Eine Rede von Martin Luther King, Jr. aus dem Jahr 1967

Die drei Übel der Gesellschaft

Dr. Martin Luther Kings radikale Kritik an Rassismus, Militarismus und Armut kann niemals gekauft, gezügelt, kontrolliert oder kompromittiert werden.

Von Martin Luther King, neu veröffentlicht am 28. März 2024 auf FREE 21

Dieser Text wurde zuerst am 17.01.2024 auf www.blackagendareport.com veröffentlicht. Lizenz: Black Agenda Report, CC BY-NC-ND 4.0



„Nichts auf dieser Welt ist
gefährlicher als aufrichtige
Ignoranz und gewissenhafte Dummheit.“


Martin Luther King
* 15. Januar 1929 – 4. April 1968





Bild: gemeinfrei

Die zynische Vereinnahmung des Lebens von Dr. Martin Luther King Jr. und seines Vermächtnisses geht ungebremst weiter – sowohl das FBI als auch die zionistische Völkermordmaschinerie haben anlässlich seines Geburtstages Tweets abgesetzt. Dennoch können die radikalen Ideen und seine revolutionäre Ethik, die Dr. King in den letzten Lebensjahren entwickelt hat, niemals gekauft oder gebändigt, kontrolliert oder kompromittiert werden. Um die ungeheure Kraft von Kings Worten zu verstehen, braucht man nur seine Rede „Die drei Übel der Gesellschaft“ zu lesen oder erneut zu lesen. Es war seine Grundsatzrede auf der „National Conference on New Politics“, die er am 31. August 1967 im Chicago Coliseum gehalten hatte. Die drei Übel – die „dreifache Krankheit, die von Anfang an in unserer Gesellschaft gelauert hat“ – sind „die Krankheit des Rassismus, des übertriebenen Materialismus und des Militarismus“. Es sind Krankheiten, die sich seit seiner Ermordung am 4. April 1968 in Memphis mit verheerender Geschwindigkeit und Kraft ausgebreitet haben. Und keine Tweets der Institutionen, die von diesen Krankheiten profitieren, werden sie heilen.

Man kann wohl davon ausgehen, dass die meisten Menschen Dr. Kings Worte aus Zitaten oder vom Hörensagen, aus Videoclips, Tweets, Tik-Toks oder Instagram-Postings kennen. Aber nur sehr selten werden seine Gedanken und politischen Formulierungen vollständig wiedergegeben. Wir veröffentlichen deshalb hier Dr. Kings Rede „Die drei Übel“ vollständig, und führen den Lesern damit die tiefgründige und reflektierte Art und Weise vor Augen, in der er über die Ursachen einer allgemeinen Revolte innerhalb der Schwarzen Bewegung – insbesondere unter der Schwarzen Jugend – nachdachte. Das führte ihn schließlich zu der Frage „Was geschieht mit einem unerfüllten Traum?“ Der Protest und der Druck unzufriedener schwarzer Jugendlicher führten King zu der Erkenntnis, dass die Krankheit der Gesellschaft tiefer liegt als nur auf der Ebene lokaler Rechte, und dass sie nicht allein durch das Träumen von etwas Besserem geheilt werden kann. Wir laden Sie ein, die Rede zu lesen und über seine pointierte Analyse der „drei Übel der Gesellschaft“ nachzudenken – und über die „wahre Revolution“, die Dr. King anstrebte und für die er starb.

Die drei Übel der Gesellschaft

Dr. Martin Luther King, Jr.

Herr Vorsitzender, Freunde und Brüder dieser ersten Sitzung der Nationalen Konferenz für Neue Politik, meine Damen und Herren. Selten, wenn überhaupt, ist eine so vielfältige und wahrhaft überkonfessionelle Versammlung unter der Führung der Politik in unserem Land zusammengekommen, und ich möchte der Leitung der Nationalen Konferenz für Neue Politik meine Anerkennung für all ihre großartige Arbeit aussprechen, die diesen bedeutenden Kongress ermöglicht hat. Es liegt in der Natur der Sache, und wir bekräftigen, dass sich am politischen Horizont Amerikas etwas Neues vollzieht.

