AG Globalisierung & Krieg

Hintergrundpapier Nr. 1

Der Ukraine-Krieg

und seine

geopolitischen Hintergründe

Autor: Peter Wahl

Erstveröffentlichung als PDF bei attac
Das Thema Krieg und Frieden ist wieder an die Spitze der politischen Agenda in Europa gerückt.
Das wird auf längere Zeit so bleiben. Auch aus friedenspolitischer Sicht stellen sich zahlreiche neue Fragen.
Die Attac-AG Globalisierung & Krieg will mit einer Reihe von Papieren zur Klärung beitragen.
Die Texte werden in der AG diskutiert. Die letztliche Verantwortung für den Inhalt liegt jedoch bei den Autoren.

1. Einleitung

Der vorliegende Text ist ein Hintergrundpapier. Wie der Name sagt, geht es darum, Hintergründe und Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, Ursachen zu analysieren, das Einzelne in seinen struk­tu­rellen und historischen Kontext des Ganzen zu stellen. Dieser methodische Ansatz entspricht dem Verfahren, das emanzipatorische Gesellschaftsanalyse schon immer verfolgt.

So beruht z.B. deren Kapitalismuskritik auf einem systemischen Verständnis von Kapitalismus, aus dem heraus die Einzelphänomene (dialektisch) interpretiert werden und verbindet das mit ihrer historischen Entwicklung. Nicht nur linke Gesellschaftskritik denkt so. Auch die Klimaforschung, um nur ein Beispiel herauszugreifen, tut das. Wenn es in Norddeutschland einen verregneten Sommer gibt, ist das keine Bestätigung zur Leugnung des Klimawandels. Einzelne Wetterereignisse stehen in einem klimatischen Gesamtzusammenhang und dessen Evolution. Zwar verschwindet das Einzel­phä­nomen nicht, aber es wird in eine Relation zum Ganzen gesetzt.

Eigentlich sind das Basics für jedes aufgeklärte Denken. Aber in der gegenwärtigen1 Debattenlage um den Ukraine-Krieg ist eines der markantesten Phänomene, dass bis in Teile der gesellschaftlichen Linken hinein das einzelne Ereignis von seinem historischen und strukturellen Kontext abgetrennt und zum singulären Ereignis und moralischen Absolutum gemacht wird, das nicht mehr diskutiert werden darf.

Das singularisierte Ereignis, um das es hier geht, ist der russische Angriff auf die Ukraine. Er ist ein gravierender Bruch des Völkerrechts und eine neue Qualität von Gewaltanwendung in einer seit langem sich drehenden Konfliktspirale. Er nimmt humanitäre Katastrophen und das Risiko eines Kontrollverlusts mit unabsehbaren Folgen in Kauf. Global wird er, wie immer der Krieg ausgeht, die geopolitische2 Konfrontation und damit die Unsicherheit in der Welt verschärfen.


1Redaktionsschluss dieses Texts war der 18. März 2022.
2Der Begriff Geopolitik kommt von einer veralteten Theorie internationaler Beziehungen, die das außenpolitische Verhalten von Staaten aus ihrer geographischen Lage ableitet. Heute ist er allgemein zur Bezeichnung internationaler Machtpolitik gebräuchlich.

Dennoch läuft die Ausblendung der historischen und strukturellen Zusammenhänge des Krieges auf eine intellektuelle Kapitulation hinaus und nimmt sich selbst die Möglichkeit, eine autonome, an Friedenssicherung orientierte dritte Position jenseits der Kriegsparteien einzunehmen.3 Sicher ist es nicht einfach, sich der totalen Emotionalisierung des politischen Klimas zu entziehen. Ressentiments und Feindbilder werden von der Kette gelassen und wachsen ins Monströse, sodass viele sich dem so entstandenen Konformitätsdruck nicht mehr entziehen können.

Doch dieser Krieg fällt nicht vom Himmel. Er ist nicht singulär und auch keine Zeitenwende. Russland übernimmt jetzt Praktiken, wie sie in dieser Radikalität seit Ende des Kalten Krieges 1.0 bereits von den USA und der NATO eingeführt wurden, so z.B. im Jugoslawienkrieg 1999: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unter­binden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern.“ So am 24. März 1999 der dama­lige Bundeskanzler Gerhard Schröder.4 Es war der erste große Krieg, mit aktiver Beteiligung der Bundes­wehr, und die erste gewaltsame Grenzveränderung in der europäischen Nach­kriegs­ge­schichte.

