Von BASSAM TIBIIllustrationen LAURA BREILINGStaaten zerfallen, die Jugend hat keine Perspektive: Diese wahren Fluchtursachen können weder Berlin noch Brüssel beheben. Die Folgen für die innere Sicherheit sind dramatisch Die Flucht nach Europa hat viele Gründe. Zwei Ursachen sind jedoch zentral, der Staatszerfall im Nahen Osten und in Afrika und die hiermit verbundenen Youth Bulges, demografische Blasen durch einen massiven Anstieg des jungen Bevölkerungsanteils. Angela Merkel verkündet neuerdings, sie wolle die Fluchtursachen bekämpfen, nachdem sich ihr Slogan „Wir schaffen das!“ zerschlagen hat. Wie seriös aber ist der Anspruch, Fluchtursachen von Berlin aus, womöglich gemeinsam mit Brüssel, eliminieren zu können? Die zweite Ursache, die Verjüngung der Bevölkerung parallel zu Armut und demografischer Explosion im Rahmen von Youth Bulges, ist ein Unruhefaktor im Nahen Osten, in Asien und Afrika, den keiner in den Griff bekommen kann. Mit der außer Kontrolle geratenen Zuwanderung gelangen solche Youth Bulges nach Deutschland. Jugendbanden aus Eritrea, dem Nahen Osten und Zentralasien gehören inzwischen zur Realität der Innenstädte hierzulande. Im Jahr 2000 erschien das „Harenberg Staatenlexikon“ mit dem Untertitel „Die Geschichte aller Staaten im 20. Jahrhundert“. Das Standardwerk endet mit einem Essay aus meiner Feder über „Die Gefahr des Zerfalls der Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert“. Die Prognose von damals wurde mittlerweile Realität. Mein Heimatland Syrien ist hierfür ein Paradebeispiel. Aus diesem etwa 25 bis 30 Millionen Einwohner starken Land sind nach dem Staatszerfall bisher rund zwölf Millionen Menschen innerhalb des Landes, dann innerhalb der Region des Nahen Ostens und schließlich global in aller Welt auf der Flucht, besonders nach Europa. Ähnliches gilt für Libyen, aus dem sich jedoch selten Libyer der acht bis zehn Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung aufmachen, um mithilfe krimineller Banden übers Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Aus Libyen kommen in der Regel Subsahara-Afrikaner vom gesamten Kontinent, überwiegend aus Somalia, Eritrea und dem islamischen Westafrika nach Europa. Bis Mitte 2015 flüchteten Syrer vor allem in den Libanon, in die Türkei oder nach Jordanien. Seit der Verkündung Merkels, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen, wissen Syrer über ihre elektronischen Kommunikationsmedien von der Willkommenskultur des gelobten Sozialstaats Deutschland, wohin nun fast alle aus aller Welt wollen. Diesen deutschen Sonderweg will die Bundesregierung auf recht selbstherrliche Weise anderen Europäern im Namen vermeintlicher Solidarität aufzwingen. Wer sich verweigert, wird des Populismus bezichtigt. Frankreich nimmt Flüchtlinge nur bis zu einer Obergrenze von 30 000 Flüchtlingen auf, Deutschland hingegen anderthalb Millionen Menschen allein im Jahr 2015. IN DEN MEISTEN LÄNDERN im Nahen Osten und in Afrika gibt es ethnisch-religiöse beziehungsweise tribale Fragmentierungen der Bevölkerung. Wenn diese demografische Zergliederung in Staaten ohne Staatsvolk auf einen Staatszerfall trifft und eine demografische Explosion hinzukommt, begeben sich Menschen auf die Flucht. Die Youth Bulges resultieren aus einer Verjüngung der Bevölkerung, woraus eine Generation von Jugendlichen um die 14 Jahre entsteht, für welche die Gesellschaft weder Platz noch Perspektive bietet. Von meinen Forschungsreisen zwischen 1980 und 2010 in viele afrikanische und arabische Länder ist mir der Anblick von grimmigen Jugendlichen vertraut, die nichts zu tun haben und in den Straßen der Innenstädte herumvagabundieren. So etwas habe ich in Europa bis 2015 außer in den Pariser „Banlieues de l’Islam“ (Gilles Kepel) nicht gesehen. Seit 2015/16 hat sich die Situation in den meisten deutschen Städten verändert. Im kleinen Göttingen ebenso wie im großen München, Hamburg, Köln und Frankfurt sehe ich eritreische, somalische, arabische, afghanische Jugendliche, die aggressiv auf sich aufmerksam machen und als „trouble makers“ auftreten, so wie sie es vor der Flucht