Wir sind von den staubigen Plantagen tief im Süden und den deprimierenden Ghettos des Nordens hierher gekommen. Wir kommen von den großen Universitäten und den blühenden Vorstädten. Wir sind aus der Armut der Appalachen und aus dem gewissenlosen Reichtum gekommen. Aber wir sind gekommen. Und wir sind hierher gekommen, weil wir die gemeinsame Sorge um die moralische Gesundheit unserer Nation teilen. Wir sind gekommen, weil unsere Augen durch die oberflächliche Pracht und den Glanz unserer Gesellschaft hindurchgesehen und das Kommen des Strafgerichts beobachtet haben. Wie der alte Prophet haben wir die Zeichen der Zeit erkannt. Wir haben gesehen, wie unsere Nation auf der Waage der Geschichte gewogen und für unzulänglich befunden wurde. Wir sind gekommen, weil wir dies als eine dunkle Stunde für die Menschheit erkennen. Für die meisten von uns ist dies eine neue Haltung. Wir sind traditionell die Idealisten. Wir sind die Demonstranten aus Mississippi und Selma und Washington, die in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts ihr Leben für den amerikanischen Traum eingesetzt haben. Viele der hier Versammelten haben sich 1964 leidenschaftlich für Lyndon Johnson eingesetzt, weil wir nicht tatenlos zusehen konnten, wie unsere Nation durch die Politik des Goldwaterismus aus dem 18. Jahrhundert vergiftet wird. Wir waren die hartgesottenen Aktivisten, die zu glauben bereit waren, dass die Südstaatler nach dem Vorbild der Verfassung wieder aufgerichtet werden könnten.

Verhaftung von Dr. Martin Luther King Jr., 1958 in Montgomery, Alabama, wegen “Herumlungerns”, 4.9.1958.
(Foto: Associated Press, Picryl, Public Domain)

Wir träumten den Traum, dass das dunkle Gestern der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen bald in ein helles Morgen der Gerechtigkeit verwandelt werden würde. Jetzt ist es schwer, der Enttäuschung und dem Verrat zu entkommen. Unsere Hoffnungen wurden zerstört und unsere Träume zerschmettert.

Das Versprechen einer großartigen Gesellschaft erlitt vor der Küste Asiens, auf der furchtbaren Halbinsel Vietnam, Schiffbruch. Die Armen, ob schwarz oder weiß, leben immer noch auf einer einsamen Insel der Armut inmitten eines riesigen Ozeans materiellen Wohlstands. Was passiert mit einem unerfüllten Traum? Er führt zu verwirrender Frustration und zermürbender Bitterkeit. Das habe ich im letzten Sommer hier in Chicago am eigenen Leib erfahren. In all den Reden, die ich in den Vereinigten Staaten vor unterschiedlichem Publikum gehalten habe, darunter auch vor einigen feindseligen Weißen, wurde ich nur ein einziges Mal ausgebuht. Und zwar an einem Abend unserer regelmäßigen wöchentlichen Massenversammlungen von einigen wütenden jungen Männern unserer Bewegung.

An diesem Abend ging ich mit einem unguten Gefühl nach Hause. Selbstgefällig dachte ich an meine Leiden und Opfer der letzten zwölf Jahre. Warum wird einer, der ihnen so nahesteht, ausgebuht? Aber ich lag wach, und beim Nachdenken kam ich endlich zu mir. Und ich konnte beim besten Willen nicht weniger Ungeduld und Verständnis für diese jungen Männer aufbringen. Zwölf Jahre lang haben ich und andere wie ich ihnen strahlende Versprechungen über Fortschritte gemacht. Ich hatte ihnen von meinem Traum gepredigt. Ich hatte ihnen von dem nicht allzu fernen Tag gepredigt, an dem sie die Freiheit haben würden, und zwar hier und jetzt. Ich hatte sie gedrängt, an Amerika und an die weiße Gesellschaft zu glauben. Ihre Hoffnungen waren gestiegen. Jetzt buhten sie mich aus, weil sie das Gefühl hatten, dass wir nicht in der Lage waren, unsere Versprechen zu erfüllen. Sie buhten mich aus, weil wir sie aufgefordert hatten, Menschen zu vertrauen, die sich zu oft als treulos erwiesen hatten. Nun lehnten sie uns ab, weil sie mit ansehen mussten, wie sich der Traum, den sie so bereitwillig akzeptiert hatten, in einen frustrierenden Albtraum verwandelte. Diese Situation ist umso bedrohlicher, als die Erwartungen der Menschen in der ganzen Welt wachsen. Das tiefe Grollen, das wir heute hören, das Grollen der Unzufriedenheit, ist das Donnern der enterbten Massen, die sich aus den Kerkern der Unterdrückung zu den hellen Hügeln der Freiheit erheben. Überall auf der Welt breitet sich die Freiheit wie ein Fieber in der größten Befreiungsbewegung der Geschichte aus. Die großen Volksmassen sind entschlossen, die Ausbeutung ihrer Völker und Länder zu beenden. Und in einem majestätischen Refrain singen sie die Worte unseres Freiheitsliedes: „Ain’t gonna let nobody turn around“ („Wir lassen uns von niemandem beirren“, Anm. d. Red.)