In Libyen missbrauchten Frankreich und Großbritannien 2011 einen UN-Sicherheitsratsbeschluss für eine Flugverbotszone, um einen Angriffskrieg zwecks Regime-Change zu beginnen. Der in huma­ni­tärer Perspektive schwerwiegendste Krieg mit zivilen Opfern in der Größenordnung von 100.000 war der Angriffskrieg gegen den Irak 2003. Gerecht­fer­tigt mit der bald als Lüge entlarvten Behaup­tung, Saddam Hussein besäße Massen­ver­nich­tungs­waffen, griff eine „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA den Irak an. Beteiligt waren nicht nur sämtliche östlichen Mitgliedsländer der EU, sowie Mazedonien und Georgien, sondern mit 1.650 Soldaten auch die Ukraine. Das war das sechst­größte Kontin­gent unter den 36 Angrei­fer­staaten.

„Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ wie der vielzitierte Militärtheoretiker Clausewitz schrieb, ist also auch in der Ära nach dem Kalten Krieg 1.0 leider wieder etabliert worden. Und zwar von den USA und in deren Gefolge Großbritannien, Frankreich, Deutschland u.a.

All das sind Fakten, die damals wie heute im Gegensatz zu den Idealen und Interessen eman­zi­pa­to­ri­scher Frie­dens­po­litik stehen. Aber sie sind die geopo­li­ti­sche Realität. Die maßgeb­li­chen Poli­tiker in den maßgeb­li­chen Ländern denken und handeln in macht­po­li­ti­schen Kate­gorien und nicht nach den Leit­bildern der Frie­dens­be­we­gung. Wenn man diese trau­rige Realität verän­dern will, muss man wissen wie sie funk­tio­niert. Dafür sind Analyse und norma­tive Orien­tie­rung, Sach­li­ches und Emotion ausein­an­der­zu­halten. Schon die Anfänge wissen­schaft­l­ichen Denkens in der Antike hatten die Devise: sine ira et studio - ohne Zorn und Eifer!

Gerade wenn man Empathie mit den Opfern hat, sollte man nicht den Verstand ausschalten. Mora­lisch ist bei unserem Thema, wer und was zur Erhal­tung des Frie­dens beiträgt. Und wenn dennoch Krieg ist, ist mora­lisch alles, was ihn so schnell wie möglich beendet. Das ist die Moral, für die die Opfer - gegen­wärtig die Menschen in der Ukraine - das entschei­dende Krite­rium für Frie­dens­po­litik gerade auch in Kriegs­zeiten sind.

Begeben wir uns dennoch jetzt in die Welt der Geopo­litik, auch wenn sie für viele fremd oder gar verab­scheu­ungs­würdig ist.

2. Struktur und Dynamik des internationalen Systems5

Es war eingangs die Rede vom systemischen Charakter kritischer Gesell­schafts­theorie. Für die inter­na­tio­nalen Bezie­hungen heißt das, dass auch sie als System begriffen werden. Das ist für linke Theorie-Traditionen, die auch die inter­na­tio­nalen Bezie­hungen, Konflikt und Krieg syste­misch auf­fassen, eigent­lich nicht neu. Es gilt für die Impe­ri­a­lis­mus­theor­ien aus der Zeit vor dem Ersten Welt-     


3Im Schlagwort vom sog. „whataboutism“ wird diese Selbstbeschneidung des Denkens sogar zur Tugend verklärt. Das Messen mit zweierlei Maß, also Doppelmoral, wird jedoch schon immer für unmoralisch gehalten, wie u.a. in dem berühmten Bibelzitat aus Matthäus 7-39 zum Ausdruck kommt: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? “
4Der Kosovo war bis 1999 eine serbische Provinz mit mehrheitlich albanisch sprechender Bevölkerung. Nach der militärischen Niederlage Belgrads und der Besetzung des Kosovo durch die NATO, erklärte die Region 2008 ihre Unabhängigkeit, die von den meisten westlichen Ländern auch sofort anerkannt wurde. 5Der Territorialstaat ist nach wie vor der zentrale Akteur des internationalen Systems. Andere Akteure, wie Transnationale Konzerne, sind letztlich ihren Herkunftsstaaten untergeordnet, wie sich gerade am Ukraine-Krieg zeigt, wo die Profitinteressen der Konzerne aus dem Westen hinter geopolitischen Interessen zurückstehen müssen.

krieg, aber auch für Ansätze aus neuerer Zeit. So die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins oder die neo-gramscianisch geprägte Politische Ökonomie der internationalen Beziehungen.6 Allerdings wurden sie in der gesellschaftlichen Linken kaum rezipiert, so wie die Friedensthematik generell seit geraumer Zeit ein Schattendasein auf deren Agenda fristete.

