Warum leisten wir uns keine Gerechtigkeit?

Von Karl-Heinrich Holstein (verfasst um 1998)1

Es ist unübersehbar: Seit Helmut Kohls Amts­an­tritt vor 16 Jahren wächst der Abstand zwi­schen Arm und Reich. Die sozi­ale Kluft wird grö­ßer. Die Rei­chen wer­den rei­cher - die Armen zahl­rei­cher. Schon über vier Mil­lio­nen Men­schen leben von der Sozi­al­hilfe. Vor zehn Jah­ren waren es nicht ein­mal halb so viele. Ande­rer­seits ist der Anteil der Deu­tschen unter den hun­dert Reich­sten der Welt gestie­gen. Inzwi­schen gehö­ren schon 25 Deu­tsche zu dieser Geld-Elite. Die oberen zehn Prozent der Bevöl­ke­rung besit­zen über die Hälfte des Geld­ver­mö­gens von ins­ge­samt 4 Bil­lio­nen Mark. Ein Betrag, mit dem Herr Wai­gel fast die gesam­ten Staats­schul­den gleich zwei­mal zurück­zah­len könnte. Über 110 000 Mil­lio­näre und 85 Mil­liar­däre gibt es inzwi­schen in Deutsch­land. Sie können sich bei Helmut Kohl bedanken.

Die Gesell­schaft zer­fällt vor allem in den Groß­städten, wo die Mie­ten hoch sind und auch sonst das Leben teuer ist. Rund 20% der Bürger leben bereits an oder unter der Armuts­grenze. Selbst im rei­chen Hamburg muß schon jeder achte Bürger zum Sozi­al­amt gehen. Rund 1 Mil­lion Men­schen hau­sen in Deutsch­land in Not­un­ter­künf­ten. Wie kommt es dazu? Wie konnte der Sozi­al­hil­fe­boom über­haupt ent­ste­hen? Sind die sozi­a­len Siche­rungs­sy­steme - von der Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung über die Kran­ken- und bis zu den Ren­ten­kas­sen - nicht gerade des­halb geschaf­fen worden, um das Abrut­schen von Mil­li­o­nen in die Sozi­al­hilfe zu ver­hin­dern? Immer­hin wer­den über die Sozi­al­sy­steme rund 1,2 Bil­lio­nen Mark ver­teilt. Sta­ti­stisch ent­spricht das einer Umver­tei­lungs­summe von 15 000 Mark pro Person und Jahr. Die Bürger müssen dafür jede dritte Mark, die sie verdienen, locker­ma­chen.

Die nahe­lie­gende Erklä­rung, schuld daran sei die Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit, greift zu kurz. Denn die Zahl der Sozi­al­hil­fe­em­pfän­ger ist in den ver­gan­ge­nen Jahren selbst dann gestie­gen, wenn die Zahl der Arbeits­lo­sen zurück­ge­gan­gen war. Es muß also noch andere, tie­fer­sit­zende Ursa­chen geben. Spürt man ihnen nach, so stößt man auf mas­sive Umver­tei­lungs­ef­fekte von unten nach oben. Die bit­ter­böse Wahr­heit ist dabei auch, daß aus­ge­rech­net unser „Sozi­al­staat” die Ungleich­hei­ten nicht redu­ziert, son­dern ver­schärft. Und zwar in dop­pel­ter Weise: Sowohl die Finan­zie­rungs- wie die Lei­stungs­seite des Sozi­al­bud­gets wei­sen krasse Ver­tei­lungs­asym­me­trien zu Lasten der öko­no­misch Schwä­che­ren auf. Auf der Finan­zie­rungs­seite ist dies rela­tiv ein­fach fest­zu­stel­len: Das Sozi­al­bud­get wird zu einem Drit­tel durch Steu­ern finan­ziert und zu zwei Drit­teln von den Bei­trags­zah­lern. Unser Steu­er­sy­stem ist aber ver­lo­gen und unge­recht. Je höher nämlich das Ein­kom­men ist, um so grö­ßer wird die Palette der Abschrei­bungs­mög­lich­keiten und Steu­er­spar­mo­delle, mit denen man legal Steu­ern ver­mei­den kann. So liegen die Durch­schnitts­sätze von Spit­zen­ver­die­nern und ehr­li­chen Durch­schnitts­ver­die­nern dann eng bei­sam­men (bei etwa 32%). Die steu­er­fi­nan­zier­ten Sozi­al­lasten wer­den also unwei­ger­lich über­pro­por­tio­nal von den klei­nen Leu­ten getra­gen. Noch schlim­mer sieht die Finan­zie­rung aber aus­ge­rech­net in unse­ren soge­nann­ten Soli­dar­sy­ste­men - der Ren­ten-, Arbeits­lo­sen- und Kran­ken­ver­si­che­rung - aus. Denn bei der Bei­trags­fi­nan­zie­rung gibt es weder Frei­be­träge für nie­drige Ein­kom­men noch einen pro­gres­si­ven Tarif­ver­lauf, wie bei der Ein­kom­mens­steuer. Statt dessen haben wir durch die Bei­trags­be­mes­sungs­gren­zen sogar eine Art „Luxus­frei­be­träge” für hohe Ein­kom­men.