Damit ist der Zusammenstoß programmiert. Das Volk schreit nach Freiheit, und der Kongress will die Unterdrückung gesetzlich verankern. Millionen, ja Milliarden werden für den Massenmord bewilligt, aber der kümmerliche Betrag für die Auslandshilfe, für die internationale Entwicklung wird in einer Welle der Reaktion vernichtet. In den schwarzen Ghettos wütet die Arbeitslosigkeit wie während einer großen Depression, aber die parteiübergreifende Antwort ist eher ein Anti-Aufruhr-Gesetz als ein ernsthaftes Programm gegen Armut. Die bescheidenen Vorschläge für Modellstädte, Mietzuschüsse und Rattenbekämpfung, so erbärmlich sie auch anfangs waren, bleiben im Labyrinth der Untätigkeit des Kongresses stecken. Und ich sage Ihnen heute Abend, ein Kongress, der mehr gegen Schwarze als gegen Ratten vorgeht, muss abgesetzt werden.

Es ist, als hätten unsere Gesetzgeber Nero zu ihrem Schutzheiligen erkoren und sind fest entschlossen, tatenlos zuzusehen, wie unsere Städte brennen.

Selbst wenn die Menschen hartnäckig bleiben und gegen alle Widerstände eigene Führungsqualitäten und Selbsthilfeansätze für ihre Probleme entwickeln, wenn sie schließlich das Dickicht der Bürokratie durchdringen, um an die vorhandenen staatlichen Mittel zu gelangen, versucht die korrupte politische Ordnung selbst diesen Ansatz von Hoffnung zu zerstören. Der Fall von CDGM (Child Development Group of Mississippi; Kinderentwicklungsgruppe von Mississippi, Anm. d. Red.) in Mississippi ist das bekannteste Beispiel, aber es ist eine Geschichte, die sich in unserem Land vielfach wiederholt. Unsere eigene Erfahrung hier in Chicago ist besonders schmerzlich. Nach der enthusiastischen Zustimmung der Abteilung für Erwachsenenbildung von H.E. W. begann die SCLC (Southern Christian Leadership Conference; amerikanische Bürgerrechtsorganisation, die für die Rechte von Afroamerikanern eintritt, Anm. d. Red.) ein Alphabetisierungsprojekt für Erwachsene. 1.000 jungen Männern und Frauen, die aus überfüllten Ghettoschulen verdrängt wurden, sollte geholfen werden, als Voraussetzung für einen Job grundlegende [Lese- und Schreib-] Kenntnisse, zu erwerben.

Mit den A&P-Filialen hatten wir eine Vereinbarung über 750 Arbeitsplätze im Rahmen des SCLC-Jobprogramms „Operation Breadbasket“ („Operation Brotkorb“, Anm. d. Red.) geschlossen und in der ersten Woche bereits über 500 Schüler aufgenommen. Doch dann intervenierten die Kongressabgeordneten Paccinski und die Daley-Maschine und verlangten, dass Washington unsere Mittel kürzt oder sie über das von ihnen kontrollierte Armutsprogramm in Chicago leitet. Nun haben wir kein Problem mit einer administrativen Überwachung, aber wir wollen unabhängig sein von der Kontrolle durch die Mechanismen und das Klientel-Netz der Demokratischen Partei. Wegen dieses Wunsches nach einem politisch unabhängigen Herangehen für die Belange unserer Brüder werden unsere Mittel ab dem 15. September gestoppt und ein höchst sinnvolles Programm eingestellt.

aus einem Screenshot von Runaway Slave Ads, Facebook, erstellt am 23.3.2024 – 14:00:44

Ja, es ist eine dunkle Zeit, das Böse kommt im Gewand des Guten daher. Es ist eine Zeit der Doppelzüngigkeit, in der Männer in hohen Positionen von ihrer verlogenen Rhetorik hohen Blutdruck bekommen, aber Blutarmut von praktischer Hilfe. Man schreit gegen die Sozialhilfe für die Armen auf, billigt aber großzügig die Ölförderabgabe, die die Reichen noch reicher macht. Sechs Plantagen in Mississippi erhalten mehr als eine Million Dollar pro Jahr, damit sie keine Baumwolle anbauen, aber für die Ernährung der Pächter, die durch die staatlichen Subventionen arbeitslos werden, ist nichts vorgesehen.

