Die große Lüge

Streng geheim, Betretungsverbot, Stacheldraht, Fotografieren untersagt: Israels Kernforschungsanlage Dimona. Aufnahme vom Mai 1986. Foto: picture alliance / NTB

Faktencheck: Die «Iran-Atombombe». Vorabdruck aus der Juliausgabe von COMPACT-Magazin. Als Vorwand für den Angriff auf den Iran muss einmal mehr dessen Griff zur A-Bombe herhalten, obwohl es sich dabei um ein Märchen handelt, das seit 40 Jahren immer wieder erzählt wird. Ein Faktencheck.

_ von Michael Brück | 29. Juni 2025 Digital+

Benjamin Netanjahu zündet den Nahen Osten an: Während sich der von Skandalen geplagte und wegen Kriegsverbrechen mit internationalem Haftbefehl gesuchte israelische Ministerpräsident in den nächsten Konflikt rettet, muss als Begründung einmal mehr das Phantom einer iranischen Atombombe herhalten. Der ehemalige BND-Präsident August Hanning äußerte: «Iran war offenbar kurz vor dem Bau einer Nuklearwaffe.» Bundeskanzler Friedrich Merz bejubelt die Aggression regelrecht und behauptet, Netanjahu würde «die Drecksarbeit … für uns alle» erledigen.

Die Propaganda gegen Iran hat das gleiche Strickmuster wie vor dem US-Angriff 2003 auf den Irak.

Der langjährige schwedische Premier Carl Bildt hielt dagegen: «Netanjahu griff den Iran nicht an, um eine Atombombe, sondern um Atomverhandlungen zu verhindern.» Das ist plausibel, denn die seit Mitte April 2025 in Oman geführten Konsultationen zwischen Teheran und Washington passten nicht ins Konzept einer militärischen Aggression: Ein Atomabkommen hätte Netanjahus Aggression vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit die Grundlage entzogen. Das nächste Treffen in Oman sollte am 15. Juni stattfinden, ließ Trump die Regierung in Teheran glauben – doch Netanjahus Luftwaffe schlug schon zwei Tage vorher zu. Dass es eingeschleusten Mossad-Agenten gelang, in den ersten Stunden des Angriffs weite Teile der feindlichen Luftabwehr außer Kraft zu setzen und den Überraschungseffekt zu nutzen, dürfte auf dieses Täuschungsmanöver zurückzuführen sein.

Do it again, Uncle Sam!

Die ganze Propaganda gegen den Iran hat das gleiche Strickmuster wie vor dem US-Angriff 2003 auf den Irak. Wieder heißt es, ein nahöstlicher Diktator, ein Wiedergänger Adolf Hitlers, greife nach Massenvernichtungswaffen. Wieder heißt es, Israel sei tödlich bedroht, ein zweiter Holocaust werde vorbereitet. Wieder heißt es, alle Verhandlungen scheiterten an der Starrsinnigkeit der Gegenseite, und allein eine ultima ratio könne noch Abhilfe schaffen: der Krieg.

Rafael Mariano Grossi, seit Dezember 2019 Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Foto: iaea.org

Die damaligen Lügengeschichten werden einfach wiederholt, zum Teil von den selben Journalisten und Politikern, als ob sie sich nicht bis auf die Knochen blamiert hätten. Lediglich ein Unterschied zur Argumentation vor dem Irak-Feldzug sticht ins Auge: Damals bemühte sich die US-Regierung immerhin noch darum, der Öffentlichkeit die Existenz von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen zu beweisen. Unvergessen wird etwa die Power-Point-Präsentation bleiben, mit der Außenminister Colin Powell im Februar 2003 den Weltsicherheitsrat von der furchtbaren Bedrohung überzeugen wollte. Für die israelische Regierung hat das Debakel von 2003 nur eine Konsequenz: Sie verzichtet heute auf den Nachweis von physischen Beweisen oder auch nur Fotos für die angebliche Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Die müsste es nämlich geben: Bei der Hochanreicherung von Uran zum Bombenbau würden gewaltige Energiemengen frei, die sich auch dann von Infrarot-Satelliten nachweisen ließen, wenn die Produktion tief unter der Erde stattfände.

