Florence Gaub bei Markus Lanz: Vielleicht sind Russen ja doch auch Europäer?
Dieser Artikel erschien in der
Der völkerkundliche Ausritt der Politologin Florence Gaub jüngst bei Markus
Lanz war, na ja, kritikwürdig. Ein paar politisch inkorrekte Gedanken dazu.
Der Unterhaltungskünstler Gordon Sumner, genannt Sting, lebte Mitte der 1980er
in New York. Bei einem Freund, der sowjetisches Fernsehen empfangen konnte, lief
das Moskauer Kinderprogramm. Die Sendung sei sehr liebevoll gemacht gewesen,
schwärmte Sting später. Er habe sich deren Schöpfer unmöglich so vorstellen
können, wie UdSSR-Insassen im Westen bisweilen gezeichnet wurden – „als
graue, untermenschliche Automaten, die nur gut genug waren, um sie in die Luft
zu jagen“. Aus diesem Eindruck entstand „Russians“, ein Song über das
Gleichgewicht des Schreckens und die Hoffnung, dass auch auf der anderen Seite
mindestens ein Herz für Kinder schlägt: But what might save us, me and you/ is
if the Russians love their children too.
Die Expertin antwortete nicht das Übliche
Schön, nicht? So, nun die schlechte Nachricht: Das Gesummsel könnt ihr
vergessen. Zwar sympathisieren auch die Bürger der Russischen Föderation mit
ihren Leibesfrüchten, das schon. Ein wenig. Aber nicht zu sehr. Eltern
russischer Soldaten etwa verfolgen das Schicksal ihrer gen Kramatorsk
kampfhubschraubernden Söhne entspannter als die Helikoptermutter vom
Kollwitzplatz den Schulweg ihres talentierten Theobald.
Das ist nicht meine Idee. Diesen Schluss ziehe ich aus einem völkerkundlichen
Ausritt der Politologin Florence Gaub jüngst bei „Markus Lanz“. Dessen
Frage war, warum es an Putins Heimatfront kaum Proteste gegen den Angriffskrieg
gebe. Die Expertin antwortete nicht das Übliche – also, dass die Untertanen
indoktriniert seien und bei Widerworten hinter Gittern landeten. Sondern: „Wir
dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, es keine
Europäer sind, jetzt im kulturellen Sinne“, dass sie „einen anderen Bezug
zu Gewalt, zum Tod haben“. Es gebe „nicht diesen liberalen postmodernen
Zugang zum Leben als ein Projekt, was jeder für sich individuell gestaltet“.
Man habe dort eine eher geringe Lebenserwartung: „Dann geht man einfach anders
damit um, dass da halt Menschen sterben.“ Die Hinterbliebenen reagieren halt
– ich spitze sachte zu – etwas stumpf.
Die Lebenserwartung in der Ukraine liegt ein Jahr unter dem russischen Wert
Es geht also um den Russen an sich. Obwohl sich drei Viertel seines
Volkskörpers auf dem Kulturkontinent befinden, passt er irgendwie nicht dazu.
Wie das klingt. In einer deutschen Talkshow. Ich meine, es ist schon eine Weile
her, dass hierzulande ähnliche Töne vor großem Publikum angeschlagen wurden.
Mir steht es nicht zu, das Urteil der Fachfrau über die spezifische
Rustikalität östlich siedelnder Ethnien anzuzweifeln. Sie ist Vizedirektorin
des EU-Instituts für Sicherheitsstudien. Ich bin nur ein Schmierschmock und
folge der Wissenschaft selbst dann, wenn sie mir vorkommt wie die Kunst der
Feindbildhauerei.
Eine Frage noch: Die Lebenserwartung in der Ukraine liegt ein Jahr unter dem
russischen Wert. Bedeutet das, dass den Einwohnern von Mariupol der Tod ihrer
Nachkommen und Nachbarn tendenziell noch etwas schnurzer ist als den Russen die
Opfer unter ihren Tätern? Im Gegenzug kann ich der in Paris wirkenden Dr. Gaub
mit ostdeutscher Regionalkenntnis dienen: Obwohl die Leute dort extrem
europäisch aussehen, scheinen mir postmoderne Lebenszugänge auch in der
Magdeburger Börde schwächer entwickelt. Aber immerhin, die Toten werden
individuell bestattet. Das passiert sogar in Vorpommern. Ich war selbst dabei
und sah graue Automaten weinen. Vielleicht haben sie Gefühle.
Zusatzinformation vom Betreiber der Seite
Die betreffende Passage ist hier als Tondokument anhör- und
downloadbar: