Entfesselt! – Eine Diskursgeschichte des Impfens

ein Beitrag von Katja Leyhausen

Erschienen in 3 Teilen bei MAGAZIN FÜR DEMOKRATISCHE KULTUR: Teil 1, Teil 2 und Teil 3

Teil 1: Geschichtliche Voraussetzungen

Der entfesselte Minister

Am Beginn seiner Werbekampagne für das neue IfSG, das seit Oktober in Deutschland den gesellschaftlichen Ausnahmezustand verstetigt, twitterte, am 18. Juli 2022, der bundesweite Haupt-Minister für Gesundheit, Krankheit, Kliniksterben und Pharma-Einkauf: “Corona bleibt eine große Gefahr für die Gesundheit der Bürger und die kritische Infrastruktur. Mit dem Gasmangel eine schwierige Lage. Die Bundesländer müssen bei den Schutzmaßnahmen entfesselt werden”. Niemand wundert sich mehr darüber, dass der hoheitliche Minister einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen seinen vielen Reizwörtern und dem Ruf nach sogenannten Schutzmaßnahmen schuldig blieb (Infektionsschutz gegen Gasmangel?). Doch wie kommt er auf die skurrile Dringlichkeit, eine staatliche Instanz – dieses Mal die Bundesländer – müsse “entfesselt werden”?

Sicher dachte der Minister dabei nicht an den neurowissenschaftlichen Begriff der Entfesselung bzw. Enthemmung oder (fachsprachlich) Desinhibition (vom Lateinischen inhibere). Der wird fachlich definiert als “ein Prinzip der Aktivierung von Neuronen oder Neuronengruppen durch Wegfall der Hemmung oder Hemmung von hemmenden (inhibitorischen) Eingängen” und kann allgemeinsprachlich erläutert werden durch Wörterbuchbeispiele wie: Seine Enthemmung kommt vom Alkoholmissbrauch (sa désinhibition est due à un abus d’alcool). Vielleicht überwältigte den Minister bei seiner Ankündigung einer erneuten Entfesselung gewaltsamer Obrigkeitspolitik mittels riskanter Medizin- und Sozialtechnologien die große geschichtliche Aufgabe.

Eine Geschichte der Entfesselung von Technologie und biopouvoir

Denn auch die Geschichte der modernen Technologien, ihrer Risiken und des Umgangs mit ihnen kennt den Begriff der Entfesselung/désinhibition. Der französische Historiker Jean-Baptiste Fressoz hat nach 10-jähriger Bibliotheks- und Archivarbeit im Jahre 2012 unter dem Titel “Die fröhliche Apokalypse” ein Buch über die Geschichte des Impfens und der chemischen Industrie in Frankreich veröffentlicht (2020 neu mit einem neuen Nachwort des Autors). Das Buch ist eine Diskursgeschichte des biopouvoir im französischen Staat: Technologische Risiken sind immer in Einheit mit staatlicher Gewalt gegen die Bevölkerung entfesselt worden. Anstatt den Einsatz neuer und riskanter Technologien abzuwägen, maßten sich staatliche Institutionen an, die durch diese Technologien verursachten individuellen Lebensrisiken zum Zwecke ihrer eigenen Herrschaftssicherung auszunutzen.

Ins Deutsche wurde diese besondere Geschichte Frankreichs bislang nicht übersetzt. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet nur den Namen des Autors, keine seiner Schriften. (Das gilt für viele zeitgenössische, unübersetzte französische Wissenschaftler: Was nicht im US-amerikanischen Wissenschafts-Mainstream ins Englische übersetzt wird, wird meistens auch nicht ins Deutsche übersetzt. Die europäischen Nachbarn brauchen in der Regel die anglo-amerikanische Vermittlung). Als Anti-Vaxxer (französisch antivax) oder irgendeine andere Phantasiefigur aus dem üblichen Verleumdungsvokabular für Technologie- und Regierungskritiker ist der Historiker in den französischen Medien nicht aufgegriffen worden. Denn seiner Sachkunde müsste etwas Sachliches entgegengesetzt werden.

Die gesellschaftliche Bewusstwerdung technischer Risiken ist nur ein Klischee

Die These lautet folgendermaßen: Angeblich leben wir seit dem Meadows-Bericht des Club of Rome 1972 und – mit einem jeweils neuen Schub – seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 bzw. der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 (wie seit Neuestem durch die global breit beworbene Pandemie) in einer Phase gesellschaftlicher Bewusstwerdung/prise de conscience. Endlich würden Politik, Gesellschaft und Individuen ein strenges Vorsorgeprinzip verwirklichen (principe de précaution/precautionary principle). Mit dieser Vorstellung einer Epoche machenden Zäsur räumt Fressoz auf:

Er zeigt, dass seit dem Aufschwung der Technik zu Beginn des 18. Jahrhunderts einerseits die von diesem Fortschritt selbst verursachten Risiken (wie heute) immer schon mitbedacht wurden, dass diese Reflexion aber andererseits (wie heute) die Entfesselung von Technologie und biopouvoir höchstens verzögert, nie verhindert hat. Absichten von Umwelt- und Ressourcenschutz gab es ebenfalls schon damals: Bereits zu Zeiten der ersten Industrialisierung waren die Akteure überzeugt, dass sie mit der Kohleenergie die Wälder und Holzressourcen schonen, dass sie gewissermaßen aus der organischen Energie aussteigen (Fressoz 2012/2020, 352; 357).

Die Vorstellung einer plötzlichen, selbstreflexiven Bewusstwerdung der menschlichen Zerstörungspotenz – die mit Anthropozän sogar eine eigene Epochenbezeichnung bekommen hat – ist nur eine chronozentrische Eitelkeit der Gegenwart. Es ist ja bekannt, dass wir durch den Raum reisen wie nichts und wir uns auf diese Weltläufigkeit viel einbilden, dass wir uns aber Reisen durch die Zeit ersparen, weil uns die Lufthansa für das mühsame Verstehen alter Bücher und Folianten keinen Liegesitz bereitstellt. Da war es für Meinungsmacher einfach, unter dem Aufsehen erregenden Schlagwort des Anthropozäns mit großem Erneuerungspathos dem selbstbewussten Publikum einzureden, es sei Zeuge und aktiver Zeitgenosse einer “kosmologischen Revolution” (354).

Wohlstands- und Risikoverteilung im Ausnahmezustand

Bis heute bleibt für den Historiker die gleiche Frage: Wie kam es, dass riskante Technologien trotz aller Bedenken und gegen den Einfluss wichtiger sozialer Kräfte dennoch installiert wurden (130 f.; 353)? Entfesselung/désinhibition heißt bei ihm, dass Kritik an der Technik durch staatliches Handeln neutralisiert und ausgeschaltet wurde. Der moderne, von Fressoz “liberal” genannte Staat, beruht (in Frankreich) seit 1800 auf den Wohlstandsversprechen der Technik und Technologien: Nie waren sie für seine Politik verhandel- oder gar verzichtbar. Immanuel Kant hatte gesehen, dass der materielle Wohlstand sozialen Frieden schafft; und den Wohlstand zu sichern, das war die Funktion der Technik. So wurde sie zur Staatsräson des modernen, nachaufklärerischen Liberalismus (332).

Trotzdem war das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der staatlich vorangetriebenen Industrialisierung permanent im Ausnahmezustand (état d’exception), weil durch sie nicht nur Wohlstand, sondern auch Risiken produziert wurden. Der politische Charakter technischer Innovationen besteht prinzipiell nicht darin, dass sie sachliche öffentliche Debatten auslösen würden, sondern darin,dass sie die Gesellschaft polarisieren und in Gewinner und Verlierer aufteilen. Es war schon damals üblich, dass Diskussionen immer erst dann stattfanden, wenn das Schlimmste bereits passiert war, und vor allem: wenn sich die Technologie bereits etabliert, wenn sie sich als Herrschaftsinstrument durchgesetzt und sich der von der Innovation ausgelöste Ausnahmezustand bereits verstetigt hatte. Innovationen können per Definition nicht unter vorherige Normen subsumiert werden. Sie schaffen immer eine Situation, in der die hergebrachten Normen von Gesundheit, Eigentum, Umwelt sowie die übliche Verteilung der Verantwortung außer Kraft gesetzt sind. Während also der liberale, technikabhängige Wohlfahrtsstaat einerseits materiellen Wohlstand verteilt, verteilt er andererseits die Risiken dieser Politik (332 f.).

Dispositive der staatlichen Herrschaft

Die Verfahren der Desinhibition von Herrschaft mittels Technik nennt Fressoz – mit einem Wort der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse – Dispositive der Gesellschaftssteuerung. Das Wort kann man am besten mit der kybernetischen Sichtweise verstehen. Hier ist ein Dispositiv eine minimale technische Vorrichtung, die ein System am Laufen hält, weil sie in der Lage ist, in kritischen Momenten per Rückkopplung einen Ausgleich zu schaffen. Die Metapher wurde auf soziale Systeme angewendet mit der Idee, dass Dispositive auch hier Schwachstellen, Fehler, Aussetzer integrieren, ausgleichen und sich durch sie das System fortlaufend selbst reorganisiert (Morin 2016/2020, 40 f.). Foucault nennt das Dispositiv “einen Problemlösungsoperator”, der einen Effekt auf geltende Machtverhältnisse hat und zugleich selbst ein Effekt dieser Verhältnisse ist (Bührmann 2008, 53). Fressoz betont die Unauffälligkeit bzw. Kleinheit (petitesse) dieser Machtmechanismen (353), die wie Seidenfädchen in einem großen Getriebe fast nicht wahrnehmbar (86) sind – und genau deswegen den Gegenstand kritischer historischer Diskursanalysen bilden.

Staatliche Gewalt und soft power

Dispositive gehören in den Bereich des pouvoir doux (soft power) – der scheinbar milden Herrschaft durch freundliche Oberfläche: Während der Staat bei Schutzlosen zu blanker Herrschaft und roher staatlicher Gewalt greift (zum pouvoir nu), ging es ihm (besonders seit 1800) darum, durch kleine diskursive Praktiken die individuellen Wahrnehmungen einzufangen, sie zusammen mit den menschlichen Verhaltensweisen in eine Richtung zu lenken und auf Linie zu bringen (capter, orienter, aligner) – immer zugunsten der technischen Innovation und des biopolitischen Durchgriffs. Das gilt bis heute: Die Rede von der ökologischen Bewusstwerdung im Anthropozän ist nicht nur naiv, großsprecherisch und geschichtsvergessen (naïf, grandiloquent, antihistorique, 345, 352). Sie ist selbst ein Dispositiv der manipulativen Macht und zudem – über die dadurch erreichte Zustimmung zur Externalisierung und Verlagerung der Nachteile, Schäden und Risiken auf Schwächere – auch ein Instrument der rohen Gewalt. Die heutigen Wissenschaften gehören in diesen Kontext. Mehr denn je sind sie von finanziellen und materiellen Interessen gelenkt (Fressoz meint: seit den 1980er Jahren; die umstrittenen Bio- und Nanotechnologien werden extra von ihm erwähnt; 344 f.). Die modernen Gesellschaften sind nicht reflexiv geworden.

Insofern ist diese besondere Geschichte des Impfens als Kritik des Impfdiskurses zwischen Medizin, Politik und Öffentlichkeit keine Erfolgsgeschichte, sondern eben die Geschichte einer “Fröhlichen Apokalypse”. Fressoz beleuchtet ihre unbeleuchtete dunkle Seite.

Zäsuren in der Geschichte der Impf-Entfesselung

Der Historiker analysiert die folgenden Dispositive der désinhibition:

  • in der Zeit des Rationalismus (erste Hälfte 18. Jh.) besonders die neue Mode der Wahrscheinlichkeitsrechnung (aufgekommen in der Dekade ab 1660, Wehling 2006, 14), die aber zunächst an der kritischen Öffentlichkeit von Sensualismus und Empfindsamkeit scheiterte
  • den Ersatz der ärztlichen Autorität und kritischen Öffentlichkeit durch staatsnahe Experten seit der Zeit um den Siebenjährigen Krieg herum (1756-1763)
  • nach der Französischen Revolution, der Erfindung der Kuhpockenimpfung 1796/1798 und der philanthropischen Gründung des Nationalen Impfkomitees im Jahre 1800 die neuen klinisch-stilisierenden Symptombeschreibungen sowie die zentralisierten und zensierten Datensammlungen, welche staatlich vorangetrieben wurden mit dem nationalistischen Argument, Frankreich brauche im Kampf gegen die europäische Koalition eine gesunde, medizinisch optimierte Bevölkerung
  • zugleich die neuen, nämlich medizinischen Anwendungen des eigentlich der Physik vorbehaltenen Experiments, obwohl medizinische Kausalitäten fallbezogen und bei weitem nicht so verallgemeinerbar sind wie in der Physik.

Kontinuierlich wurden dabei – aus politischer Motivation – Unwissen und Ignoranz wie Wissen mitproduziert (l’ignorance comme le savoir se produit, 118 f.). Im Namen von Wissenschaft und Fortschritt wurde der soziale Raum immer mehr gespalten, besonders das Verhältnis von Arzt und Patient.

Anleitung für das Landvolk auf seine Gesundheit (1766) von Samuel Auguste Tissot

Teil 2: Die aufgeklärte französische Öffentlichkeit und der Impfdiskurs im 18. Jahrhundert

Inokulation und vaccination

Die geschichtliche Analyse der biopolitisch-technologischen Entfesselung beginnt – weil jede Geschichte irgendwo beginnen muss – mit dem klassischen medizinhistorischen Gegenstand des Impfens (85). Hier kann man sich einmal in die Zeit gefährlicher Seuchen hineindenken: in die Zeit der Pockenepidemien, wo die meisten Menschen entweder starben oder schwere körperliche Schäden zurückbehielten – das Augenlicht, das Gehör oder den Verstand verloren oder alles zugleich (32). Dabei hießen die ersten Impfungen auf Französisch (und Englisch) seit 1720 allerdings nicht vaccinations, sondern inoculations: Man nahm den Eiter eines Pockenerkrankten und infizierte damit einen Gesunden, den man dafür extra verletzte, z.T., je nach Befähigung des Arztes, schwer. Schwere Erkrankungen – nicht nur aufgrund einer Pockeninfektion, sondern auch wegen der Verletzungen – waren die Folge. Auch Epidemien wurden durch diese Impfungen ausgelöst, weil sie Ansteckungen nicht verhinderten, besonders in den Städten, wie vermutlich 1799 in Paris (88; 332). Inokulationen galten deshalb lange Zeit als Privileg der geräumigen Adelspaläste und Bürgervillen. Erst später (1796 bis 1798) wurde entdeckt, dass eine Kuhpocken-Infektion das Risiko, (nach der Inokulation oder während eines Ausbruchs) an den eigentlichen Pocken zu erkranken, senken konnte. So entstand die vaccination (nach lat. vaca und analog zu französisch vache = Kuh): Man impfte zuerst mit dem schwächeren Kuhpocken-Erreger (der vaccination), dann mit dem Pockensekret.