«Es gibt keine Indizien für die Herstellung von Atomwaffen durch den Iran.» IAEO-Direktor, 20.6.2025

Eine Wiederholung der Geschichte, und zwar in Endlosschleife, ist auch dies: Die israelische Tageszeitung Maariv warnte schon im April 1984, der Iran sei «im Endstadium der Produktion einer Atombombe». Ein knappes Jahrzehnt später war es ein gewisser Benjamin Netanjahu, der 1992 behauptete, Teheran sei nur noch drei bis fünf Jahre von der Fertigstellung entfernt. Nachdem auch diese Fristen verstrichen waren, ohne dass die Panikmache wahr geworden wäre, wiederholte Netanjahu im Jahr 2009, dass es nur noch «sechs Monate bis ein Jahr» dauern würde… Wohlgemerkt: Auch das ist bereits wieder mehr als 15 Jahre her.

Israels Langzeit-Machthaber Bibi und sein Gefolge hörten jedoch nicht auf, das Märchen weiter zu verbreiten, sondern erfanden zusätzlich immer kürzere Zeitintervalle. Nach vier Jahrzehnten Lüge scheint jetzt, nach der Zerstörung von Gaza, der Entmachtung der Hizbollah und dem Sturz von Assad, der Moment für die Entscheidungsschlacht gekommen zu sein.

Die Geheimdienste widersprechen

Am 25. März 2025 verkündete Trumps Geheimdienstkoordinatorin Tulsi Gabbard vor dem Senat die Einschätzung der 16 ihr unterstehenden Agencies: «Die Geheimdienst-Community bestätigt weiterhin, dass der Iran keine Atomwaffe baut.» Selbst nach Beginn des israelischen Angriffskrieges bekräftigte der demokratische Senator Mark Warner, stellvertretender Vorsitzender des US-Geheimdienstausschusses, diese Position. Und der Tagesspiegel berichtete am 18. Juni mit Verweis auf CNN: «Laut US-Geheimdienstberichten ist der Iran noch bis zu drei Jahre davon entfernt, eine Atomwaffe herzustellen und abfeuern zu können.»

Dieses Satellitenbild zeigt Fahrzeuge an der tief in ein Bergmassiv eingelassenen Anreicherungsanlage Fordo im Iran am 19. Juni 2025. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

In den Gesprächen in Oman hatten die Iraner zuvor immer wieder deutlich gemacht, sich an ihre 1968 geleistete Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag zu halten und dies auch in einem künftigen Abkommen zu wiederholen, jedoch nicht auf eine Urananreicherung für die zivile Nutzung verzichten zu wollen (siehe Infobox). Um sicherzustellen, dass Uran eben nicht für militärische Zwecke genutzt wird, lässt der Iran seine Atomanlagen seit Jahrzehnten durch die Kontrollbehörde des Sperrvertrages, die IAEO überwachen.

«Nach den islamischen Vorschriften ist ein Atomwaffenprogramm absolut verboten.» Ajatollah Chamenei

Teheran hat in der Vergangenheit seine friedlichen Absichten bewiesen und 2015 die Wiener Nuklearvereinbarung, in die neben den USA auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und China eingebunden waren und die als UN-Resolution 2231 Teil des Völkerrechts wurde, unterschrieben. Danach wurden einige westliche Sanktionen aufgehoben. Der Vertrag wurde jedoch 2018 von den USA – in der ersten Amtszeit von Trump – einseitig gekündigt. Nach der Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani bei einem US-Luftangriff Anfang 2020 im Irak, einem neuen Tiefpunkt der beiderseitigen Beziehungen, stieg auch Teheran aus. Trotzdem zeigte sich der Iran auch weiterhin gesprächsbereit, und die Kontrollen der IAEO gingen weiter.

Quellen: AEOI, IAEA. Grafik: COMPACT

Dass der Iran bisher nicht über die A-Bombe verfügt, hat nach Ajatollah Ali Chamenei, vor allem religiöse Gründe. «Wir hätten auch diesen Weg einschlagen können, aber nach den islamischen Vorschriften ist ein Atomwaffenprogramm absolut verboten», erklärte das religiöse Oberhaupt der Schiiten bereits im Jahr 2019. Ein Dekret Chameneis über das Verbot der Produktion und des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen liegt seit mehr als einem halben Jahrzehnt auch den Vereinten Nationen vor. In einer Theokratie hat dieses Veto durch die höchste religiöse Instanz mehr Gewicht als ein Gesetz, niemand würde ihm zuwiderhandeln, schon gar nicht die Gotteskrieger der Revolutionsgarden. Und die weltliche Macht? Der derzeitige Präsident Massud Peseschkian ist übrigens das moderateste Staatsoberhaupt seit über 20 Jahren und schlug bei den Wahlen 2024 den von Chamenei empfohlenen Kandidaten.

