Der Nürnberger Kodex (1947)
- Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.
Das
heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre
Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch
Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der
Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass
sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und
verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu
können.
Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor
der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches
klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden
sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind,
und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der
Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der
Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder
ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche
nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.
- Der Versuch muss so gestaltet sein, dass fruchtbare Ergebnisse für das Wohl
der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel
oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich oder
überflüssig sein.
- Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und
naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen,
dass die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen
werden.
- Der Versuch ist so auszuführen, dass alles unnötige körperliche und seelische
Leiden und Schädigungen vermieden werden.
- Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug angenommen
werden kann, dass es zum Tod oder einem dauernden Schaden führen wird, höchstens
jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als
Versuchsperson dient.
- Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die
humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.
- Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu
tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von
Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.
- Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen
durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen Stufen
des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder
durchführen.
- Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den
Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat,
an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.
- Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet
sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm verlangten guten
Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten
muss, dass eine Fortsetzung des Versuches eine Verletzung, eine bleibende
Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.
Zitiert nach: Mitscherlich & Mielke (Hrsg.) (1960) - Medizin ohne
Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt a.M. Fischer.
S. 272f.
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