Hier nun - in Telegrammstil - wesentliche Eckpunkte des systemischen Blicks auf die Weltordnung:

Erstens: Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass kein Staat für sich allein existiert, sondern immer nur in Wechselbeziehung zu anderen, zu Nachbarn, Rivalen, Gleichgesinnten usw. Dementsprechend entsteht sein außenpolitisches Verhalten nicht nur aus seinen inneren Verhältnissen, sondern auch aus der Dynamik des Systems, in dem er ein Element ist. Es gibt eine systemische Logik, die Pfad­ab­hän­gig­keiten konsti­tu­iert. Das heißt nicht, dass dieses System ein mecha­nisch ablau­fendes Uhr­werk wäre. Als von Menschen gemacht, erlaubt es immer verschie­dene Hand­lungs­mög­lich­keiten. Zum Beispiel indem man macht­po­li­ti­sche Konfron­ta­tion durch frie­dens­ori­en­tierte Koope­ra­tion ersetzt.

Zweitens: Es gibt keinen Weltstaat. Das unter­schei­det das inter­na­tio­nale System grund­le­gend vom Binnen­sy­stem der Staaten. Moderne Staat­lich­keit weist durch Verfas­sungen, Rechts­s­ystem, poli­tis­ches System etc. eine hohe Rege­lungs­dichte auf, die die Macht­ver­hält­nisse und Konflikte der Gesell­schaft in geord­neten Bahnen halten und mode­rieren sollen. Demge­gen­über ähneln die zwischen­staat­li­chen Bezie­hungen eher dem, was die poli­ti­sche Theorie als „gesell­schaft­li­chen Natur­zu­stand“ beschreibt, der weitaus weniger geord­nete, sondern tenden­ziell anar­chi­sche Züge aufweist. Regu­lie­rende Staat­lich­keit existiert hier nur in Ansätzen als Völker­recht, zwischen­staat­liche Verträge und inter­na­tio­nale Insti­tu­tionen. Vor allem existiert keine legi­ti­mierte oberste Instanz, wie ein Verfas­sungs­ge­icht und eine Exeku­tive, die dessen Entschei­dungen umsetzt. Der UN-Sicher­heitsrat, der das tendenziell können soll, ist durch das Veto-System blockiert, wenn Veto-Mächte an Konflikten betei­ligt sind.

Drittens: Auch wenn völkerrechtlich alle den gleichen Status haben und nominal über völker­recht­liche Souve­rä­nität verfügen, sind die Elemente des Systems nicht gleich. Das System ist hierar­chisch. Wer an der Spitze steht, hat prägenden Einfluss. Je weiter es nach unten geht, umso geringer sind Hand­lungs­spiel­räume und Einfluss.

Viertens: Die Position in der Hierarchie hängt von den Machtressourcen ab, über die ein Land verfügt: Militär, Ökonomie, Technologie, poli­ti­sche Netz­werke und Soft Power.7 Die Durch­set­zungs­fä­hig­keit und Hand­lungs­op­tionen für eigene natio­nale Inte­ressen ergeben sich daraus.

Fünftens: Aufgrund all dieser Faktoren sind das zentrale Regulationsprinzip im internationalen System die machtpolitischen Kräfteverhältnisse. Normen, Völkerrecht und institutionelle Arrange­ments werden von den großen Akteuren nur solange akzep­tiert, wie sie ihre vitalen Inte­ressen nicht in Frage stellen. Eine Groß­macht will möglichst keine norma­tiven Bindungen eingehen, die ihre macht­po­li­ti­schen Hand­lungs­spiel­räume einengen könnten. Die USA sind auch hier globale Führungs­macht.8

3. Im Epizentrum: unipolare versus multipolare Weltordnung

Aus den machtpolitischen Kräfteverhältnissen entsteht eine systemische Dynamik. Für etwa andert­halb Jahrzehnte nach Ende der UdSSR war das System unipolar, d.h. die USA waren unan­ge­fochten einzige Super­macht. Es war die Ära des American Empire. Inzwi­schen geht die unipo­lare Welt­ord­nung zu Ende. An ihre Stelle tritt ein multi­po­lares System. In dessen Zentrum steht die Riva­lität zwischen den USA und China. Gleichz­eitig gibt es ein Come­back von Russ­land als Groß­macht. Auch Indien strebt einen Aufstieg zur Super­macht an.