Die Krone der Heuchelei gebührt den entschiedenen Republikanern und Demokraten des Mittleren Westens und des Westens. Sie erhielten Land von unserer Regierung, als sie als Einwanderer aus Europa hierher kamen. Sie erhielten eine Ausbildung an den Land Grant Colleges, sie erhielten Agrarberater, die sie über die landwirtschaftliche Entwicklung aufklärten, und sie erhielten zinsgünstige Kredite, um die Mechanisierung ihrer Betriebe voranzubringen. Und jetzt, da sie erfolgreich geworden sind, werden sie dafür bezahlt, nichts zu produzieren. Diese Leute sagen jetzt zu den Schwarzen, deren Vorfahren in Ketten in dieses Land gebracht und 1863 emanzipiert wurden, ohne dass sie Land zum Bewirtschaften oder Brot zum Essen bekamen, dass sie sich an ihren eigenen Stiefelschlaufen hochziehen müssen. Das, was sie in Wahrheit anstreben, ist Sozialismus für die Reichen und Kapitalismus für die Armen.

Ich wünschte, ich könnte dies für eine vorübergehende Phase in den Lebenszyklen unserer Nation halten, wie Zeiten des Krieges, Zeiten der Reaktion in der ganzen Gesellschaft. Aber ich vermute, dass wir jetzt das Auftauchen einer dreifachen Krankheit erleben, die von Anfang an in unserem politischen Körper gelauert hat. Das ist die Krankheit des Rassismus, des übersteigerten Materialismus und des Militarismus. Es ist nicht nur das Dilemma unserer Nation, es ist die Plage der westlichen Zivilisation. Bereits 1906 prophezeite W. E. B. Dubois, dass das Problem des 20. Jahrhunderts das Problem der Rassentrennung sein würde, und jetzt, da wir zwei Drittel dieser entscheidenden Periode der Geschichte hinter uns haben, wissen wir sehr wohl, dass der Rassismus immer noch der Höllenhund ist, der unserer Zivilisation auf den Fersen ist.

Seit der Geburt unserer Nation hat das weiße Amerika in der Rassenfrage eine schizophrene Haltung eingenommen, es war hin- und hergerissen zwischen zwei Ichs. Einem Selbst, in dem es sich stolz zum großen Prinzip der Demokratie bekennt, und einem Selbst, in dem es wie verrückt die Antithese der Demokratie praktiziert. Diese tragische Dualität hat eine seltsame Unentschlossenheit und Ambivalenz gegenüber dem Neger hervorgebracht, die Amerika veranlasst, bei jedem Schritt vorwärts in der Frage der Rassengerechtigkeit gleichzeitig einen Schritt zurück zu machen; sich gleichzeitig zum Neger hingezogen zu fühlen und von ihm abgestoßen zu werden, ihn zu lieben und zu hassen. Es hat nie einen soliden, einheitlichen und entschlossenen Vorstoß gegeben, um die Gerechtigkeit für die Afroamerikaner zu verwirklichen.

Little Rock, 1959. Kundgebung in der Hauptstadt des Bundesstaates, um gegen die Integration der Central High School zu protestieren. Demonstranten tragen US-Flaggen und Schilder mit der Aufschrift “Rassenvermischung ist Kommunismus” und “Stoppt den Rassenvermischungsmarsch des Antichristen”, 20.8.1959.
(Foto: Library of Congress, Picryl, Public Domain)

Dieser Rückschritt hat heute einen neuen Namen: „White Backlash“ („Weiße Gegenreaktion“, Anm. d. Red.), aber er ist nicht neu. Es sind die alten Vorurteile, Feindseligkeiten und Ambivalenzen, die schon immer da waren. Weder durch den Schrei der Black Power noch durch die bedauerliche jüngste Welle von Unruhen in unseren Städten wurde er ausgelöst. Die heutige Gegenreaktion der Weißen hat ihre Wurzeln im selben Problem, das besteht, seit der schwarze Mann in Ketten an den Ufern Amerikas gelandet ist.

Das heißt nicht, alle weißen Amerikaner seien rassistisch, ganz im Gegenteil. Aus einem tiefen moralischen Antrieb heraus haben viele Weiße lange und hart für Rassengerechtigkeit gekämpft. Und es bedeutet auch nicht, dass Amerika bei dem Versuch, sein Gemeinwesen von der Krankheit des Rassismus zu heilen, keine Fortschritte gemacht habe, oder dass sich das Dogma des Rassismus in den letzten Jahren nicht erheblich verändert hätte. Leider muss man jedoch der Vorstellung widersprechen, die vorherrschende Ideologie in unserem Lande seien auch heute noch Freiheit und Gleichheit, während Rassismus nur eine gelegentliche Ausnahme einiger weniger bigotter Extremisten sei.