Das Dispositiv des Risikos

Das wichtigste Dispositiv am Beginn der modernen Impf- und Technikgeschichte war die mathematische Risikoberechnung (43). Schon damals meinte die Öffentlichkeit: Nicht die Methode der Inokulation (oder später die vaccination) bedeutete eine Revolution, sondern das Risikodenken. Das Wort Risiko kommt aus dem Arabischen (Fressoz zufolge mit der Bedeutung: was Gott dem Menschen zuteilt) und wurde zuerst von den Pisaner und Genueser Kaufleuten verwendet, um ihr Geschäft (des bloßen Weiterverkaufs von Waren) zu kalkulieren, zu versichern sowie moralisch und theologisch zu rechtfertigen (31-33). Als 1721 in der Hafenstadt Boston in Neuengland eine Pockenepidemie ausbrach, wurde die Inokulation mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung propagiert. Strenge Quarantäne, Isolation und Überwachung drohten solchen Hafenstädten damals, sobald ein Schiff einen Krankheitsausbruch mitgebracht hatte (36-38). Hier erschienen die Inokulationen als großes Versprechen, und man begann zu rechnen. Sogar die Priester schoben in ihren Predigten Zahlen hin und her. Tote und Erkrankte wurden gezählt, die Sterblichkeit wurde abgeschätzt und gegen die der Inokulation aufgerechnet (1:9 vs. 1:48, hieß es damals). Solche Berechnungen verbreiteten sich von hier aus bis nach London, wo die Krankheit allerdings endemisch war und man deshalb nicht so gut zählen und predigen konnte (35; 38 f.).

Die rationale Erkenntnis der göttlichen Ordnung

Auch die Legitimation der mathematischen Risikoberechnung wurde von Theologen übernommen. Es galt das Muster des noch aus dem Mittelalter überkommenen Ordo-Denkens, dem zufolge Gott die Natur nach seiner Vernunft gestaltet und überall Zeichen zur Erkenntnis dieser vernünftigen Ordnung hinterlegt hat (43). Diese göttliche Ordnung (ordo naturalis) zu erkennen oblag denen, die die Zeichen zu lesen imstande waren – eine Wissenschaft, die über das ganze Mittelalter hinweg ohne theologische Kenntnisse unmöglich war und deren Nachwirkungen sich (bspw. mit der barocken Emblematik) weit bis in die Neuzeit erstreckte.

Im neuen Zeitalter des Rationalismus nun meinten die Geistlichen, es seien die Gesetze der Logik, Mathematik und Wahrscheinlichkeit, die dem Menschen die göttliche Ordnung der Natur offenbarten. Nur in der Zeit vor dem Sündenfall sei die Wahrheit Gottes “ins Herz der Menschen eingeschrieben” gewesen. Deshalb müsse man von der inneren Spontaneität des religiösen Gefühls absehen und sich der äußeren göttlichen, rational erkennbaren Macht unterwerfen. Es hieß: Nur “wer vernünftig lebt, lebt gottgefällig” (36).

Samuel Tissot, ein ehrgeiziger junger Arzt aus dem reformierten Lausanne, argumentierte 1754 in einer Inokulations-Rechtfertigungsschrift (L’Inoculation justifiée) ebenfalls theologisch: Gott habe dem Menschen das Leben nicht als Gabe geschenkt. Er habe es ihm wie ein finanzielles Depot anvertraut, damit er es als Buchhalter (comptable) so gut wie möglich verwalten und bewahren möge. Aus religiöser Pflicht also und im Sinne der göttlichen Vorsehung müsse sich der Mensch der Wahrscheinlichkeitsrechnung unterwerfen. Sie zeige ihm den göttlichen Willen – und am Ende wird, ganz wörtlich, abgerechnet (37; 40).

Die theologisch-religiöse Verstrickung ging noch weiter: Damals begann man,die Laster von Völlerei, Müßiggang, Ausschweifung usw. zum Thema der Medizin zu machen. Diese religiösen Untugenden und moralischen Schwächen wurden zu körperlichen Fehlern umgedeutet. Als Tissot 1760 sein medizinisches Traktat über die Masturbation veröffentlichte (L’Onanisme), stellte er fest: Es ist viel einfacher, die Menschen von ihren Lastern wegzubekommen, wenn man ihnen Angst macht vor einem wahrscheinlichen Leiden, das ihnen kurz bevorsteht (nicht erst in der Hölle), als durch eine theologische, prinzipiengeleitete Argumentation. Die instrumentelle Vernunft der Optimierung des menschlichen Lebens wurde zur göttlichen Weisheit erklärt. Damit wendeten sich die Rationalisten und rationalistisch orientierten Theologen gegen alle traditionellen christlichen Werte; sie spalteten die religiöse Gemeinschaft (41-43).

Eine gesellschaftliche und politische Revolution

Eine durchschlagende gesellschaftliche Revolution wurde allerdings durch den Aufsehen erregenden Vortrag von Charles Marie de la Condamine am 24. April 1754 vor der Académie des Sciences in Paris ausgelöst: Der Vermessungsingenieur sprach sich hier kämpferisch für die Inokulation aus. Politisch und gesellschaftlich revolutionär war der Vortrag,

  • weil er zeigte, wie staatliche Autoritäten das Risikodenken zu ihren Zwecken benutzen konnten bzw. was sie tun mussten, um die medizinische Fakultät bei Entscheidungen über Gesundheit, Krankheitsbekämpfung und Arzneimittel zu umgehen. Bis dahin hatten die Ärzte das Monopol darauf, angemessene Heilmethoden festzulegen. Condamine war kein Arzt; die Ärzte wiesen seine Einmischung in Fragen der Medizin und Gesundheit zurück. Hier nun antwortete er ihnen: Es gehe bei der Inokulation ausschließlich um eine Frage der Wahrscheinlichkeits- und Risikoberechnung, eine Frage der Mathematik also, bei der die Ärzte eher Verwirrung stifteten als etwas beitrügen, während er selbst sie zweifelsfrei beherrsche. Er ließ nur seine Expertise gelten. Dabei ist zu beachten: Condamine war ein französischer Alexander von Humboldt. Soeben war er von einer Vermessungsexkursion nach Südamerika zurückgekommen, aus dieser exotischen und gefährlichen Weltgegend. Seinen Zeitgenossen galt er als Held der präzisen Erkenntnis (44 f.).
  • Außerdem konnte (aus der staatlichen Sicht) mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Öffentlichkeit als Richter über die Inokulation aufgerufen werden, selbst wenn sie keine Ahnung von dem medizinischen Eingriff hatte. Staatliche Institutionen bekamen dadurch einen weiteren Hebel, die Mediziner zu marginalisieren (45).
  • Zudem konnte die staatliche Gewalt die Öffentlichkeit ab sofort in zwei Gruppen aufteilen: in diejenigen, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung nachvollziehen konnten (bzw. wollten), die deshalb als urteilsfähig galten, und in die anderen, die keine Schulbildung hatten bzw. keine mathematische Einsicht zeigten, einschließlich der Mütter, denen man die Urteilsfähigkeit rundweg absprach (46).
  • Schließlich diente die Vermessung von Risiko und Zufall ab sofort dazu, die Debatte von “zu viel” moralischer und theologischer Reflexion “zu reinigen”, sie also – mit dem Verweis auf Rationalität und Vernunft – gänzlich zu beenden. Man solle aus einer Wahrscheinlichkeitsfrage keine Gewissensfrage machen, meinte Condamine. Das befreie Menschen von ethischen Entscheidungsproblemen. Nach der Berechnung könne sich jeder Vater (!) vernünftigerweise nur noch auf eine Seite schlagen. Condamines politische Schlussfolgerung war radikal: Die Risikoberechnung führe zu einer Gesellschaft von Menschen, die sich frei und vernünftig für das Richtige entscheiden und überflüssige Debatten vermeiden, die ja doch nichts bringen, weil sie endlos sind, widersprüchlich, unlösbar … (50 f.).