Der Konflikt zwischen unipolarer und multipolarer Weltordnung steht seit etwa einem Jahr­zehnt mit wach­sender Bedeu­tung im Zentrum des inter­na­tio­nalen Systems. Er bildet quasi sein Betriebs­system, das nicht nur das Verhalten der Groß­mächte prägt, sondern auch alle wich­tigen regio­nalen Probleme beein­flusst. Der Umbruch bedeutet eine Entwest­li­chung der Welt und das Ende der 500-jährigen euro­at­lan­ti­schen Über­le­gen­heit. Barack Obama hat die US-Sicht dazu präg­nant formu­liert: „Jene die meinen, dass Amerika sich im Nieder­gang befindet oder seine welt­weite Führungs­rolle                 


6Wallerstein, Immanuel (2004): World Systems Analysis. An Introduction. Durham
Cox, Robert (1998): Weltordnung und Hegemonie - Grundlagen der Internationalen Politischen Ökonomie. Marburg
Gill, Stephen (2008): Power and Resistance in the New World Order. London
7Soft-Power = kulturelle Ausstrahlung
8So sind sie z.B. nicht der Seerechtskonvention beigetreten, und US-Behörden ist es sogar ausdrücklich verboten, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zu kooperieren.

verlieren würde, irren sich. ... Amerika muss auf der Weltbühne immer führen. ... Ich glaube mit jeder Faser meines Wesens an den amerikanischen Exzeptionalismus.“ Joe Biden steht ungebrochen in der gleichen Tradition: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt,“ weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat.“ Auch wenn dies von der gesellschaftlichen Linken in Westeuropa kaum zur Kenntnis genommen wird, für die US-Machteliten steht es mit Abstand an der Spitze ihrer Agenda.

Demgegenüber ist das strategische Ziel der chinesischen und russischen Außenpolitik ausdrücklich eine multipolare Weltordnung, wie bereits 2009 beim BRICS-Gipfel in Jekaterinburg formuliert: „Wir wollen eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.“9 Oder in Worten des chinesischen Staats- und Parteichefs: „Wir dürfen die Regeln nicht durch ein oder einige wenige Länder festlegen lassen, die sie den anderen aufzwingen oder Unilateralismus von gewissen Ländern zulassen, die der ganzen Welt die Richtung vorgeben wollen.“

Allerdings sind Umbrüche in der Hegemonialordnung der Welt immer auch gefährlich. Eine Harvard-Forschungs­gruppe spricht von der Thukydides-Falle. Die Metapher bezieht sich auf den Pelo­pon­ne­si­schen Krieg als Modell­fall (431-404 v. Chr.), den der antike Histo­riker Thuky­dides aus eigener Anschauung beschrieben hat. Mit dem Krieg ging die Vorherr­schaft über Griechen­land von Athen auf Sparta über. Die Harvard-Studie hat zwanzig solcher Fälle durch die Geschichte der letzten 2000 Jahre hindurch unter­sucht. In sech­zehn kam es demnach zum Krieg.10 Die etab­lierten Mächte wollen den status quo erhalten, die aufstei­genden wollen ihn verän­dern. Das führt zu einem enormen Anstieg von Riva­lität und Konflikt. Unter kapi­ta­li­sti­schen Verhält­nissen kommt die ökono­mi­sche Konkur­renz der einzelnen Kapi­tal­in­te­ressen und deren staat­licher Stan­dort hinzu. Ein Beispiel, das uns noch relativ nahe ist, ist der Erste Welt­krieg, der eben­falls aus einem Thuky­dides-Moment entstand - was übri­gens auch linke Impe­ria­lis­mus­theo­rien jener Zeit ähnlich sahen.

4. Machtressourcen und Kräfteverhältnisse

Im Folgenden skizzieren wir die Kräfte- und Interessenskonstellation an der Spitze des inter­na­tio­nalen Systems, in deren Kontext auch der Ukraine-Krieg einzu­ordnen ist. Wie in Kapitel 2. darge­legt, spielen die Machtressourcen eines Landes eine zentrale Rolle für das außenpolitische Verhalten eines Landes. Aus ihnen ergeben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Mächten. Denn welche Position ein Akteur in der Hierarchie der Welt­ordn­ung einnimmt, ergibt sich nicht aus Wollen und Wünschen, sondern aus seinem Macht­po­ten­tial. Zur Erin­ne­rung: dessen wic­htigste Kompo­nenten sind Militär, Wirt­schaft und Techno­logie, poli­ti­scher Einfluss und Soft-Power.

4.1. Die USA und ihre Machtressourcen

Die USA wollen erklärtermaßen ihre Vormachtstellung um jeden Preis erhalten. Dazu unternehmen sie alles, um den weiteren Aufstieg Chinas zu stoppen und Russland in Schach zu halten. Letzteres begann schon sehr früh. So äußerte Ende Februar 1990 der damalige Präsident Bush (Senior): „Wir haben gesiegt und sie nicht. (...) Wir werden das Spiel gewinnen, aber wir müssen uns clever anstellen.“11 In den Verteidigungsrichtlinien des Pentagons (Defense Planing Guidance) von 1992 heißt es: „Jede in Frage kommende feindliche Macht (ist) daran zu hindern, in einer Region dominant zu werden, die für unsere Interessen von ausschlaggebender Bedeutung ist. (...) Potenzielle Rivalen (sollen) erst gar nicht auf die Idee kommen, regional oder global eine größere Rolle spielen zu wollen.“12

Die Strategie fand ihre praktische Umsetzung in der NATO-Osterweiterung. Das sukzessive Heran­rücken der Militärallianz der USA an die russischen Grenzen ist der harte Kern des geopo­li­ti­schen Konflikts zwischen Russland und dem Westen. Das sah schon so 1995 der damalige russi­sche Präsi­dent Jelzin, als er bei einem Gipfel mit Bill Clinton seine strikte Ablehnung erklärte. Das Thema ist also keineswegs erst durch Putin auf die Tagesordnung gekommen.


9BRICS = Kooperationsprojekt von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
10Allison, Graham (2017): Destined for War: Can America and China Escape Thucydides's Trap? Boston/New York.
11Greiner, Bernd (2021): Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München. S. 168
12Greiner 2021, S. 164

Die USA haben von Anfang an die Eindäm­mung Russl­ands kompr­omisslos durch­gezogen. Sie glauben sich in der Lage dazu, weil sie quer durch alle Kategorien von Macht­res­sourcen über Super­macht­po­ten­tial verfügen:

das mit Abstand stärkste Militär (s. Tabelle 2 im Anhang). Dazu ca. 120 Militärstützpunkte auf allen Kontinenten, sowie mit der NATO die Verfügung über ein Militärbündnis, auf das 55% der globalen Rüstungsausgaben entfallen. Im pazifischen Raum sind sie dabei, anti-chinesische Alli­anzen - mili­tä­risch und ökono­misch zu etab­lieren. Hinzu kommen die globalen Über­wachungs- und Beein­flus­sungs­mög­lich­keiten im Cyber­space.13 Hinzu kommt eine geogra­phi­sche Lage als Konti­nent quasi in Insel­lage, die eine stra­te­gi­sche Asym­me­trie gegen­über allen anderen Groß­mächten konsti­tu­iert. Wenn sie ihre Kriege im Irak, in Afgha­ni­stan oder in Jugo­sla­wien führen, ist das immer Tausende von Kilo­me­tern entfernt.
das größte ökonomische Potential (s. Tabelle 1 im Anhang). Mit ihren transnationalen Konzernen im Finanz­sektor und der digi­talen Indu­strie, die die Avant­garde des zeit­ge­nös­sis­chen Kapi­ta­lismus bilden, verfügen sie über globale Präsenz. Hinzu kommt die Rolle des Dollars als Welt­wäh­rung und der Zugriff auf die globale Finanz­infra­struktur, wie SWIFT oder das Kredit­kar­ten­sy­stem. Durch ihr ökono­mi­sches Poten­tial verfügen sie auch über enormen extra­ter­ri­to­rialen Einfluss, weil sie auslän­di­schen Unter­nehmen den Zugang zu ihrem Markt, zur Welt­wäh­rung und zur globalen Finanz­in­fra­struktur verwehren können. Unter­nehmen rea­gie­ren darauf meist mit voraus­ei­lendem Gehorsam;
Technologieführerschaft in vielen Bereichen, u.a. in strategisch wichtigen wie Mikrochips, Quan­ten­com­pu­ting, Bio-Engi­nee­ring etc.;
politische Vernetzung durch den global größten diplomatischen Apparat, Einfluss in allen multi­la­te­ralen Institutionen, sei es durch ihren Status als Vetomacht in der UNO oder die rech­tlich abgesicherte Sperrminorität in IWF und Weltbank;
Soft-Power, intellektueller Ein­fluss auf gesellschaftspolitische und kulturelle Narrative, Ein­fluss der Kulturindustrie (Popkultur, Hollywood, etc. incl. der kommerziellen Infrastruktur);

Damit verfügen sie über eine Bandbreite an Handlungsoptionen, wie sonst kein Land auf der Welt. Das ist verbunden mit einer strategischen Kultur, die diese Möglichkeiten auch rigoros nutzt. Wenn es im US-Interesse liegt, jederzeit auch ohne Rücksicht auf Völkerrecht und Menschenrechte, wie die lange Geschichte von Angriffskriegen, Regime-Changes und Unterstützung von Putschismus und Bürgerkriegen bis zum immer noch andauernden Drohnenkrieg gegen angebliche oder tat­säch­liche Terroristen belegt.