auch in ihren Herkunftsländern taten. Diese Entwicklung wird massive negative Folgen haben, wenn es dem deutschen Staat nicht gelingt, diese Jugendlichen von den Straßen zu holen, ihnen eine sinnvolle Aufgabe zu übertragen und Lebenssinn zu geben. Damit aber ist der deutsche Staat überfordert. Daran muss er scheitern. Als ich Syrien im Jahr 1962 als 18-Jähriger verließ, umfasste die Bevölkerung zwischen drei und vier Millionen Menschen. Sie wird heute von der Weltbank mit 20 Millionen Menschen beziffert. In der Realität dürfte es zwischen 25 und 30 Millionen Syrer geben, von denen sich circa zwölf Millionen auf der Flucht befinden. 30 bis 35 Prozent dieser Syrer sind Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, tragen also zu den Youth Bulges bei. Meine sunnitischen Eltern in Damaskus hatten panische Angst vor der Kriminalität dieser jugendlichen Gangs und deshalb keine Bedenken, dass ein alawitischer Geheimdienstoffizier des Assad-Re-gimes das Erdgeschoss unseres Hauses bewohnte. Das bedeutete Schutz für meine Eltern. Ein Teil der Jugendbanden aus Aleppo und Damaskus befindet sich heute in Deutschland als Folge der sogenannten Willkommenskultur. Man darf das nicht tabuisieren. Der Eritreer Alem Tedla, der in Deutschland als Zuwanderer lebt, hat in seinem Buch „Friedenskodex“, erschienen im Selbstverlag, über die Youth Bulges geschrieben. Er bemerkt dazu: „Europa hat dieses Thema verschlafen.“ Alem Tedla führt Statistiken an über die größten Staaten der Youth Bulges, der „Jugendblasen“, wie er sie nennt. Unter den Top-Staaten mit den größten Youth Bulges befinden sich vorrangig Länder aus Afrika und dem Nahen Osten. Es ist berechtigt, von der Gefahr demografischer Lawinen aus diesen Youth Bulges zu sprechen, die Europa zerstören könnten. Dies hat mit Asyl und mit Flucht wenig zu tun. Warum aber hat Europa das Problem verschlafen? Warum liefern denn Soziologen keine Diagnosen hierfür, so wie etwa in der Medizin Unterschiede zwischen Krankheiten untersucht werden? Migrationsforscher leiden an einer Kurzsichtigkeit für soziale und kulturelle Ursachen, und sie haben Angst davor, des Rassismus bezichtigt zu werden. Der Eritreer Tedla und ich als Syrer sind von dieser Angst frei. Wir beide sprechen von den Youth Bulges als einer großen Gefahr für den inneren Frieden auch in Deutschland. Jugendbanden
aus Eritrea, dem Nahen Osten und Zentralasien gehören zur
Realität hierzulande
VERGESSEN WIR NICHT: Im Rahmen der Entkolonialisierung bildeten sich Staaten im Nahen Osten und in Afrika. Nation Building war das Ziel, moderne politische Ordnungen sollten entstehen. Nehmen wir noch einmal Syrien als Beispiel. Einen syrischen Staat hat es in der Geschichte nie gegeben. Damaskus war zwar die Metropole der ersten imperialen Ordnung des Islam, der Umayyaden-Dynastie von 661 bis 750, aber das heutige Syrien ist eine Schöpfung der französischen Kolonialzeit. Damaskus wiederum war eine Entität für sich. Die französischen Kolonialherren haben in Syrien ein Gebilde konstruiert, aus dem nominal ein Nationalstaat hervorging, das aber jeder Substanz der staatlichen Institution des Nationalstaats entbehrt. Nationalstaaten im Nahen Osten sind ein europäisches Transplantat in einer fremden Umwelt. Meine eigene kulturelle Identität hat mit Syrien nichts zu tun. In Damaskus habe ich gelernt, mich als ein Schami, ein Damaszener, und nicht als ein Syrer zu definieren. Was ist dann Syrien überhaupt? Einer der größten Syrienhistoriker, Philip Khoury vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, Massachusetts, hat zusammen mit dem inzwischen verstorbenen israelischen Historiker Joseph Kostiner in den späten achtziger Jahren das MIT-Harvard-Forschungsprojekt „Tribes and State Formation in the Middle East“ geleitet, dessen Ergebnisse 1990 in Buchform unter dem Titel des Projekts bei California University Press erschienen sind. Es ist heute ein Standardwerk, um den Staatszerfall im Nahen Osten zu analysieren. Als Mitglied dieses Projekts habe ich den von Ernst Bloch übernommenen Begriff „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ herangezogen, um das Nebeneinander von Stämmen und modernen Nationalstaaten im Nahen Osten zu charakterisieren. Einmal kam der ägyptische Botschafter Tahseen Bashir zu unserem Projekt und brachte uns die islamische Formel von den „Tribes with National Flags“ näher - eine zwar unwissenschaftliche Kategorie, mit der man jedoch bestens die nahöstliche Realität von Stämmen, die eine Nationalflagge tragen, beschreiben kann. Die Formel „Stämme mit Nationalflaggen“ gilt für Libyen mehr als für Syrien, weil es dort Dutzende von Stämmen, aber kein libysches Volk gibt. Somalia ist ein solches Land mit nomadischen Stämmen, aber ohne Volk. Viele dieser Nomaden sind Analphabeten, können aber ein Smartphone bedienen, sodass Tausende von ihnen von Angela Merkels Ankündigung, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen, erfahren und den Weg nach Deutschland als Flüchtlinge angetreten haben. Ich kenne persönlich Hunderte aus dieser Community in deutschen Städten. In Libyen gibt es wie in Somalia nur noch formal eine Regierung, aber keinen Staat mehr. Es existieren heute in Libyen etwa 125 tribale, schwer bewaffnete Milizen, die Milliarden an der Flucht aus dem Land verdienen. Niemand, noch nicht mal der amerikanische Präsident und erst recht nicht die Bundeskanzlerin, kann diese zerfallenen Staatsgebilde unter Kontrolle bringen. Ich empfand es als schlechten Witz, als Bundesinnenminister Thomas de Maiziere einmal sagte, „wir müssen den Flüchtlingsstrom aus Afrika über Libyen dadurch kontrollieren, dass wir Ordnung in Libyen herstellen“. So können nur uninformierte Politiker reden. Das zentrale Problem besteht darin, dass sich bis auf zwei Staaten in der arabischen Welt, nämlich Ägypten und Marokko, nirgends historisch gewachsene stabile staatliche Strukturen entfaltet haben. Somit fehlt es diesen nominellen Staaten an „Statehood“. Diesen Begriff mit „Staatlichkeit“ zu übersetzen, ist nicht zutreffend, weil das Original viel mehr meint als nur Staatlichkeit. IN EINEM NOMINELLEN Nationalstaat, der nicht unbedingt modern sein muss, fehlt es an staatlichen Strukturen in der Politik und in der Gesellschaft, die als Muster für eine nationale Identität dienen können. Ressourcenkämpfe gibt es überall in der Welt. Wenn diese aber in einem nominellen Staat ohne Gemeinwesen stattfinden, handelt es sich um Ressourcenkämpfe zwischen Clans beziehungsweise zwischen religiösen und ethnischen Kollektiven; diese Kämpfe fragmentieren den nominellen Staat und tragen zu seinem Zerfall bei. Libyen und Syrien haben kein Gemeinwesen. Deswegen finden die Ressourcenkämpfe in Syrien zwischen Sunniten und Alawiten und in Libyen unter den zahlreichen Stämmen statt. Nach der westlichen Denkweise soll die Unterentwicklung primär aus ökonomischen Ursachen resultieren. Doch gibt es neben dem politischen den ebenso wichtigen kulturellen Wandel. Samuel P. Huntington hat in seinem eminent wichtigen Buch „Political Order in Changing Societies“ schon 1969 den Prozess der Institutionenbildung in Asien und Afrika als eine Institutionalisierung der politischen Strukturen definiert. Staaten, die in Bezug auf ihre Statehood schwach entwickelt und für Staatszerfall anfällig sind, haben eine schwache Stufe von Institutionalisierung, die auch damit zusammenhängt, dass sie nur nominelle Nationalstaaten sind. Die Staatlichkeit bleibt ein Transplantat aus dem Westen; sie ist brüchig und anfällig für Zerfall. Politiker erzählen,
sie könnten die Integration untereinander verfeindeter Menschen bewältigen
