dennoch ist bis heute keiner der beiden mRNA-Impfstoffe ausreichend erforscht, um die Standards für eine ordentliche Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Behörde EMA zu erfüllen. Legal in Umlauf sind sie trotzdem, jedoch nur vorläufig und auf Zeit, per befristeter „bedingter Genehmigung“.

14 Monate nach Eröffnung der ersten deutschen Impfzentren liegen vor allem wichtige Studien zu Sicherheit und Wirksamkeit noch nicht vor. Die Liste ist lang, die Spanne reicht von produktionstechnischen Nachweisen bis hin zu Standardverträglichkeitsstudien. Über den aktuellen Stand zum Genehmigungsverfahren, wann das Provisorium als überwunden gelten kann, vor allem aber zu den zwangsläufigen Studien über Risiken und Nebenwirkungen schweigen sich die Hersteller genauso aus wie die Behörden.

Riskante Wissenslücken

Bis Juli 2021, so hatte die EMA frühzeitig klargemacht, seien die Studien nachzureichen. Aber die Frist verstrich still und ereignislos. Stattdessen verlängerte die EMA im Oktober 2021 die „bedingte Zulassung“ in aller Diskretion um ein Jahr. Zunächst für Spikevax von Moderna und Anfang November für Comirnaty von Biontech. Das brachte in der wissenschaftlichen Fachwelt erste Irritationen auf, es gab Fragezeichen, auch den Verdacht der Geheimniskrämerei, inzwischen erweitert um offenes Befremden.

So fragt sich Susanne Wagner, langjährige Expertin in der Pharmaentwicklung, „ob die Hersteller ihre Produkte jemals in Europa regulär zulassen wollen“. Die promovierte Medizinerin ist spezialisiert auf die Erstellung von Prüfplänen für neue Medikamente. Wagner ist eine der erfahrensten Spezialisten der Branche, seit 30 Jahren in der Hightech-Forschung, unter anderem bei Schering und der Charité. Als selbstständige Expertin berät sie hauptsächlich jene Start-ups, die einen Großteil neuartiger Arzneimittel entwickeln – letztlich oft in Partnerschaft mit Pharmariesen wie Biontech mit Pfizer. Wagner ist spezialisiert auf Nano-Carrier und Lipid-Nano-Partikel. Die Stoffe bringen in den Corona-Impfstoffen die empfindliche mRNA an ihr Ziel im menschlichen Körper. Sie umhüllen den Wirkstoff, sie helfen, die Zellmembran schadlos zu überwinden.

Bei den mRNA-Impfstoffen erkennt Wagner riskante Wissenslücken, primär bei der Pharmakokinetik – also der Frage, welchen Weg der Wirkstoff im Körper nimmt, an welchen Organen er sich ablagert, wo genau er wirkt und wie lange er im Körper bleibt. Auch ihr ist die Notlage bewusst, der Zeitdruck, unter dem Industrie, Politik und die Genehmigungsinstitutionen standen: „Dass die Hersteller nicht gleich zu Beginn der Pandemie sämtliche Nachweise erbringen konnten, ist verständlich und entschuldbar.“ Nach eineinhalb Jahren allerdings sei es höchste Zeit zumindest „für einen Teil der Studien“. Zumal Hersteller und Behörden Spekulationen auf sich zögen wie etwa „Liegt es einfach nur am Aufwand? Oder stimmt möglicherweise das Ergebnis nicht?“

Auch der Virologe Alexander Kekulé stößt sich an mangelnder Transparenz: „Bei den mRNA-Impfstoffen handelt es sich um neue Wirkstoffe. Vor allem bei den darin enthaltenen Lipiden sind einige Standardauflagen, etwa bezüglich der Herstellung, schwierig zu erfüllen“, sagt er. „Ich weiß nicht, welche Gründe Pfizer hat, die Auflagen der EMA innerhalb der Fristen nicht zu erbringen, aber ich hätte mir gewünscht, dass die Gründe transparenter gemacht werden.“ Warum wurden die Nachweise nicht erbracht? Gab es hierzu eine Erklärung? „Man sollte hier den Querdenkern keine Munition liefern“, empfiehlt Kekulé.