Im Konflikt mit Russland wird das Machtpotential seit Jahren in voller Breite genutzt, allerdings unter­halb der Schwelle der offen mili­tä­r­ischen Konfron­ta­tion. Unter dem etwas verharm­lo­senden Begriff „Sank­tionen“ führt Washington einen Wirt­schaftsk­rieg, der über die Jahre immer weiter eska­liert wurde. Regeln, wie das frie­dens­po­li­tisch zentrale Prinzip der unge­teilten Sicher­heit, also die Einsicht, dass Sicher­heit nur gemeinsam, nicht aber auf Kosten der anderen Seite erreicht werden kann, werden igno­riert. Seit Obamas Hinwen­dung nach Asien eska­liert auch der Einsatz der US-Macht­mittel gegen­über China.

Allerdings haben die schweren Verwerfungen in der Gesellschaft und im politischen System des Landes, die in der Ära Trump zu Tage traten - aber nicht vorbei sind - zu einer gewissen Erosion von poli­ti­schem Einfluss und von Soft-Power geführt.

4.2. China und seine Machtressourcen

Der Aufstieg Chinas vom Entwicklungsland zur Supermacht ist nicht nur einmalig in der Mensch­heits­ge­schichte, sondern auch ein Schock für die USA. Hier ist nicht der Raum, Chinas Gesells­chafts­mo­dell - Staats­ka­pi­ta­lismus, Sozia­li­sti­sche Markt­wirt­schaft etc. - zu erör­tern. Fest­zu­halten sind aber zwei grund­le­gende Tatsa­chen, die auch geopo­li­tisch höchst rele­vant sind:

die Überwindung der absoluten Armut und zunehmender Massenwohlstand sind, vor allem im Vergleich mit Indien, das ähnliche Ausgangsbedingungen hatte, Ausdruck eines am gesell­schaft­li­chen Gemeinwohl orientierten Entwicklungsmodells. Das Ende der Armut eröffnet               


13So betrug z.B. das Budget der US-Geheimdienste 2013 schon 52,6 Milliarden Dollar, wie die Veröffentlichungen Edward Snowdens enthüllten. Im gleichen Jahr betrugen die russischen Militärausgaben 63,8 Milliarden US-Dollar.

durch die Teilnahme an Bildungs-, Gesundheitssystem und Kultur individuelle Selbst­ver­wirk­li­chungs­chancen und materialisiert so soziale Menschen­rechte für Hunderte von Milli­o­nen. Das sichert eine breite und seit Jahren wachsende Zustimmung der Bevölkerung, wie auch von west­li­cher Seite durchgeführte Umfragen bestätigen.14 Das gesellschaftliche Klima unter­scheidet sich sehr von der Krisen- und Kata­stro­phen­stim­mung in den west­li­chen Gesell­schaften;
Conditio sine qua non des Aufstiegs war die Rolle der KP. Wie immer man ansonsten das poli­ti­sche System des Landes beurteilt, fügt dies der üblichen geopolitischen Rivalität zu den USA eine zusätzliche Dimension hinzu, quasi einen ideologischen Systemkonflikt.15

Militärisch liegt China, gemessen an den Militärausgaben, an zweiter Stelle (s. Tabelle 2). Die chine­si­sche Nukleardoktrin schließt einen atomaren Erstschlag aus. Die Zweit­schlags­kapa­zität ist derzeit nicht so groß wie die der USA und Russ­lands, aber so ausgelegt, dass sie bisher als ausrei­chend ange­sehen wurde. Anders als die USA, aber ähnlich wie Russ­land hat China das Problem der mili­tär­stra­te­gi­schen Einschnürung. Bei einem Blick auf die Land­karte wird deut­lich, dass sich das Land an seiner Seegrenze einer Kette aus US-Verbün­deten und US-Mili­tär­stütz­punkten gegen­über­sieht. Die Kette beginnt im Norden mit Japan, geht über Südkorea, Taiwan, Guam, Austra­lien, die pazi­fi­schen Stütz­punkte des NATO-Par­tners Frank­reich bis nach Singapur.