An vier Beispielen lässt sich heute empirisch einwandfrei darlegen, dass der nominelle nationale Staat in der Mena-Region (im Mittleren Osten und Nordafrika) zusammengebrochen ist: Syrien, Irak, Libyen und Jemen. In Afrika ist dieser Prozess weitaus dramatischer, weil dort die Institutionalisierung von Staatlichkeit schwächer ist als in der arabischen Welt. Paradebeispiel für den extremen Zerfall eines Nationalstaats ist das bereits angeführte Somalia, wo es faktisch seit dem Sturz der Diktatur von Siad Barre 1991 keinen Staat mehr gibt. Seitdem kämpfen dort in einem endlosen Prozess die etwa 13 größten Stämme um die Macht. Alle Versuche, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, scheiterten. Auch externe militärische Interventionen durch die Vereinten Nationen, die USA, Äthiopien und Kenia haben die Lage nur verschlimmert. In einer Vorstadt Stockholms leben bis heute unverändert Zehntausende somalische Nomaden im modernen Staat Schweden. Sie sind Nomaden geblieben. Ihre Integration zu neuen Schweden ist genauso eine Floskel wie die Integration vieler Flüchtlinge in Deutschland zu „neuen Deutschen“, wie sie der politische Theoretiker Herfried Münkler und seine Ehefrau, die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, in ihrem fragwürdigen Buch „Die neuen Deutschen“ predigen. Auch in Göttingen kenne ich mehrere liebenswerte und kinderreiche Familien somalischer Nomaden, mit denen ich auf Arabisch kommunizieren kann und die nach Jahren in Göttingen weder Deutsch sprechen noch die urbane Kultur annehmen. Sind das die „neuen Deutschen“, die das Ehepaar Münkler konstruiert? Die Bekämpfung von Fluchtursachen vor Ort durch den Westen ist eine pure Illusion jener Politiker, die kein Wissen über den Gegenstand haben. Die tribal und religiös motivierten Ressourcenkonflikte, die sich nach dem Zerfall von staatlichen Strukturen dramatisieren, resultieren in Protracted Conflicts, in anhaltenden, ausdauernden Konflikten. Diese werden gewaltförmig und veranlassen Menschen, eine durch Schleuserbanden organisierte Flucht nach Europa zu riskieren. Foto: Antje Berghäuser Der neue Bestseller von Martin Suter 352 Seiten, Leinen, € (D) 24.-Auch als eBook & Hörbuch Die Entkolonialisierung der fünfziger und sechziger Jahre in Asien und Afrika erforderte die Bildung von Staaten aus den ehemaligen Kolonien. Diese Staatenbildung war die Voraussetzung dafür, in das bestehende internationale System souveräner Staaten integriert zu werden. Nation Building bedeutete für die ehemalige britische Kolonie Nigeria die Bildung einer staatlichen Entität von Hausa-, also muslimischen Nordstämmen, von Yoruba- und Ibo-Stämmen und rund 60 weiteren kleineren Stämmen zu einer nigerianischen Nation. Diese Nation existiert jedoch nur auf dem Papier. Nation Building ist gescheitert, Staaten zerfallen, es gibt hohe Geburtenraten, die die Youth Bulges und schließlich die Flucht bedingen. All dies hat gar nichts mit politischem Asyl zu tun. Schlicht und einfach kann man sagen, dass aus diesen Entwicklungen Protracted Conflicts hervortreten. Das klassische Beispiel hierfür ist Somalia, wo der Konflikt seit 1991 anhält. Die Flüchtlinge bringen diese Konflikte mit sich nach Europa. Es ist Selbsttäuschung, wenn Politiker uns erzählen, sie könnten die Integration religiös, ethnisch und tribal untereinander verfeindeter Menschen bewältigen. Der Staatszerfall in Asien und in Afrika resultiert folglich aus einem Mix von sozialen, demografischen, politischen und ökonomischen Faktoren mit Konfliktpotenzialen auf interner und externer Ebene. Externe Mächte, die USA, die EU und Russland, verfügen nicht über die Instrumente, um dem Staatszerfall Einhalt gebieten zu können. Um anhaltende Konflikte in den Griff zu bekommen, müssten Lösungen für folgende Problembereiche gefunden werden: Erstens müssten verfeindete religiöse Gemeinschaften, beispielsweise Sunniten und Schiiten im Irak, Syrien und Jemen, und verfeindete Stämme, beispielsweise in Somalia, Nigeria und Libyen, pluralistische Gemeinwesen bilden oder in einer politischen Föderation zusammengebracht werden. Und zweitens braucht es eine Antwort auf das explodierende Bevölkerungswachstum, auf die rapide Verjüngung und auf die Entstehung einer No-future-Generation durch die Youth Bulges. Beide Aufgaben werden im Rahmen dessen, was die Politik als Bekämpfung der Fluchtursachen ausgibt, nicht bewältigt. Wie lange aber kann es Europa verkraften, ein Fluchtort zu sein für Millionen Menschen, die aus Ländern mit Staatszerfall und Youth Bulges kommen? BASSAM TIBI war Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen und ist Islamologe und Nahostexperte Cicero - 02.2017 |