Rassismus kann durchaus das zerstörerische Übel sein, das den Schleier über der westlichen Zivilisation zerreißen wird. Arnold Toynbee hat gesagt, dass fast alle der etwa sechsundzwanzig Zivilisationen, die auf der Erde entstanden sind, auf dem Schrotthaufen der Zerstörung gelandet sind. Niedergang und Fall dieser Zivilisationen, so Toynbee, wurde nicht durch äußere Invasion, sondern durch inneren Verfall verursacht. Sie haben es versäumt, kreativ auf die Herausforderungen zu reagieren, die sich ihnen stellten.

Wenn Amerika nicht kreativ auf die Herausforderung der Überwindung des Rassismus reagiert, werden künftige Historiker sagen müssen, dass eine großartige Zivilisation untergegangen ist, weil ihr Seele und Engagement fehlten, Gerechtigkeit für alle Menschen zu verwirklichen.

Der zweite Aspekt unserer kranken Gesellschaft ist der extreme Materialismus. Ein asiatischer Schriftsteller hat unser Dilemma mit klaren Worten beschrieben: „Ihr nennt eure tausend technischen Geräte arbeitssparende Maschinen, aber ihr seid ständig beschäftigt. Mit der Vermehrung eurer Maschinen werdet ihr immer müder, ängstlicher, nervöser und unzufriedener. Was immer ihr habt, ihr wollt mehr, und wo immer ihr seid, wollt ihr woanders hin. Eure Geräte sind weder zeitsparende noch seelenschonende Maschinen. Sie sind viele scharfe Stacheln, die euch dazu drängen, mehr Maschinen zu erfinden und mehr Geschäfte zu machen.“

Diese Aussage über unsere Zivilisation kann man nicht als voreingenommenen Vorwurf eines östlichen Denkers abtun, der auf den westlichen Wohlstand neidisch ist. Wir können uns dieser Anklage nicht entziehen. Und es bedeutet nicht, dass wir die Uhr des wissenschaftlichen Fortschritts zurückdrehen müssen. Niemand kann die Wunder übersehen, die die Wissenschaft in unser Leben gebracht hat. Das Automobil wird nicht zugunsten der Pferdekutsche abdanken, die Eisenbahn nicht zugunsten der Postkutsche und der Traktor nicht zugunsten des Handpfluges. Und wissenschaftliche Methoden können nicht wieder hinter Unwissenheit und Aberglauben zurücktreten.

Aber unser moralischer Rückstand muss aufgeholt werden. Wenn wissenschaftliche Leistung die moralische Kraft übersteigt, enden wir mit gelenkten Raketen und fehlgeleiteten Menschen. Wenn wir törichterweise das Minimum maximieren und das Maximum minimieren, unterschreiben wir den Vertrag für unseren eigenen Untergang. Es ist dieser moralische Mangel in unserer sachorientierten Gesellschaft, der uns für die menschliche Realität um uns herum blind macht und uns zu Gier und Ausbeutung ermutigt. Das schafft Armut inmitten des Reichtums.

Wieder einmal haben wir uns dem Mythos hingegeben, der Kapitalismus wachse und gedeihe aus der protestantischen Ethik von harter Arbeit und Aufopferung. Tatsache ist, dass der Kapitalismus auf der Ausbeutung und dem Leiden schwarzer Sklaven errichtet wurde und weiterhin von der Ausbeutung der Armen lebt – sowohl der Schwarzen als auch der Weißen, sowohl hier als auch im Ausland. Wenn Schwarze und arme Weiße nicht am freien Fluss des Reichtums in unserer Wirtschaft teilhaben, bleiben sie für immer arm. Und während sie ihre Arbeitskraft, ihre Fähigkeiten und ihre begrenzten Mittel dem Markt zur Verfügung stellen, erhalten sie im Gegenzug nur wenige Vorteile und Leistungen dafür.

Der Weg zur Beseitigung der Armut besteht darin, die Ausbeutung der Armen zu beenden und ihnen einen gerechten Anteil an den staatlichen Leistungen und den nationalen Ressourcen zu sichern. Ich habe vor kurzem vorgeschlagen, eine nationale Agentur einzurichten, die jedem, der Arbeit sucht, einen Arbeitsplatz bietet. Nichts ist gesellschaftlich so unverzeihlich wie die Arbeitslosigkeit in unserer Zeit. In den 30er Jahren, als die Nation bankrott war, wurde eine solche Agentur, die WPA (Works Progress Aministration, später Works Projects Administration, Anm. d. Red.), eingerichtet. Unter den heutigen Bedingungen einer Nation, die vor Ressourcen nur so strotzt, ist es barbarisch, Menschen, die Arbeit suchen, zu seelenzehrender Untätigkeit und Armut zu verdammen. Ich bin überzeugt, dass selbst dieser eine, massive Akt der Fürsorge mehr bewirken wird als alle staatlichen Polizeikräfte und Armeen der Nation, um Unruhen und stillen Hass zu beenden.