Hinzu kommen die schwimmenden Stützpunkte der USA in Gestalt der US-Flotte und ihrer Flug­zeug­träger, die regel­mäßig im chine­si­schen Meer kreuzen. Hier liegt der harte Kern des Konflikts um Inseln und Atolle im südchi­ne­si­schen Meer.

Ökonomisch ist China, was die absolute Größe seines BIP angeht, den USA dicht auf den Fersen. In Kauf­kraft­pa­ri­täten gerechnet wurden die USA sogar bereits deut­lich über­holt (s. Tabelle 1). Von beson­derer Bedeu­tung ist dabei, dass China in den Avant­garde-Sektoren des zeit­ge­nös­si­schen Kapi­ta­lismus, wie der digi­talen Indu­strie, mit den USA allmäh­lich gleich­zieht und in einigen Bereichen wie Künst­liche Intel­li­genz oder Quan­ten­com­pu­ting mögli­cher­weise sogar schon vorne liegt. Auch in der Welt­raum­tech­no­logie gehört China neben den USA und Russ­land inzwi­schen zu den großen Drei. Hinzu kommt, dass China in Asien, im pazi­fi­schen Raum, Afrika und Latein­ame­rika ökono­misch immer stärker vernetzt ist, und mit dem Seiden­stra­ßen­pro­jekt eine öko­no­misch-infra­struk­tu­relle Verbin­dung zu Europa entsteht. Die öko­no­mi­schen Gewichte der Welt­wirt­schaft verschiebt sich deut­lich nach Asien und China ist dessen Gravi­ta­tions­zentrum.

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der allgemeine Lebensstandard, gemessen am BIP pro Kopf, noch weit hinter dem der USA liegt (s. Tabelle 1). Hier liegt das Land auf einem Niveau wie Bulgarien.

Politisch: China ist ständiges UN-Sicherheitsratsmitglied. Über seinen langjährigen Status als Entwick­lungs­land in der sog. Gruppe der 77, ist es außer­halb der trans­at­lan­ti­schen Zone bestens vernetzt.

Kulturell ist die Ausstrahlung Chinas aufgrund der großen kulturellen Unterschiede im Westen gering. In Asien ist das jedoch anders. Darüber hinaus ist der Erfolg seines Entwicklungsmodells vielen Entwicklungs- und Schwellenländern China eine beträchtliche Soft-Power-Ressource.

Chinas Rolle als Gegengewicht zu den USA ermöglicht es Ländern, sich von einer einseitigen Abhän­gig­keit der USA oder den alten Kolonialherren in Europa zu lösen. Das ist eine Konstellation, die bereits im Kalten Krieg 1.0 die Blockfreien-Bewegung ermöglichte.

4.3. Russland und seine Machtressourcen

Russland ist ein kapitalistisches Land, das mit dem Zerfall der Sowjetunion 1992 zur kapitalistischen Peripherie wurde. Der russische Kapitalismus leidet durch seine chaotische Entstehung unter einigen Defor­ma­tionen, von denen das Oligarchenwesen und das Gewicht des Rohstoffsektors zu den wich­tig­sten gehören. In der Ära Jelzin war das Land kurz davor, ein failed state zu werden.

Deshalb konnte der kraftlose Protest Jelzins gegen die NATO-Osterweiterung oder den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 im Westen einfach ignoriert werden. Mit dem Amtsantritt Putins begann eine ökonomische und politische Konsolidierung, die auch mit einer Modernisierung der mili­tä­ri­schen Fähigkeiten einher ging.


14So z.B. eine Umfrage der kanadischen Universität York (Le Monde, 19/20.7.2020. S. 2)
15Damit wird China nicht zur Verwirklichung von Gesellschaftsutopien der europäischen Linken.

Anfängliche Versuche eine Partnerschaft mit den USA und EU auf Augenhöhe einzugehen, die sich z.B. nach dem 11. September 2001 in logistischer Unterstützung der USA im Krieg gegen den Terror zeigten, scheiterten an mangelnder Bereitschaft der USA.

Militärisch ist Russland eine Supermacht. Seine Nuklearstreitkräfte erreichen annähernd Parität mit den USA. Durch neue Technologien wie lenkbare Hyperschallgleiter, die die Raketenabwehr der USA durchdringen können, wird die atomare Zweitschlagskapazität gehärtet. Bei der konventionellen Rüstung ist Russland Großmacht, aber der NATO gegenüber deutlich unterlegen.