Das sieht in der Praxis dann so aus: Der ange­stellte Ein­kom­mens­mil­lio­när zahlt den glei­chen Höchst­be­trag von 17 764 Mark zur Sozi­al­ver­si­che­rung wie der Arbeit­neh­mer mit 96 000 Mark Jah­res­g­ehalt. Für den Hoch­ver­die­ner macht die Bela­stung 1,7 % aus, für den Nor­mal­ver­die­ner fast 20%. Unge­rech­ter kann man den Sozi­al­staat nicht finan­zie­ren. Es ent­spricht nun all­ge­mei­ner Auf­fas­sung und ist Basis der ver­fas­sungs­recht­li­chen Beur­tei­lung der Soli­dar­sy­steme, daß diese Schief­lage durch den „sozi­a­len Aus­gleich” auf der Lei­stungs­seite der Sozi­al­ver­si­che­rung zumin­dest aus­ge­gli­chen wird. Davon kann bei genau­e­rer Betrach­tung jedoch keine Rede sein. Viel­mehr fin­det sich im Gegen­teil noch eine struk­tu­relle Ver­schär­fung. So sind, wie alle Sozi­al­ver­si­che­rungs­ver­tre­ter hinter vor­ge­hal­te­ner Hand bestä­ti­gen, vor allem die „klei­nen Malo­cher” die besten Risi­ken, weil sie wegen der oft­mals gesund­heit­lich schwe­ren Arbeit früher als Ange­hö­rige ande­rer Berufe ster­ben und der Soli­dar­ge­mein­schaft die hohen Alters­ko­sten erspa­ren.

So, wie er kon­stru­iert ist, kann der Sozi­al­staat seine Auf­gabe, durch Brü­der­lich­keit für mehr Gleich­heit zu sorgen, also gar nicht erfül­len. Aus­ge­rech­net ihn wie ein Tro­ja­ni­sches Pferd zum Vehi­kel einer immer mas­si­ve­ren Umver­tei­lung von unten nach oben zu machen ist nun der geniale Trick Norbert Blüms gewe­sen. Getreu seinem Motto: „Die große Kon­fu­sion ist die Stunde der Mani­pu­la­teure!”. Mit einer Serie von Taschen­spie­ler­tricks, Mogel­packun­gen, Spen­dier­ho­sen­gau­ke­leien, Kro­ko­dils­tränen und Ran­gier­kunst­stück­chen auf Ver­schie­be­bahn­hö­fen hat er es fer­tig­ge­bracht, die Arbeit­neh­mer­bei­träge in die Sozi­al­kas­sen auf die Rekord­höhe von von gut 20% hoch­zu­schrauben und gleich­zei­tig wirk­same Ele­mente sozi­alen Ausgleichs aus den Syste­men weit­ge­hend zu ent­fer­nen.

Mit sei­ner Tak­tik des „Links blin­ken, rechts über­ho­len” gelang es ihm, die Oppo­si­tion selbst bei den absur­de­sten sozi­al­po­li­ti­schen Fehl­lei­stun­gen um den Fin­ger zu wickeln. So wer­den aus dem vor allem für Mütter geschaf­fe­nen Topf der Unter­halts­er­satz­ren­ten nun bevor­zugt Hin­ter­blie­bene aus kin­der­lo­sen Ehen mit vol­len eige­nen Renten­an­wart­schaften bedient. Für diese Umver­tei­lung zugun­sten hoher Ein­kom­men von schät­zungs­weise 20 Mil­liar­den Mark gibt es nicht die gering­ste sozi­al­po­li­ti­sche Begrün­dung. Sein Meisterstück hat Blüm aber mit der Pflege­ver­si­che­rung abge­lie­fert, die der Union womög­lich noch über Jahr­zehnte die wach­sende und wahl­ent­schei­dende Mehr­heit der wohl­ha­ben­de­ren Seni­oren sichern wird. Nach­dem er über Jahre hin­weg die Trä­nen­drü­sen der Repu­blik mit dem Vor­schlag­ham­mer bear­bei­tet hatte, es gehe um „die Ärm­sten der Armen”, waren die Blicke so getrübt, daß nie­mand mehr die ganze Wirk­lich­keit wahr­neh­men wollte. Ver­ge­bens warn­ten die Behin­der­ten­ver­bände vor dem „Erbs­chafts­si­che­rungs- und Ver­mö­gens­schon­ge­setz”. Ver­ge­bens wie­sen seri­öse Öko­no­men auf die kras­sen Umver­tei­lungs­ef­fekte von unten nach oben hin, die durch die Umstel­lung von der Steuer- auf die Bei­trags­fi­nan­zie­rung ent­ste­hen. Obwohl selbst auf der ersten Seite der Geset­zes­be­grün­dung zu lesen war, daß es vor allem um Ver­mögens­schon­ung gehe, wollte es nie­mand mehr wissen.