Die Tragödie besteht darin, dass unsere materialistische Kultur nicht über die nötige Staatskunst verfügt, um dies zu tun. Victor Hugo könnte an das Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts gedacht haben, als er schrieb: „Es gibt immer mehr Elend in den unteren Klassen als Menschlichkeit in den höheren Klassen“.

Es ist an der Zeit, dass Amerika sich der unvermeidlichen Wahl zwischen Materialismus und Humanismus stellt. Wir müssen der Bildung unserer Kinder und der Gesundheit der Armen mindestens so viel Aufmerksamkeit widmen wie der Pflege unserer Autos und dem Bau schöner, beeindruckender Hotels. Ebenso müssen wir erkennen, dass die Probleme der Rassenungerechtigkeit und der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit nicht ohne eine radikale Umverteilung der politischen und wirtschaftlichen Macht gelöst werden können.

Wir müssen außerdem erkennen, dass das Ghetto eine Kolonie im eigenen Land ist. Die Schwarzen müssen Programme entwickeln, die dazu beitragen, dass Macht und Reichtum in die Hände der Ghettobewohner übergehen, dass sie ihr eigenes Schicksal real in die Hand nehmen können. Das ist die Bedeutung der Neuen Politik. Engagierte Menschen in der Gesellschaft müssen die Schwarzen in diesem Bestreben unterstützen.

Die letzte Stufe unserer nationalen Krankheit ist die des Militarismus. Nichts zeigt den Missbrauch der militärischen Macht durch unsere Nation deutlicher als unser tragisches Abenteuer in Vietnam. Dieser Krieg hat das Schicksal der ganzen Welt erschüttert. Er hat das Genfer Abkommen zerrissen, er hat die Vereinten Nationen aufs Schwerste beschädigt, er hat den Hass zwischen den Kontinenten und, schlimmer noch, zwischen den Rassen verschärft. Er hat unsere Entwicklung im eigenen Land behindert, indem er unseren eigenen unterprivilegierten Bürgern gezeigt hat, dass wir unersättliche militärische Forderungen über ihre elementaren Bedürfnisse stellen. Er hat in hohem Maße die Kräfte der Reaktion in Amerika gestärkt und den Militärisch-Industriellen Komplex gefördert. Und er hat Vietnam praktisch zerstört und Tausende von amerikanischen und vietnamesischen Jugendlichen verstümmelt und entstellt zurückgelassen und die ganze Welt der Gefahr eines Atomkriegs ausgesetzt. Vor allem aber hat der Krieg in Vietnam das offenbart, was Senator Fulbright „die Arroganz der Macht unserer Nation“ nennt.

Es ist arrogant, wenn wir sagen, dass wir uns um die Freiheit fremder Nationen sorgen, während wir unser eigenes Haus nicht in Ordnung bringen. Viele unserer Senatoren und Kongressabgeordneten stimmen begeistert für die Bereitstellung von Milliarden von Dollars für den Krieg in Vietnam, und dieselben Senatoren und Kongressabgeordneten stimmen entschieden gegen ein Gesetz über gerechten Wohnungsbau, damit ein schwarzer Vietnamveteran ein anständiges Haus kaufen kann. Wir rüsten schwarze Soldaten aus, um auf fremden Schlachtfeldern zu töten, schützen aber ihre Angehörigen kaum vor Schlägereien und Mord zu Hause im Süden. Im Krieg machen wir einen Schwarzen zu 100 % zum US-Bürger, aber auf amerikanischem Boden ist er nur noch zu 50 % ein Bürger.


Ausschnitt aus Eisenhowers Notizen zu seiner
Abschiedsrede: „military-industrial complex“
In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist. We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes. We should take nothing for granted. Only an alert and knowledgeable citizenry can compel the proper meshing of the huge industrial and military machinery of defense with our peaceful methods and goals, so that security and liberty may prosper together.

„Wir in den Institutionen der Regierung müssen uns vor unbefugtem Einfluss – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potenzial für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet. Wir sollten nichts als gegeben hinnehmen. Nur wachsame und informierte Burger können das angemessene Vernetzen der gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie mit unseren friedlichen Methoden und Zielen erzwingen, so dass Sicherheit und Freiheit zusammen wachsen und gedeihen können.“
Ausschnitt vom 17. Januar 1961 aus der Abschriedsrede des US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower, in der er ausdrücklich vor den Verflechtungen und Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes in den USA warnte (von einem Screenshot aus Wikipedia, erstellt am 23.3.2024 -14:30:05).