Scheitern durch Aufklärung

So leicht allerdings war gegen die Traditionen von Moral und Glauben nicht anzukommen. Der Vortrag Condamines löste eine heftige öffentliche Debatte aus (46). Um die gleiche Zeit – um 1760 herum – kam nämlich in Paris der Sensualismus in Mode, dem zufolge Moral und moralisches Handeln nicht von der Vernunft herkommen, sondern vom menschlichen Gefühl. Für die europäische Aufklärung war diese Strömung von Sensualismus und Empfindsamkeit allgemein von großer Bedeutung, und für die Inokulationen war sie es, weil es bei ihnen vorwiegend um Kinder und Familien ging. Der Philosoph und Mitherausgeber der renommierten Encyclopédie – Flaggschiff der französischen Aufklärung – d’Alembert meinte, Gefühle und Moral seien viel komplexer, als Condamine das mit seinen Risikoabwägungen (pèse-risques) zugab (67 f.):

  • Eltern haben Angst vor der Reue. Das Risiko, das eigene Kind durch die Inokulation zu töten, hat andere moralische Konsequenzen, als das Risiko, es durch eine Erkrankung zu verlieren. Von Mme Rolland, die während der Französischen Revolution einen berühmten politischen Salon führte und 1793 guillotiniert wurde, ist überliefert: “Lieber soll die Natur mein Kind töten, als dass ich es tue” (68).
  • Vom Gefühl her wird immer die Gegenwart bevorzugt. Es gibt keine Möglichkeit des Vergleichs einer nahen Bedrohung mit all denen, auf die man im Laufe des Lebens später irgendwann vielleicht noch trifft. Ihre Entfernung in der Zukunft macht sie für das Gefühl unsicher (incertain) und den Blick darauf milde (adoucit la vue; 69).
  • Außerdem muss man die unterschiedliche Risikoexposition unterschiedlicher Personen berücksichtigen: Ein Bergarbeiter hat in seinem Leben andere Risiken als ein Adliger. Für ihn lohnt sich das Risiko der Inokulation viel weniger, während die Adligen mit ihrem komfortablen Leben selbstverständlich für die Inokulation sind (69).
  • D’Alembert sah den Unterschied zwischen dem Interesse des Staates und dem des Einzelnen: Die nach der Wahrscheinlichkeit gewonnenen Leben zählen nur aus Sicht des Staates, für den ein Leben so gut oder schlecht ist, wie das andere (69).

D’Alembert zeigte also, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung ungeeignet ist, eine allgemeine Überzeugung pro Impfung herzustellen und die Einstellung dazu zu standardisieren. Jeder einzelne, so meinte er, wird das Risiko für sich anders berechnen, je nach Alter, Familienzusammenhang, Lebenssituation, Denkgewohnheiten, individuellem Gefühl … Es wird wohl nicht zwei Menschen geben, die die gleiche Risikobewertung für sich vornehmen (70).

Impftagebücher im Salon als Instrument der kritischen Öffentlichkeit

Condamine hatte damals viele und mächtige Gegner. Die schnöde Wahrscheinlichkeitsrechnung etwa auf den König anzuwenden, das war für viele skandalös, weil sich der ja mit niemandem vergleichen ließ. Außerdem war das Misstrauen gegenüber den Berechnungen groß; die propagandistische Absicht war zu offensichtlich. Bekannt war bspw., dass man sich fürs Inokulieren gesunde Menschen aussuchte, dass aber die Epidemien, mit deren Todesraten die Impferfolge verglichen wurden, unter einer Gesamtbevölkerung mit schwacher Gesundheit wüteten. Bekannt war auch, dass es unter den Pockenerregern verschiedene Varianten gab: einerseits gutartige, die nicht einmal Narben zurückließen, und andererseits eine große Bandbreite hin zu schweren, absolut tödlichen Formen. Da wollten sogar diejenigen, die zu dem Eingriff bereit waren, wissen, mit welcher Variante sie inokuliert werden würden. Gefragt waren Erfahrungsberichte (ce type de savoirs) aus dem eigenen, vertrauten sozialen Umfeld (71-73).

So entstand die Textsorte der sogenannten Impftagebücher/journaux d’inoculation als neues Wahrheitsmedium der kritischen Öffentlichkeit (73 ff.). Sie entstand im Kontext der damals florierenden Schriftkultur und mondänen Geselligkeit in den französischen Salons. Konversation, Tagebuch- und Briefeschreiben hatten durch die neue Kultur der Empfindsamkeit einen Aufschwung genommen, denn die empfindsamen höflichen Umgangsformen (bienséances) erforderten eine nahe Anteilnahme am Befinden der anderen. Briefe wurden hin- und hergeschickt und im Salon laut vorgelesen. Sogar bei wenig vertrautem Umgang stattete man sich aus Anstand gegenseitig zahlreiche Besuche ab – und zwar gerne bei frisch Inokulierten. Freunde wachten Stunde um Stunde über den Gesundheitszustand der Behandelten und hielten ihn im Impftagebuch fest. Diese Tagebücher, Besuche, Briefe waren eine effiziente Methode der Evaluation und Aufklärung – nicht akademisiert und zentralisiert, sondern auf viele verteilt und bodenständig (un regard non pas centralisé et médicalisé, mais profane et distribué, 76 f.).

Ein breit gespanntes Wissensnetz über die tatsächlichen Inokulations-Komplikationen kam auf diese Weise zustande. Wichtig war, dass diese Berichte von der medizinischen Fakultät breit berücksichtigt wurden. Die Pariser Salon-Öffentlichkeit genoss bei den Ärzten eine uneingeschränkte medizinische Autorität. Deren akademische Expertise entstand also nicht in überheblicher Abgrenzung, sondern durch Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Erfahrung. Die Mediziner befragten ihre Inokulierten; aktiv konsultierten sie die Tagebücher und Briefwechsel. Umgekehrt waren die Betroffenen nicht passiv, sondern ergriffen selbst die Initiative zur Beurteilung der Behandlung, die sie (in vielfachem Sinne) bezahlten: Sie holten Informationen ein, sie diskutierten, sie redigierten ihre Berichte und kümmerten sich um ihre Publikation in den Zeitschriften. (Die Ärzte hatten damals noch keine eigenen Fachzeitschriften; Fachvertreter und Öffentlichkeit trafen in den allgemeinen Periodika noch direkt aufeinander.) Sie überwachten den Verlauf der Behandlung, sie schickten bei Zwischenfällen nach dem Arzt, sie veranlassten Autopsien … Diese Pariser Öffentlichkeit, so resümiert der Diskurshistoriker, war eine rege und erfolgreiche Gesellschaftsform (une sociabilité très riche), die bewirkte, dass es damals recht klare Vorstellungen von den Gefahren der Inokulation gab – weit entfernt von den abstrakten Risikoberechnungen (77 f.).

Eine Medizin der menschlichen Optimierung wird eingerichtet

Allerdings entstand auch, als Ergebnis der heftigen öffentlichen Debatte, in den 1760er Jahren, im medizinischen Diskurs ein unübersichtliches Durcheinander. Eigentlich hatten sich die Ärzte darauf verständigt, dass die Pocken ansteckend und keine Krankheit aus angeborener Anlage sind. Diese Einsicht nahmen die Impfpropagandisten nun zurück: Wer durch die Inokulation verstarb, von dem sagten sie, er habe eben die individuelle Veranlagung dazu gehabt – an der der Geschädigte sowieso früher oder später gestorben wäre. Diese hinkende Argumentation wurde, weil sie praktisch war, gern genommen, aber die Diskussion wurde immer verfahrener:

Normalerweise unterschieden die Ärzte zwischen “Heilbehandlungen” für die Gesundung Kranker, die auch, wie es hieß, gegen die Natur/contre nature sein durften (wie der Aderlass bspw.), und “hygienischen Behandlungen” Gesunder, die nicht gegen die Natur sein durften (Diäten z.B.). Die Inokulation nun war als vorbeugende, “hygienische Behandlung” Gesunder eindeutig gegen die Natur. Es wurde also nichts weniger als ein ganz neues Verständnis der Medizin etabliert: die Medizin einer Transformation und Optimierung des menschlichen Körpers, mit Behandlungen, die überhaupt kein therapeutisches Ziel beim Behandelten hatten und die damals experimentell waren (47-49).

In diesem neuen diskursiven Durcheinander entstanden weitere Dispositive der technologischen Entfesselung. Das Risikodenken als solches war durch Aufklärung der Öffentlichkeit moralisch und praktisch (auch juristisch) gescheitert. Die Inokulationen mussten daher, im Sinne ihrer Befürworter, noch einmal ganz neu definiert und positiv aufgeladen werden. Dafür bot das 1796/1798 entdeckte Kuhpocken-Vakzin die passende Gelegenheit (83). Man tat alles, damit sich der Ruf verbreite, es sei nicht ansteckend und absolut gutartig. Dabei griffen ab 1800 nackte (staatliche) Gewalt und die Gewalt der freundlichen Oberfläche (pouvoir nu und pouvoir doux) eng ineinander (88).