Viele Leute glauben, sie zah­len in eine Versicherung ein und bekom­men im Alter einen Gegen­wert heraus. Tat­säch­lich zahlen sie - wie auch bei der Rente - für die Alten von heute. Bei der Pfle­ge­ver­si­che­rung wurde also nicht den „Ärm­sten der Armen” gehol­fen, sondern das Sozi­al­staats­prin­zip mit Füßen getre­ten. Daß Deutsch­land so kurz vor den welt­wirt­schaft­li­chen Tur­bu­len­zen des Maas­tricht-Voll­zugs eine so ekla­tante sozi­ale Schief­lage erreicht hat, ist des­halb ganz wesent­lich das Werk von Nor­bert Blüm. Hel­mut Kohl, der „eiserne Kanz­ler des gro­ßen Geldes” hätte seine Poli­tik nicht ohne Blüm ins Werk set­zen kön­nen, diesen „Spe­zia­li­sten für Dema­go­gie und Roß­täu­scher­me­tho­den”: Den Opfern des Sozi­al­ab­baus in ihrer Spra­che zu ant­wor­ten, ihnen die staat­li­chen Maß­nah­men mit ihren eige­nen Wor­ten als Wohl­ta­ten zu ver­kau­fen - di­esen Trick beherrscht kaum jemand so sicher wie Nor­bert Blüm. Die Fol­gen die­ser Poli­tik wach­sen­der Ungleich­heit sind ver­hee­rend. Daß die Arbeits­losen- und Sozi­al­hilfe­em­pfän­ger­zah­len Jahr für Jahr auf Rekord­hö­hen klet­tern, erweist sich gera­dezu als eine Poli­tik gegen Wachs­tum und Beschäf­ti­gung. Durch die Fall­tü­ren die­ser Poli­tik ras­selt zusam­men mit der Kauf­kraft der deklas­sier­ten Bür­ger auch die Mas­sen­nach­frage in den Kel­ler. Deu­tsche Unter­neh­men rea­gie­ren darauf mit grö­ße­ren Export­an­stren­gun­gen. Daß dabei Hun­dert­tau­sende Arbeits­plätze gleich mit­ex­por­tiert werden, ist wohl unver­meid­lich und hält das Abwärts­ka­ru­ssel in Schwung.

In dieser Ver­fas­sung ist der Sozi­al­staat den epo­cha­len Bela­stun­gen, mit denen wir es zu tun bekom­men, nie­mals gewach­sen. Allein schon wegen der Fol­gen der Über­al­ter­ung gera­ten die Sozi­al­sy­steme zwangs­läu­fig in die Fal­len für sie unlös­ba­rer Wider­sprü­che. So wird die Rente sin­ken - und dies um so schnel­ler, je mehr sich Bei­trags­er­hö­hun­gen aus Grün­den glo­ba­ler Kon­kur­ren­zen ver­bie­ten. In die­sem hoch­gra­dig insta­bi­len Zustand tref­fen wir nun auf die Globa­li­sie­rung. Der gren­zen­lose Geld­ver­kehr und inter­na­tio­nal ope­rie­rende Kon­zerne set­zen die Natio­nal­staa­ten schach­matt.

Die Auflösung der Natio­nal­öko­no­mie - und damit auch das Ende der natio­na­len Wohl­fahrts­sta­aten - ist die zwin­gende Folge. Natio­nale Sozi­al­po­li­tik wird schier unmög­lich, denn eine Turbulenz auf den Welt­fi­nanz­märk­ten kann bin­nen Stun­den mehr Arbeits­plätze ver­nich­ten, als alle staat­li­chen Beschäf­ti­gungs­pro­gramme über ein gan­zes Jahr hin­weg zu schaf­fen vermögen. So werden selbst her­ku­li­sche natio­nale Anstren­gun­gen zur Farce. Die Glo­ba­li­sie­rung ver­langt also erst recht eine neue Sozi­al­staats­de­batte.