Kein Krieg in der Geschichte unserer Nation hat jemals unser Gewissen und unser nationales Interesse so verletzt und unser moralisches Ansehen in der Welt so zerstört. Kein Feind war jemals in der Lage, uns einen solchen Schaden zuzufügen, wie wir ihn uns selbst zufügen.

Der unaufhaltsame Verfall unserer städtischen Zentren hat sich zu einem erschreckenden innenpolitischen Konflikt ausgeweitet, während der Krieg im Ausland unseren Wohlstand und unsere Energie aufsaugt. Elend und Armut prägen unsere Städte, während unsere Militärmacht Städte in einem fernen Land zerstört, um die Oligarchie zu stützen und sich in innenpolitische Konflikte einzumischen. Der Präsident, der den Konsens für den Frieden hochhält, hat als Antwort auf den Ruf, den Krieg zu beenden, diesen verschärft.

Er hat es spöttisch auf eine Minute Flugzeit von China bis zu einem Moment vor Mitternacht des Weltenbrandes gebracht. Man präsentiert uns eine Kriegssteuer statt eines Plans für den Frieden. Männer der Vernunft sollten nicht länger über die Vorzüge des Krieges oder die Mittel zur Finanzierung des Krieges debattieren. Sie sollten den Krieg beenden und wieder Vernunft und Menschlichkeit in die amerikanische Politik bringen. Und wenn der Wille des Volkes weiterhin nicht beachtet wird, müssen alle Menschen guten Willens eine Situation schaffen, in der die Jahre 1967-68 zu einem Referendum über den Krieg werden. Das amerikanische Volk muss die Möglichkeit haben, diejenigen, die uns führen und die sich nicht vom Militarismus lösen können, in die Bedeutungslosigkeit abzuwählen.

Wir sind also hier, weil wir glauben, hoffen und beten, dass im politischen Leben dieser Nation etwas Neues entstehen kann, etwas Neues, das einen neuen Menschen, neue Strukturen und Institutionen und ein neues Leben für die Menschheit hervorbringen wird. Ich bin überzeugt, dass dieses neue Leben erst dann entstehen wird, wenn unsere Nation eine radikale Revolution der Werte erlebt. Solange Maschinen und Computer, Profitstreben und Eigentumsrechte als wichtiger angesehen werden als der Mensch, können die gigantischen Drillinge von Rassismus, wirtschaftlicher Ausbeutung und Militarismus nicht besiegt werden. Durch einen moralischen Bankrott kann eine Zivilisation ebenso untergehen wie durch einen finanziellen.

Eine wahre Revolution der Werte wird uns bald dazu bringen, Fairness und Gerechtigkeit vieler unserer vergangenen und gegenwärtigen Politiken in Frage zu stellen. Wir sind aufgerufen, den barmherzigen Samariter am Straßenrand zu spielen, aber das kann nur ein erster Schritt sein. Eines Tages muss die gesamte Straße von Jericho umgestaltet werden, damit Männer und Frauen auf ihrem Weg durchs Leben nicht mehr geschlagen und ausgeraubt werden. Wahres Mitgefühl ist mehr, als einem Bettler eine Münze zuzuwerfen, es versteht, dass ein Gebäude, das Bettler hervorbringt, erneuert werden muss.

Eine echte Werte-Revolution wird bald mit Befremden auf den krassen Gegensatz von Armut und Reichtum blicken, sie wird mit rechter Empörung auf die Tausenden von Arbeitnehmern blicken, die von ihren Arbeitsplätzen verdrängt werden, deren Einkommen durch die Automatisierung sinken, während die Gewinne der Arbeitgeber unangetastet bleiben. Und sie wird sagen: Das ist nicht gerecht.

Sie wird über den Ozean blicken und sehen, wie einige Kapitalisten des Westens riesige Geldsummen in Asien und Afrika investieren, um dann die Gewinne ohne Rücksicht auf das soziale Wohlergehen der Länder wieder abzuziehen. Und sie wird sagen: Das ist nicht gerecht.

Sie wird sich unser Bündnis mit den Großgrundbesitzern Lateinamerikas ansehen und sagen: Das ist nicht gerecht.

Eine echte Revolution der Werte wird sich die Weltordnung ansehen und sagen: Diese Art der Konfliktlösung ist nicht gerecht.

Menschen mit Napalm zu verbrennen, die Häuser unserer Nation mit Waisen und Witwen zu füllen, giftige Drogen des Hasses in die Adern von Völkern zu spritzen, die im Grunde höchst menschlich sind, Männer von dunklen und blutigen Schlachtfeldern körperlich versehrt und psychisch gestört nach Hause zu schicken, lässt sich nicht mit Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe vereinbaren.

Eine Nation, die Jahr für Jahr mehr Geld für die militärische Verteidigung als für soziale Programme ausgibt, geht dem geistigen Untergang entgegen.