Gewaltsame Unterwerfung menschlichen Lebens unter die Gesetze des Zufalls

Nackte Gewalt wurde zuerst – noch im 18. Jahrhundert – in der Privatwirtschaft praktiziert, später auch in der staatlichen Politik. 1723 ist die Bezahlung eines Inokulators durch die Royal African Company belegt. Der Sklavenhandel in ihren Kontoren (comptoirs négriers) sollte profitabler und flüssiger werden. Durch effektive Krankheitsvorbeugung sollte die Ware wertvoller, die Überfahrt sicherer werden. Hindernisse wie die Quarantäne von Infizierten sollten vermieden werden. Im Jahre 1756, als es in Paris nur wenige Inokulierte gab, wurden in der französischen Kolonie Maurice et Réunion 400 Sklaven der Inokulation unterzogen. Das probabilistische Kalkül wurde dabei ohne Umschweife angewandt: Ein Vertrag ist überliefert, dem zufolge der Arzt für jeden inokulierten Sklaven (pro Kopf) 20 Francs bekommt, und wenn einer davon stirbt, dann zahlt er 1000 Francs zurück (69 f.).

Seit den 1760er Jahren wurde die Wahrscheinlichkeitsrechnung und Unterwerfung des individuellen Lebens unter die Gesetze des Zufalls (mise en probabilité de la vie, 33) auch als Mittel des biopouvoir betrachtet. Mit dem Siebenjährigen Krieg kam das staatstragende Bevölkerungsargument für die Inokulation hinzu: Der Krieg brauche Männer, die Bevölkerung müsse optimiert werden, die Inokulation sei eine nationale Pflicht. Dazu wurde 1760 (von Daniel Bernoulli) die erste mathematische Modellrechnung veröffentlicht, die besagte, wie viele Menschen (mit welchem Altersanteil) dem König mehr zur Verfügung ständen, wenn alle Neugeboren inokuliert würden. Zwar würde durch die Prozedur die Bevölkerung kurzfristig minimiert werden, denn 1 von 200 Neugeborenen würde dabei sterben. Aber das rentiere sich langfristig. Denn es würden nur die unnützen (weil physisch nicht robusten) Babies sterben (les enfants inutiles à la société). Und die positiven Aspekte zeigten sich dann später, im gebärfähigen Alter der Inokulierten: Unter den später 25-Jährigen könnten, berechnet auf eine Kohorte von 1 300 Kindern, 79,3 gerettet werden, die folglich zusätzlich fürs Zeugen und Gebären da wären. Die Aufmerksamkeit des regierenden Fürsten habe sich auf dieses Alter der Ernte (l’âge de la récolte) in der Gesamtheit zu richten, damit er schließlich über genügend Soldaten, Arbeiter und Gebärende verfügen könne (55 f.). Solche Berechnungen wurden, nach der Französischen Revolution, zur Grundlage gewaltsamer Impfexperimente an Waisenkindern.

Joseph-Ignace Guillotin (1738-1814) Arzt, Politiker, Erfinder der Guillotine und Präsident der Gesellschaft gegen Kuhpocken (Musée Carnavalet)

Teil 3: Entfesselung von staatlicher Gewalt und Herrschaftswissen seit 1800

Ein neuer Mensch für die Nation

Eine dritte Zäsur in der Geschichte des Impfens brachte die Jahreswende 1800/1801, als mit Jean-Antoine Chaptal ein Impffreund in das Amt des Innenministers gelangte. Sofort erklärte er das Impfen von Findelkindern in den Waisenhäusern als legal (96), was vorher aufgrund der Erkrankungs- und Ansteckungsrisiken und der ungeklärten Frage, wer juristisch dafür aufkommen würde, untersagt war. Bereits 1793 war per Dekret verordnet worden, dass Kinder, deren Eltern öffentliche Unterstützung bekamen, zwangsinokuliert werden sollten. Dafür gibt es, so Fressoz, zwar weder ein europäisches Pendant noch die Spur einer Anwendung: Es zeigt aber deutlich die nationale Ideologie des totalen Krieges gegen die Koalition Europas, der mit einer optimierten Bevölkerung gewonnen werden sollte (82 f.).

Diese kriegerische Medizin der Bevölkerungsoptimierung wurde besonders von der 1780 noch im Ancien Régime gegründeten “Philanthropischen Gesellschaft/Société philanthropique” entfesselt. Ihr Mitglied Herzog de La Rochefoucault-Liancourt hatte schon 1790 eine öffentliche Impfklinik in Paris eröffnen wollen. Nach der Entdeckung des Kuhpocken-Vakzins nun setzte er sich für ein Nationales Impfkomitee / Comité de Vaccine ein, das im Jahre 1800 gegründet und von den Philanthropen finanziert wurde (87 f.). Die Aufgabe der allgemeinen Durchimpfung sahen die im Komitee versammelten Minister, Abgeordneten, Bankiers, Staatsräte … als einen Krieg im wörtlichen Sinne an: Ein Sieg gegen die Pocken wäre ein Sieg der Zivilisation über die Natur und ein Sieg der Zivilisation gegen Europa. Die Französische Revolution hatte die Neuerschaffung des Menschen zum Ziel: la régénération de l’homme. Die Philanthropen stellten sich dementsprechend vor, sie würden diesen neuen Menschen erschaffen – eine neue, gesunde Menschenrasse (race), die vom Ausland respektiert würde (84).

Waisenhäuser als Tatort

Dazu benutzten die Philanthropen die Waisenkinder, und zwar einerseits als sogenannte Impfdepots/dépôts de vaccin und andererseits als Versuchsobjekte. Man konnte damals das neue Kuhpocken-Vakzin nicht lagern. Es musste direkt von Mensch zu Mensch übertragen werden, um – in der pathetisch-philanthropischen Sprache der Impfpartei – “das Feuer der Impfung zu erhalten” (le feu de la vaccine s’entretient). Dafür brauchte man viele Menschen, und Waisenkinder gab es genug: in Frankreich im Jahr 1800, nach Jahren der revolutionären Kämpfe und Entbehrungen, ungefähr 60.000. Man “impfte” diese Kinder, um den Stoff zu lagern (96 f.).

Das neue Kuhpocken-Vakzin war damals ein mysteriöses neues Etwas; man wusste buchstäblich nichts über die neue Behandlungsmethode (85; 98). Man “erforschte” also bspw., ab wann dieser Impfstoff gegen die richtigen Pocken immunisierte. Dazu “impfte” man beide Erreger in verschiedenen Zeitabständen: erst die Kuhpocken und später die Pocken, und das mit immer weniger Zeitabstand, bis man die Kinder schließlich sogar mit beiden Stoffen gleichzeitig inokulierte. Ebenso wenig wusste man, ab welchem Alter die Kinder die Behandlung vertrugen: Man nahm immer jüngere Kinder bis hin zu den Frühgeborenen. Man wusste nicht, ob durch die Methode ansteckende Vorerkrankungen (Syphilis bspw.) übertragen wurden; auch das wurde “erforscht”. All das waren Behandlungen, die kein therapeutisches Ziel bei den Betroffenen hatten, es waren Experimente an Schutzlosen. Gab es einen Zwischenfall, Unfall, Todesfall (un accident), so wurde das Experiment wiederholt, nur um sicherzugehen. Brach eine ansteckende Krankheit aus, dann wurden gesunde Kinder mit diesem unbekannten Sekret “geimpft”, um durch weitere Beobachtung zu diagnostizieren, ob es sich nicht etwa um die Pocken handele (94, 98 f.).