Eine erfolg­ver­spre­chende Kon­zep­tion muß von völ­lig ver­än­der­ten wirt­schaft­li­chen, finan­ziel­len, demo­gra­phi­schen, sozi­al­en und auch demo­kra­ti­schen Grund­be­grif­fen aus­ge­hen. An erster Stelle muß sich die Gesell­schaft auf eine neue Rang­ord­nung sozi­al­er Ansprü­che und ihrer Dring­lich­keit ver­stän­di­gen. Dabei sollte man sich an die alte Ein­sicht erin­nern, daß Markt­wirt­schaft wie Demo­kra­tie von der Gleich­heit und diese wie­de­rum von der Brü­der­lich­keit lebt. Des­halb fin­det man hier den Aus­gangs­punkt und auch das Ziel einer Sozi­al­staats­re­form. Daß es hie­rü­ber ernst­haf­ten Streit geben könnte, ist kaum vor­stell­bar, und wenn, dann fin­den wir die Lösung schon im Grund­ge­setz vor­ge­zeich­net. Auch über die Ein­zel­hei­ten müßte sich mit Hilfe unse­rer Grund­rechts­maß­stäbe dann schnell Einig­keit her­stel­len las­sen.

Die gerech­tere Behand­lung der Fami­lien gehört an die Spitze der sozi­al­po­li­ti­schen Auf­ga­ben. Dies ergibt sich schon aus Grün­den wirt­schaft­li­cher Ver­nunft, min­de­stens aber aus ver­fas­sungs­recht­lichen Grün­den. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat dies bereits 1992 ver­langt.

Das glei­che gilt für die Not­wen­dig­keit, die Schief­la­gen auf der Ein­nah­men- und Aus­ga­ben­seite der Sozi­al­sys­teme zu besei­ti­gen. Es muß Ernst gemacht wer­den mit einer Steu­er­re­form, die wah­ren Lasten­gleich­heit bringt.

Genauso können wir es uns nicht mehr lei­sten, aus­ge­rech­net die Soli­da­ri­täts­re­ser­ven zu scho­nen, die hohe Ein­komm­en jen­seits der Bei­trags­be­mes­sungs­gren­zen aus­zeich­nen. Nach einer Berech­nung des Prog­nos-Insti­tuts könnte man allein durch Auf­he­bung der Bei­trags­be­mes­sungs­grenze den Bei­trags­satz zur Kran­ken­ver­si­che­rung linear um rund 3% senken und damit die sie­che Mas­sen­nach­frage wie­der­be­le­ben. Ähn­li­ches trifft natür­lich auch für die Ren­ten­ver­si­che­rung zu. Hier könnte die Schweiz Modell stehen: alle Ein­kom­men der Bei­trags­pflicht unter­wer­fen und Lei­stun­gen nur in einem engen Kor­ri­dor von Min­dest- und Maxi­mal­ren­ten gewähren.

Die Abschaf­fung der Pfle­ge­ver­si­che­rung und ihre Erset­zung durch ein nach dem Vor­bild der Sozi­al­hilfe gestal­t­etes steu­er­fi­nan­zier­tes Kom­mu­nen-Ent­la­stungs­ge­setz ist ein sozi­al­staat­li­ches und ver­fas­sungs­recht­li­ches Muß. Allein hier und bei der Hin­ter­blie­be­nen­ver­si­che­rung kön­nen 40 Mil­liar­den Mark ein­ge­spart wer­den. Und wir hät­ten nicht weni­ger, son­dern mehr Sozi­al­staat­lich­keit.

Wenn die Archi­tek­ten des Umbaus die Ein­sicht beher­zi­gen, daß die Trans­pa­renz der Systeme und eine ver­fas­sungs­kon­forme Rang­ord­nung sozi­al­er Ansprü­che ent­schei­dend sind, wer­den wir einen ech­ten Sozi­al­staat gewin­nen; von dem sind wir der­zeit noch Licht­jahre2 ent­fernt.


1

Diesen Text habe ich nach dem Tode meines Onkels müt­ter­li­cher­seits von sei­nem PC gesi­chert und ist somit das ein­zige Werk, das mir von ihm über­lie­fert ist.

2

Lichtjahre ist ein astro­no­mi­sches Län­gen­maß und ist hier wohl im über­tra­ge­nen Sinne gemeint. Gleich­wohl halte ich diese Ein­heit auf­grund ihrer gewal­ti­gen Größe auch in die­sem Zusam­men­hange nicht für ange­bracht.