Wir alle müssen also erkennen, dass wir uns überall auf der Welt in revolutionären Zeiten befinden, dass die Menschen sich gegen die alten Ausbeutungssysteme auflehnen, und dass aus dem Schoß einer schwachen Welt neue Systeme der Gerechtigkeit und Gleichheit geboren werden. Die Zerlumpten und Barfüßigen der Erde erheben sich wie nie zuvor. Die Menschen, die in der Dunkelheit saßen, haben ein großes Licht gesehen. Wir im Westen müssen diese Revolutionen unterstützen. Aber es ist eine traurige Tatsache: Durch Bequemlichkeit, Selbstgefälligkeit, einer krankhaften Angst vor dem Kommunismus und der Neigung, uns an Ungerechtigkeiten anzupassen, sind die westlichen Nationen, die einst so viel vom revolutionären Geist der modernen Welt initiiert haben, nun zu den Erzgegnern von Revolutionen geworden.

Viele hat dies zu der Ansicht veranlasst, dass nur der Marxismus den revolutionären Geist besitzt. In gewissem Sinne ist der Kommunismus ein Urteil über unser Versagen, die Demokratie zu verwirklichen und die von uns angestoßenen Revolutionen zu Ende zu führen. Unsere einzige Hoffnung liegt heute in unserer Fähigkeit, den revolutionären Geist wiederzuerlangen und in eine zuweilen feindliche Welt hinauszugehen, um der Armut, dem Rassismus und dem Militarismus ewigen Widerstand entgegenzusetzen. Mit dieser kraftvollen Verpflichtung werden wir den Status quo und ungerechte Traditionen mutig in Frage stellen und dadurch den Tag herbeiführen, an dem jedes Tal erhöht und jeder Berg und Hügel erniedrigt wird und die krummen Stellen gerade und die rauen Stellen eben werden.

Das Grab von Martin Luther King in Atlanta, Juli 2007.
(Foto: Hans Schönverrückt, Wikimedia Commons, CC0)

Abschließend möchte ich sagen, dass die Männer und Frauen in unserer Nation heute mehr denn je kreativ unangepasst sein müssen. Herr Davis sagte, und ich sage Ihnen, dass ich mich entschlossen habe, zu den Unangepassten zu gehören. Wie mein guter Freund Bill Coffin sagte, gibt es Leute, die mich und viele von Ihnen kritisiert haben, weil wir gegen den Vietnamkrieg Stellung bezogen haben, und weil wir versucht haben, der Nation zu erklären, dass die Fragen der Bürgerrechte nicht von der Frage des Friedens getrennt werden können.

Heute Abend sage ich Ihnen, dass ich diese Themen zusammen betrachten werde, weil sie zusammen gehören. Irgendwann müssen wir erkennen, dass Gerechtigkeit unteilbar ist, dass Ungerechtigkeit überall eine Bedrohung für die Gerechtigkeit ist. Zu lange und zu hart habe ich gegen getrennte öffentliche Unterkünfte gekämpft, um an diesem Punkt in meinem Leben stehen zu bleiben und meine moralischen Bedenken über Bord zu werfen.

Lassen Sie uns also in dieser Versammlung in dem Wissen bleiben, dass bei bestimmten Positionen die Feigheit die Frage stellt, ob es sicher ist; die Zweckmäßigkeit fragt, ob es politisch ist; die Eitelkeit fragt, ob es populär ist, aber das Bewusstsein stellt die Frage, ob es richtig ist. Und bei manchen Positionen ist es für den moralischen Menschen notwendig, einen Standpunkt einzunehmen, der weder sicher, noch politisch, noch populär ist; aber er muss es tun, weil es richtig ist. Und wir sagen unserer Nation heute Abend, wir sagen unserer Regierung, wir sagen sogar unserem FBI, dass wir uns nicht schikanieren lassen, dass wir unser Gewissen nicht unterdrücken werden, dass wir uns nicht einschüchtern lassen und dass wir gehört werden wollen.

Abschrift der Grundsatzrede auf der „National Conference on New Politics“, Chicago, Illinois, 31. August 1967.


Martin Luther King

Martin Luther King Jr. war ein US-amerikanischer Baptistenpastor und Bürgerrechtler und gilt als einer der herausragendsten Vertreter im gewaltfreien Kampf gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit und war zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre der bekannteste Sprecher des Civil Rights Movement, der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner. Er propagierte den zivilen Ungehorsam als Mittel gegen die politische Praxis der Rassentrennung (Racial segregation) in den Südstaaten der USA mit religiösen Begründungen und nahm an entsprechenden Aktionen teil.