Die kleinen Körper wurden als leicht zugängliches Experimentiermaterial benutzt, und zwar zu tausenden. Eltern konnten sich nicht beschweren, und die Kritiker erfuhren davon meistens nichts. Beklagte sich die gute Gesellschaft über diese Praktiken, dann nicht wegen ihrer Unmenschlichkeit, sondern aus Furcht vor dem Schmutz der Waisenkinder – diesen praktischen, aber völlig unzulänglichen Impfdepots (94-98; un matériau expérimental commode, mais défectueux, 103)!

Experimente im philanthropischen Programm

Philanthropische Gesellschaft und Impfkomitee trieben diese Impfexperimente voran. Vor dem Jahre 1800 hatten die Ärzte höchstens einmal mit sich selbst experimentiert oder mit einzelnen, zum Tode Verurteilten (94). Den Experimenten an den Waisenkindern widersetzten sich mitunter Praktiker und Verantwortliche vor Ort: Hebammen, Ärzte (wie Marcus Herz, 93 f.), die Leitung des Waisenhauses oder der Präfekt des Departements (96). Innenminister Chaptal, der vom Impfkomitee beeinflusst war, ging dagegen ab 1801 folgendermaßen vor: Wo es Widerstand gab, da wurde kurzerhand ein Impffreund als verantwortlicher Arzt in das betreffende Waisenhaus berufen und zur alleinigen Entscheidung ermächtigt: Schließlich sei der Arzt der Fachmann (100 f.).

So wurde das Experiment als Dispositiv der staatspolitisch-technologischen Entfesselung in die Medizin eingeführt. Obwohl medizinische Kausalitäten viel weniger greifbar sind als in der Physik, sollten – nach ihrem Vorbild – die Unfehlbarkeit der Impfung und die Wiederholbarkeit ihrer Erfolge gezeigt werden, nicht mehr nur eine statistische Wahrscheinlichkeit ihres Nutzens. Das Ziel der Experimente war also von Beginn an nicht im Wesentlichen das der Erkenntnis, Forschung, Wahrheitssuche. Es ging um das philanthropisch-propagandistische Programm, die Bevölkerung und vor allem die Verantwortlichen vom absolut gutartigen Wirkstoff zu überzeugen. Dieser Umgang mit den Heimkindern war geradezu der Inbegriff der philanthropischen Praxis. Auch andere Historiker haben schon beschrieben, wie die Philanthropen damals die ursprünglich karitative Institution der Waisenhäuser verwandelten in eine “nützliche” Einrichtung, nach dem utilitaristischen Denken: Individuelles Leid sollte gelindert und zugleich für eine soziale Funktion genutzt bzw. ausgenutzt werden (101-103).

Öffentliche Impfkampagne

Das philanthropische Impfkomitee war auch für die Inszenierung der öffentlichen Impfkampagne zuständig: 1801 organisierte es in Paris die öffentliche Impfung von 200 Waisenkindern (102 f.), um Sicherheit und Unfehlbarkeit der Impfung zu demonstrieren. Adlige Geldgeber waren eingeladen; die Akademie der Wissenschaft zeigte sich begeistert, und auch das Englische Parlament. Das Event wurde, über ganz Frankreich verteilt, mehrfach wiederholt. Nach zwei Jahren waren alle Verantwortlichen überzeugt. Für einen Effekt in der Breite der Bevölkerung wurde die Impfung der Heimkinder ab 1801 ebenfalls als offizieller, staatstragender Akt vollzogen: Die Heimleiter mussten sich mit den Kindern im Rathaus einfinden; das erleichterte einerseits dem Impfarzt die Arbeit. Andererseits bekam im Anschluss an den Akt das Kind (bzw. der Heimleiter für das Kind) vor den Augen der Öffentlichkeit vom Bürgermeister ein Papier überreicht, das ihm den Zugang zu Schule und staatlicher Unterstützung gewährte (97 f.). Mit Zunahme der Impfpraxis ließen die Präfekten Listen der geimpften Kinder an den Rathäusern aushängen, um diejenigen Eltern unter Druck zu setzen, die ihre Kinder noch nicht hatten behandeln lassen (117). Eine allgemeine Impfpflicht allerdings wurde in Frankreich damals nicht verhängt. Napoléon persönlich wies die Forderung zurück. Sein späterer Innenminister Fouché meinte noch im Jahre 1808: Am wirksamsten sei die milde Kraft der Überzeugung: la douceur et la persuasion (85).

Ontologische Dispositive: Wissenschaftliche Festlegung der Realität

So nahm, zusammen mit dem neuen nationalen Interesse der Bevölkerungsoptimierung, nicht nur die staatliche Gewalt zu. Es änderten sich auch die Dispositive der gütig wirkenden Herrschaftsoberfläche (pouvoir doux). Das menschliche Bewusstsein sollte gegen die Furcht vor Reue immunisiert werden; ein gutes Gewissen und eine Kollektivdisziplin sollten hergestellt werden (33 f.). Fressoz beschreibt, wie nach 1800 die “ontologische Form der modernen Enthemmung” einsetzte (la forme ontologique de la désinhibition moderne, 330). Ontologie ist die Lehre vom Sein; durch ontologische Dispositive wurde also die Realität der Impfung per Definition “wissenschaftlich” festgelegt. Das geschah anhand der propagandistischen Experimente (99 f.). Zudem entwickelten die Mediziner damals die Nosologie – die klinische Beschreibung von Krankheitsbildern (104, 329). Diese Beschreibungen – in diesem Fall der Inokulationswirkungen – zielten darauf, die Inokulationen immer schon positiv im Hinblick auf den technologischen Imperativ zu interpretieren.

Der klinische Blick

Bis dahin hatte man sich kaum mit Krankheitssymptomen beschäftigt, denn man wollte nicht, wie es im französischen Sprichwort heißt, “die Beute für ihren Schatten hergeben” – lâcher la proie pour l’ombre, nur weil einem der Schatten eindrucksvoller und realer erscheint. Nun aber ging es darum, das Publikum von der effektiven Immunisierungswirkung der Kuhpockenimpfung zu überzeugen. Dazu wollte man Symptome von Impfwirkungen und von Erkrankungen deuten und unterscheiden können, mit der Frage: Worauf lässt die jeweilige Pustelbildung schließen?

Mit großem Aufwand wurden – in der Zusammenarbeit von Medizinern und Graphikern – bildliche Darstellungen von der Impfpustel angefertigt, auf deren Grundlage das Impfkomitee festlegte (instaure), wie sie typischerweise aussieht: in Farbe, Größe, Form, Konsistenz, Elastizität, Relief, Induration (Verhärtung), und zwar über die verschiedenen Phasen der Pustelbildung hinweg. Auch diese Forschungsmethode war, wie das Experiment, im historischen Kontext eine propagandistische Methode zur Überzeugung des Publikums. Die klare Sprache der graphischen Darstellung war vielversprechender als lange medizinische Ausführungen über Qualität, Beschaffenheit und Wirksamkeit eines guten Impfstoffs und seiner professionellen Anwendung (106-109).

Im Zentrum von medizinischer Herrschaft und biopouvoir

Durch die Bilder und ihre Kombination mit neuen Wörtern der Beschreibung wurde die Sicht auf die Impfungen radikal verändert. Mit ihnen, so Fressoz, gelangt man zum Kern der damaligen “medizinischen Macht” (au cœur du pouvoir médical; 110). Denn Realität konnte mit diesen Darstellungen nicht abgebildet werden: Medizinische Symptome unterliegen nicht unabänderlichen naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern ändern sich von Fall zu Fall. Die meisten Ärzte waren es gewohnt, die Fallverschiedenheit der Symptome wahrzunehmen und ernstzunehmen. Sie machten sich über diese Methode der graphischen Stilisierung und Typisierung regelrecht lustig. Sie sahen, dass damit eine autoritäre Festlegung der körperlichen Reaktionsmerkmale beabsichtigt war, als direktes Resultat der Machtkämpfe zwischen den inokulations-politischen Parteien (110-115). Zudem passierte Folgendes:

Man kannte Menschen, die doppelt inokuliert waren (Kuhpocken + Pocken), aber trotzdem erkrankten. Deren Erkrankung wurde nun anhand der Symptome akribisch beschrieben. Aus der Sicht der Propagandisten und zur Ehre der neuen Kuhpockenimpfung sollte es sich bei dieser Erkrankung selbstverständlich nicht um die Pocken handeln. Edward Jenner (der das Kuhpocken-Vakzin erfunden hatte), erkannte also darin eine dritte Krankheit, deren Symptome denen der Kuhpocken ähneln (und die ebenfalls von Kühen auf Menschen übertragen wird), die auch ähnlich verläuft, die aber nicht gegen Pocken immunisiert. Jenner nannte sie Windpocken (112). Für die Impfkritiker war das nur eine plumpe Ausrede (un subterfuge grossier, 105).