Seit Anfang Dezember kursieren in den sozialen Netzwerken Gerüchte, der Impfstoff von Biontech/Pfizer enthalte Bestandteile, die nicht für die Anwendung am Menschen geeignet seien. Gemeint sind die Lipid-Nanopartikel ALC-0315 und ALC-0159. Deren toxikologische und pharmazeutische Eigenschaften seien nicht vollständig bekannt, so heißt es. Die Rede ist von „schweren allergischen Reaktionen“.

„An jeder Verschwörungstheorie ist ja immer ein kleiner plausibler Kern“, sagt Kekulé. Tatsächlich nehme man an, dass bestimmte Lipide Allergien auslösen können. „Doch seltene allergische Reaktionen auf Impfstoffe gab es schon immer“, sagt der Virologe.

Die Herstellung der Lipide sei allerdings so kompliziert, dass es vor allem zu Beginn der Impfkampagne dem Hersteller nicht immer geglückt sei, ein völlig einwandfreies Produkt abzuliefern. „Wir haben hohe Ansprüche in Europa“, sagt Kekulé, „die hat der Hersteller am Anfang nicht ausreichend erfüllt. Deshalb hat die EMA eine Frist gesetzt bis Juli, Nachweise bezüglich Reinheit und Qualitätskontrolle nachzuliefern.“

Zulassung? Drei Wochen später

Die Frist wurde nicht eingehalten, und die Nachweise betreffen nicht nur die Nano-Lipide, sondern auch die mRNA selbst. Bereits im März 2021 berichtete das „British Medical Journal“ (BMJ) mit Berufung auf die EMA, dass die Experten der Zulassungsbehörden kurz vor der Zulassung 2020 größere Einwände vorgebracht hätten. Das betraf die Qualität der mRNA-Vakzine. In den geleakten Dokumenten war die Rede von „starken Bedenken“. Denn in einigen Chargen befanden sich unerwartet niedrige Mengen an intakter mRNA. Wissenschaftler der EMA schrieben besorgt an die Impfstoffhersteller, dass im Endprodukt zerstückelte und veränderte mRNA gefunden worden sei. Was das für die Wirksamkeit und die Sicherheit des Impfstoffs bedeute, „müsse noch ermittelt werden“, heißt es in einer E-Mail eines Mitglieds der EMA im November 2020. Drei Wochen später war der Wirkstoff von Pfizer/Biontech zugelassen.

Doch sind diese Probleme inzwischen beseitigt? Auf Nachfrage von WELT antwortet die EMA: „Das Unternehmen ging auf die aufgeworfenen Fragen zufriedenstellend ein und lieferte anschließend die erforderlichen Informationen und Daten Anfang Dezember 2020 nach, was es der EMA ermöglichte, zu einer positiven Stellungnahme für diesen Impfstoff zu kommen.“ Wie genau das Problem gelöst wurde, teilt die Behörde nicht mit. Pfizer verwies seinerzeit gegenüber dem BMJ darauf, dass alle Impfstoffchargen doppelt geprüft würden, da ja auch das Paul-Ehrlich-Institut solche Analysen vornehme. Doch auch hier blieb die Frage offen, wie es zu dem hohen Anteil beschädigter mRNA in den Impfstoffchargen kam – und ob es wieder passieren könnte.

Offene Fragen gibt es auch bei den pharmazeutischen Eigenschaften. Es sind essenzielle Fragen wie: Lagert sich der Wirkstoff im Gehirn ab? Gibt es Anreicherungen in der Niere? In den Lymphknoten? Im Herzen? Wird es bei trächtigen Tieren auf den Embryo übertragen?