Der Trick

Den Vorwand, den Netanjahu für den Angriff am 13. Juni nutzte, hatte die IAEO am Vortag geliefert. Das Direktorium der Behörde gab zum ersten Mal eine deutliche Warnung heraus, wonach der Iran seinen Berichtspflichten nicht ausreichend nachgekommen sei. Es gebe radioaktive Spuren an nicht deklarierten Standorten, der friedliche Charakter des Atomprogramms sei nicht mehr gewährleistet und genügend angereichertes Uran für neun Bomben vorhanden. Doch seltsam: Der Beschluss in dem Gremium wurde nur von den Vertretern von 19 der 35 Staaten gefasst. Elf enthielten sich, Russland, China und Burkina Faso stimmten dagegen. Obwohl sich nun im nächsten Schritt der UN-Sicherheitsrat mit der Beschwerde hätte befassen müssen, interpretierte Netanjahu sie sofort als Erlaubnis für «Feuer frei!» Der israelische Außenminister Gideon Sa’ar am 13. Juni in Bild: «Die ganze Welt hat gesehen und verstanden, dass die Iraner nicht bereit waren, aufzuhören – und wir hatten keine andere Wahl als sie zu stoppen. Der jüngste Bericht der IAEO hat die Schwere der iranischen Verstöße noch einmal unterstrichen.»

Zentrifugen zur Urananreicherung in Natanz. Foto: CC0, Wikimedia Commons/figcaption>

Erst am 20. Juni, nach einer Woche Krieg, gab IAEO-Generaldirektor Rafael Grossi gegenüber der Times of Israel indirekt preis, dass er den Missbrauch des Memorandums seiner Behörde durch Israel zugelassen (oder selbst mit eingefädelt) hatte. Der Argentinier sagte im Rückblick, dass in dem Dokument «eigentlich nichts Neues» gewesen sei. Wörtlich: «Es gibt darin keine Indizien für die Herstellung von Atomwaffen durch den Iran.» Nach dem Zeithorizont für die Produktion einer A-Bombe, auch einer ex­trem primitiven, gefragt, musste er einräumen: «Es ist eine Sache, genügend angereichertes Uran zu haben, aber eine andere, einen Sprengkopf dafür herzustellen.» Und die radioaktiven Spuren an undeklarierten Standorten? «Es ist wahr, dass es in den frühen 2000er Jahren einige Aktivitäten in Verbindung mit einem Atomwaffenprogramm gab – jetzt sehen wir das nicht.»

Die berühmten 60 Prozent

Uran wird auf auf etwa 3,5 Prozent angereichert, damit man Brennstäbe für Atomkraftwerke herstellen kann, für Bomben benötigt man knapp 100 Prozent. Der Iran hat seine Bestände an 60-prozentigem Material zum Jahreswechsel auf 185 Kilogramm erhöht, dies wertet der Westen als Hinweis auf ein Waffenprogramm. Was dabei weggelassen wird: Der Iran braucht Spaltstoff dieser Anreicherungsstufe, um in Forschungsreaktoren medizinische Isotope wie Molybdän-99 (Mo-99) zu produzieren. Diese werden für diagnostische Bildgebungen in der Medizin verwendet. Die Süddeutsche Zeitung schrieb 2022: «Das radioaktive Material, das europaweit Mangelware ist, heißt Molybdän-99 und kann ein Lebensretter sein, denn es kommt bei der Diagnostik etwa von Krebserkrankungen zum Einsatz.»

Welch’ Offenbarung! In Teheran wird man gemerkt haben, wie sehr man betrogen wurde – nicht nur von Netanjahu, sondern auch von Trump und IAEO-Chef Grossi. Chameinis Atomverzicht war nobel, aber selbstmörderisch. Wer die Bombe nicht hat, gilt als leichtes Ziel – eine Erfahrung, aus der heraus Kim Jong-un die nukleare Bewaffnung Nordkoreas vorantreibt. Für den Iran dürfte diese Erkenntnis zu spät kommen, der Überlebenskampf hat bereits begonnen.

Dieser Artikel erschien im COMPACT-Magazin 07/2025. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form hier bestellen.