Ästhetische Schwärmerei

Die Machtmethode bestand vor allem in einer Überhöhung und Entkopplung der Wahrnehmung. Der klinische Blick und die aus ihm hergeleitete Kunst der typisierenden Graphik machten etwas Neues aus der Inokulation: Sie wurde von allen Zufällen und Einzelheiten gereinigt und dadurch gegen Kritik abgeschirmt. Die Befürworter gerieten regelrecht in einen ästhetischen Rausch; sie schwärmten bspw. von einem wunderschönen jungen Mädchen, das eine wunderschöne Pustelbildung gezeigt habe. Sie gingen so weit, die Pustel nicht mehr als Zeichen der Inokulation wahrzunehmen, sondern als die Impfung selbst: Diese typische Pustel – das war die Impfung! (Elle est la vaccine! 106). Dazwischen gab es nichts mehr, was man noch hätte kritisieren können, selbst wenn die Patientin schließlich doch zu Schaden kam. Diese klinische Arbeit wurde seit den Pockenausbrüchen um 1810 praktisch angewendet, ab 1830 entstanden die ersten Atlanten der Pathologie, und um 1840 galt die Arbeit der Beschreibung als abgeschlossen (106 f., 111, 116).

Produktion angstlösenden, enthemmenden Wissens

Die Gelehrten erwiesen sich demnach für die staatliche Politik des biopouvoir als außerordentlich nützlich (335). Denn die von ihnen bereitgestellten Realitätsfestlegungen haben die Gewalt der Herrschaft über die Waisenkinder, Kinder und Familien “mit Schweigen bedeckt” (331). Dem modernen Staat war nie daran gelegen, die durch Innovationen ausgelösten Konflikte zu thematisieren, zu diskutieren und dadurch aufzulösen, sondern immer nur darum, sie in den “richtigen” Rahmen zu setzen. Die Gelehrten dienten ihm dazu, diejenige Denkordnung (l’ordre cognitif) festzulegen, in der diese Konflikte für die Entfesselung von technologischer Innovation und biopouvoir selbst würden nützlich werden können (338). So wurde eine Berufsgruppe geschaffen, der das Urteil über die medizinischen Eingriffe komplett übertragen wurde (105). Allgemeines und ärztliches Erfahrungswissen, Öffentlichkeit und Kritik wurden ausgeschaltet.

Fressoz verallgemeinert: Entfesselungsdispositive zielen nicht auf den Mut der Menschen zum technischen Fortschritt. Sie schaffen Denk- und Wissensordnungen, die die Menschen beruhigen und ihnen die Angst vor der neuen Technologie nehmen: enthemmende, “angstlösende Ontologien” (ontologies anxiolytiques, 331). Im Zuge dessen bekamen die Gelehrten die Aufgabe zu definieren, was gewusst werden kann, muss, darf (ce qui est connaissable, 110), in Abgrenzung von dem, was man nur spontan fühlen oder nur zufällig aufschnappen und nachplappern kann usw.

Man meint, solch spezifisches Wissen wie das über die Pockenimpfung gehöre primär in eine wissenschaftliche Disziplin (oder jedenfalls in ein Metier, einen Fachbereich usw.) und würde erst im Nachhinein – je nach öffentlichem Interesse – weiter verbreitet. Doch das Wissen über die neuen Kuhpocken-Vakzine, so muss man Fressoz verstehen, war schon immer nur absichtsvoll veröffentlichtes Wissen. Gültiges, “wissenschaftliches” Wissen war das, was verbreitet und verwaltet, dessen Verbreitung verwaltet und dessen Verwaltung verbreitet wurde (121).

Zensur durch regionale Impfkomitees

Durch die nach 1800 vorangetriebene Zentralisierung der staatlichen Verwaltung wurde die öffentliche Verbreitung dessen, was als herrschendes Wissen gelten sollte, effektiv geregelt. Das Impfkomitee riss die Kontrolle dieses Herrschaftswissens an sich. Seine Mitglieder wurden von der staatlichen Verwaltung bezahlt, es stellte die für die Waisenhäuser zuständigen Ärzte und übernahm die Zensur in der allgemeinen Presse: Während um 1802/03 noch Berichte über Impfunfälle erschienen, wurden solche impfkritischen Beiträge ab 1804 zensiert. Jeder Artikel zum Thema musste ab sofort vom Impfkomitee zur Publikation erst zugelassen werden. Zu diesem Zweck wurde, im selben Jahr, in jedem französischen Departement ein Ableger des nationalen Komitees eingerichtet (116 f.).

Neuentdeckung des Risikodispositivs durch zentrale Datensammlung und Statistik

Zu Experiment, Klinik und aktiver Zensur von oben kam noch die staatliche Statistik hinzu: Durch sie wurden Risikodenken und Wahrscheinlichkeitsrechnung zum politischen Machtdispositiv ausgebaut (117). Die zentralistische Verwaltung führte zu einer perfektionierten Datensammlung, aber nicht in dem Sinne, dass Daten dadurch objektiv erhoben worden wären, sondern durch ihre statistisch-propagandistische Reinigung. Innenminister Chaptal meinte: Jedes Jahr eine fallende Mortalität bei Pockenerkrankungen zu dokumentieren, das müsse doch das Publikum überzeugen. Seine Behörden gaben also vor, mit ihrem zentralen Überblick über die Datenlage mehr zu sehen und zu wissen. Doch sie sahen nur, was sie sehen wollten (121):

Denn in der pyramidalen Behördenarchitektur der Rathäuser und regionalen Impfkomitees wurden die Unfallberichte von unten nach oben gefiltert. Unfälle wurden nicht gemeldet, nur die blanke Zahl der Geimpften. Je mehr Instanzen die Berichte durchliefen, desto “besser” wurde gefiltert. Es herrschte die Selbstzensur, weil um diese Zeit bereits die Meinung regierte, die Impfung sei völlig harmlos. Auch die Inokulatoren berichteten nicht gern über Unfälle: Sie selbst müssten dann ja etwas grob falsch gemacht haben. Als 1820 in den Alpen bei einer durch eine Impfkampagne ausgelösten Epidemie 40 Menschen starben, beschuldigte der zuständige Arzt die Inokulatoren, Vakzination und Inokulation miteinander verwechselt zu haben (119 f.).

Wunderheilungen – durch Impfung oder Impfpropaganda?

Bei den Inokulatoren handelte es sich sowieso meistens um schlecht bezahlte Gesundheitsbeamte, die kein Interesse daran hatten, Zwischenfälle zu dokumentieren. Im Gegenteil: Sie erlagen dem Gedanken, für die Grande Nation etwas Gutes zu tun, indem sie “Details” verschwiegen (120), die ihnen in diesem bedeutungsschweren Licht nur nebensächlich erscheinen mussten. Der symbolische Gewinn glich den Mangel an finanziellem offensichtlich aus.

Während also Zwischenfälle verschwiegen wurden, auch wenn bspw. Babies starben (118), wurden diejenigen Fälle mit Sicherheit berichtet, wo im Zuge der Impfung Krankheiten verschwanden: Skrofeln, Flechten, Krätze, Epilepsie … 1807 fragte das Nationale Impfkomitee aktiv nach solchen Wunderheilungen.Daraufhin berichteten die Inokulatoren und Ärzte zahlreich, auch wenn sie dabei zu bedenken gaben, dass sie von einer Kausalverbindung persönlich gar nicht überzeugt waren (121). Der Impfung wurden daraufhin ganz neue Fähigkeiten zugeschrieben.