Fragen, „die die Hersteller bisher nicht beantwortet haben“, sagt Expertin Susanne Wagner, „was daran liegen könnte, dass die mRNA-Vakzine als klassische Impfstoffe zugelassen wurden“. Bei diesen spielt die Pharmakokinetik im Zulassungsverfahren keine Rolle. Tatsächlich sind Comirnaty und Spikevax jedoch gentherapeutische Produkte, sie fallen damit in eine andere Kategorie. Für Wagner ein klarer Fall: „Der Verbleib der mRNA im Körper ist zu untersuchen.“

„Da sind wir auf Pressemitteilungen der Hersteller angewiesen“

Auf die Frage, wann mit einem Omikron-Impfstoff zu rechnen sei, sagt Stiko-Chef Mertens bei WELT: „Da sind wir im Augenblick auf Pressemitteilungen der Hersteller angewiesen. Wir wissen, dass Biontech und Moderna mit Studien angefangen haben. Aber es gibt dazu noch keinerlei Daten.“
Quelle: WELT

So sieht das auch der emeritierte Frankfurter Pharmazie-Professor Theo Dingermann, vormalig Präsident der Pharmazeutischen Gesellschaft. Allerdings: „Weder die EMA noch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA fordern diese Studien. Warum, das kann ich nicht sagen.“ Abseits der legalen Abläufe hat er aber Verständnis: „Die Vakzine sind milliardenfach verimpft. Die Nebenwirkungen sind im Verhältnis dazu niedrig, auch deshalb treten die Zulassungsbehörden vermutlich nicht bestimmter auf.“

Biontech selbst bleibt gegenüber WELT vage: „Die von der EU geforderten Sicherheitsdaten … erheben wir und werden sie einreichen, sobald sie uns vorliegen.“ Pharmazie-Expertin Wagner ist das nicht genug: „Eigentlich gibt es Interimsdaten“, sagt sie. Und die Studien zur Pharmakokinetik? Da bestätigt Biontech gegenüber WELT: „Die Standard-Pharmakokinetikstudien für Impfstoffe sind formal nicht erforderlich.“ Handlungsbedarf erkennt der Hersteller aber trotzdem: „Biontech betrachtet die Frage nach der Verteilung der mRNA-LNPs ... in der Tat als wichtig für das Verständnis der Impfstoffwirksamkeit und möglicher Nebenwirkungen. Biontech und Pfizer haben daher bereits in einem frühen Stadium ... umfangreiche Tier-PKS und Biodistributionsstudien ... durchgeführt und die ... Befunde umfangreicher toxikologischer Studien mit Behörden auf der ganzen Welt geteilt“.

Reichen Studien an Ratten?

Dabei handelt es sich vor allem um Studien an Ratten – doch reicht das? Wagner fordert Studien an Tieren, die mehr dem Menschen ähneln, etwa an Schweinen. Und überhaupt, so fragt die Pharmazie-Expertin: „Wo ist das Problem, die Anreicherung des Wirkstoffs in verschiedenen Organen zu untersuchen?“

Auch Kekulé hofft auf eine entschlossenere EMA: „Dass man nach über einem Jahr immer noch sagt, das ist ein Impfstoff, deshalb müsst ihr keine vollständige Pharmakokinetik vorlegen, ist zumindest diskussionswürdig.“

Immerhin, etwas Licht in die Sache brachten die Behörden in Japan, sie hatten auf die Daten zur Verteilung der mRNA im Körper bestanden. „Diese Studien lassen zwar Fragen offen“, sagt Wagner, „aber sie zeigen, dass sich die Lipide bedenklich in wichtigen Organen anreichern. Das könnte einige der schweren Nebenwirkungen erklären wie Sinusvenenthrombose, Herzmuskelentzündungen, Thrombosen oder Lungenembolien.“

Diese Nebenwirkungen kämen zwar selten vor. Für die reguläre Zulassung in Europa seien aber detaillierte Studien unabdingbar.