Immunisierung gegen Kritik

Zentral verwaltete Statistik und Klinik waren also – in Verbindung mit staatlicher Zensur und Selbstzensur – die Mittel, die Impfung gegen Kritik zu immunisieren und das Herrschaftswissen über sie ein für allemal zu definieren. Auch die Statistik diente nicht primär der Erkenntnis, sondern dazu, der Öffentlichkeit zu zeigen, was ihr gezeigt werden sollte (als mise en évidence), und um zu Werbezwecken diejenigen Zahlen an die Rathäuser pinnen zu können, die dem Staat genehm waren (117). Die wenigen Unfälle, die am Ende der Kette doch nach oben gemeldet worden waren, wurden öffentlich gegen die Hunderttausend erfolgreichen Operationen gesetzt. Sie konnten dem guten Ruf der Impfungen nicht mehr schaden (122). Sie sind auch keine Grundlage für eine seriöse Geschichte der erlittenen Impfschäden. Die toten Kinder bleiben ungezählt. Und erst 1864 gestand die Medizinische Akademie ein, dass durch Impfungen die Syphilis übertragen werden kann. Sie tat das nicht auf Betreiben derjenigen Ärzte, die impften, sondern derer, die die Syphilis behandelten und erforschten, ganz am Rande des biopolitisch-wissenschaftlichen Spektakels.

Kohärente Problembegradigung – gespaltene Öffentlichkeit

Unter Rückgriff auf die metaphysische Figur der Gegenüberstellung von Essenz und Akzidenz, die ebenfalls (wie das Ordo-Denken am Beginn der Impfgeschichte) mindestens bis ins Mittelalter zurückreicht, wurde behauptet, man könne im Allgemeinen nichts Wesentliches gegen die Impfung sagen (122): Als Inbegriff der Impfung galt nicht eine Gesamtschau ihrer (erwünschten und unerwünschten) Wirkungen, sondern diejenige Teilmenge dieser Wirkungen, die eine größere Kohärenz aufzuweisen schien, weil sie von den Impfpropagandisten mit ihren Machtdispositiven eine größere Kohärenz ausgearbeitet bekam: Ein kohärenter, unbestreitbarer Nutzen wurde zum Wesen und ultimativen Wissen der Impfung erklärt.

Das letzte und wichtigste biopolitische Dispositiv – außer öffentlichem Experiment, Statistik, Klinik, zentraler Datensammlung und Verwaltung, Risikoberechnung, Zensur und Autozensur – war aber vielleicht die gesellschaftliche Spaltung. Man trennte die Ärzte und Mediziner von ihren Patienten und der Öffentlichkeit. Anders als noch im 18. Jahrhundert nahmen die Ärzte ihre Patienten nun anders wahr: nicht mehr als Quelle für Information und Mitarbeit, die man als Arzt manchmal auch überzeugen muss, sondern als träge Masse, die durch gelehrte und staatliche Autorität unterworfen werden muss, weil sie inkompetent ist in der Frage ihrer eigenen Gesundheit. Nicht zufällig entwickelten Ärzte damals (in der Dekade ab 1810) die neue Textgattung der “Populären Irrtümer und Vorurteile”. Hier bekommt die Diskursgeschichte der biopolitischen Entfesselung der Impftechnologie ein unrühmliches Ende (124).

Ausblick: Das Pandemie-Dispositiv heute

Dieses Ende ist freilich nur vorläufig, nicht allein, weil 1902 in Frankreich die Pflicht zur Pockenimpfung doch eingeführt wurde. Die Geschichte des enthemmten staatlichen Zugriffs auf menschliche Körper mit Hilfe von Medizinern und Wissenschaftlern durchlief im 19. und 20. Jahrhundert viele Stationen. Seit dem Jahr 2020 geht sie in eine neue Phase – wegen der neuen mRNA-Stoffe und auch wegen des allgegenwärtigen Fangwortes Pandemie. Mit ihm kam, ähnlich wie im 18. Jahrhundert mit dem des Risikos, ein neues Dispositiv des biopouvoir zur Anwendung – ein kleines Wort wie ein Spinnenfaden im Machtgetriebe. Eine neue Agenda der biopolitischen Beherrschung der Bevölkerung ist entfesselt worden, gleichzeitig mit der Entfesselung hochriskanter Technologien in einer weltweiten Pandemie-Industrie der Herstellung und Vermarktung bislang unverstandener “Impfstoffe”, der fortschreitenden und zunehmend erzwungenen Digitalisierung aller Lebensbereiche und der Kontrolloptimierung durch finanziell und personell hochgerüstete Thinktanks für Medien-, Meinungs-, Wissensmanipulation.

Pandemisches Wissen wird produziert nach den Imperativen 1. des Katastrophismus und 2. des technologiegläubigen Solutionismus: Übereinstimmend mit dem Bewusstwerdungspathos im “Anthropozän” soll man sich 1. bewusst werden, welcher allergrößte Unglücksfall für die ganze Welt und Weltbevölkerung mit Sicherheit in Kürze eintreten muss. Und 2. soll man – ohne allgemeine oder gar individuelle Risikoabwägung – alles technisch Mögliche tun, das gegen dieses eine große, weltumspannende Unglück vielleicht getan werden kann. Was nicht in diese angeblich wissenschaftliche, katastrophistische und solutionistische “Wissens”-Struktur und Kohärenzbildung hineinpasst, das wird nicht erfragt, bleibt ungewusst, nicht wissenswert. Oder es wird als Fake News und Verschwörungstheorie, sogar als staatsgefährdend verleumdet – was weder vom wissenschaftlichen noch demokratischen Standpunkt aus gesehen, aber doch von dem des autoritären biopouvoir durchaus folgerichtig ist.

Ob sich wohl die kritische Öffentlichkeit, anders als die aufgeklärte Salon-Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, langfristig gegen diese kohärente Unwissensproduktion wird zur Wehr setzen können?

Viel wird von den Ärzten abhängen und davon, ob sie mit ihren Patienten respektvoll, mit medial hofierten Experten und entfesselten Ministern hingegen kritisch umgehen. “Die Mediziner werden, wenn sie ihren Werten treu bleiben wollen, kämpfen müssen wie die Arbeiter zur Zeit der Industrialisierung” (Sadin 2021, 116). Es ist zu hoffen, dass das nicht erst zukünftige Historiker im Rückblick auf unsere Gegenwart verstehen.

Literatur

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Fressoz, Jean-Baptiste (2012/2020): L’apocalypse joyeuse. Une histoire du risque technologique. Postface inédite 2020. Paris (Éditions du Seuil).

Fressoz, Jean-Baptiste (2022): Prise de conscience. Une incantation au service des pollueurs? In: Greenwashing. Manuel pour dépolluer le débat public. Sous la direction d’Aurélie Berlan. Guillaume Carbou et Laure Teulières. Paris (Éditions du Seuil). 183-190.

Larrère, Catherine et Raphaël (2020): Le pire n’est pas certain. Essai sur l’aveuglement catastrophiste. Paris (Premier Parallèle).

Leyhausen-Seibert, Katja (2022): Was kann die STIKO? Medizin, Magie und Politik der in der COVID-19-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige. In: kultuRRevolution (kRR). herausgegeben von jürgen link und rolf parr in zusammenarbeit mit der diskurswerkstatt bochum (1/2022). Essen (k-west verlag). 56-61.

Morin, Edgar (2016/2020): Pour une crisologie (2016). In: Ders.: Sur la crise. “Pour une crisologie” suivie de “Où va le monde?” (2020). Paris (Flammarion). 9-55.

Sadin, Éric (2021): L’intelligence artificielle ou l’enjeu du siècle. Anatomie d’un antihumanisme radical. Paris (Éditions L’échappée).

Wehling, Peter (2006): Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens. Konstanz (UVK).