Unter diesen Bedingungen ist das große Sicherheitsproblem Moskaus die direkte Grenze mit der NATO in Estland und Lettland, sowie durch die Exklave Kaliningrad mit Polen und Litauen sowie etwa 200 km mit Norwegen in der Nordpolarregion. Von Estland aus ist die 100 km entfernte Metropole St. Petersburg schon mit Raketenartillerie erreichbar. Mit einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre die NATO noch einmal an eine um 2.000 Kilometer längere Grenze vorgerückt. Die Vorwarnzeit für einen Enthauptungsschlag gegen Moskau würde auf fünf Minuten schrumpfen, und ein enormes Erpressungspotential entstehen lassen. Hier liegt der Kern der russischen Bedro­hungs­wahr­neh­mung.

Eine weiteres Sicherheitsprobleme, entstand durch den chaotischen Zerfall der Sowjetunion an der russischen Peripherie. Dor gibt es russische Minderheiten, die oft diskriminierenden Bedingungen ausgesetzt sind, darunter auch in den EU-Ländern Estland und Lettland.16 In einigen Fällen hat das zu separatistischen Bestrebungen und territorialen Abspaltungen geführt, wie in Süd-Ossetien und Abchasien gegenüber Georgien, in Transnistrien gegenüber Moldawien, und seit 2014 besonders drama­tisch in der Ukraine. In einem Klima gutnachbarschaftlicher Beziehungen, Kooperation und internationaler Entspannung wären solche Probleme lösbar. Dass Straßburg einmal deutsch war, spielt heute keine Rolle mehr, weil es eingebettet ist in kooperative, friedliche Strukturen. In einem Klima der Konfrontation und des Kalten Krieges erstarrt so etwas jedoch zu eingefrorenen Konflikten die dann von der Gegenseite instrumentalisiert, und schnell wieder zum heißen Konflikt werden.

Ökonomie: Mit seinem sozio-ökonomischen System - ein Mix aus Neoliberalismus, Staats­ka­pi­ta­lismus und Resten sowjetischer Strukturen - ist es den weitaus dynamischeren USA (und auch China) gegenüber weit unterlegen (s. Tabelle 1). In Kaufkraftparitäten gemessen liegt sein BIP hinter Deutschland und vor Frankreich und Großbritannien. In Wechselkursparitäten kommt es nicht einmal unter die ersten Zehn des globalen Rankings, was allerdings an der Schwäche des Rubels liegt. Vom enormen Rohstoffreichtum des Landes werden vor allem Öl und Gas sowie Metalle genutzt. Im Hinblick auf den globalen Trend zur Dekarbonisierung beginnt neuerdings auch eine Orientierung auf Rohstoffe, die für die ökologische Wende benötigt werden, darunter Kobalt, Kupfer und seltene Erden, von denen große Mengen in sibirischem Boden liegen. Zudem verfügt Russland mit 63,8 Petawattstunden p.a.17 über die mit Abstand weltweit größten nutzbaren Windkraftkapazitäten. Die russische Landwirtschaft Entwickelt sich recht dynamisch. So ist das Land heute der weltweit größte Weizenexporteur.

Im für Weltmachtstatus wichtigen Bereich Spitzentechnologien kann Russland nur bei der Raumfahrt und Rüstungsgütern mithalten. In der Breite der technologischen Entwicklung ist es nicht Groß­macht.

Politisch beruht Russlands Großmachtstatus vor allem auf der ständigen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Seit geraumer Zeit ist auch eine Annäherung zu China im Gange, die den Charakter einer strategischen Partnerschaft angenommen hat. Ein Ergebnis des Ukraine-Krieg könnte sein, dass zwischen beiden Ländern die Lagerbildung verstärkt wird, wobei Russland vor allem ökonomisch und technologisch in die Rolle eines Juniorpartners geriete.

Die russische Soft-Power im Westen ist sehr gering.18 Schon seit geraumer Zeit ist im Westen eine sich steigernde mediale Feindbildproduktion im Gang. In den USA nahm sie McCarthyhafte Züge an, nachdem Hilary Clinton die Schuld an ihrer Wahlniederlage gegen Trump dem Kreml in die Schuhe schob. Mit dem Ukraine-Krieg wird sich das Ansehen des Landes im Westen vollends ins Minus drehen. Allerdings sieht das in China, Indien und so manchen Ländern Afrikas und Lateinamerikas anders aus. So ist z.B. Indiens Neutralität in diesem Krieg bemerkenswert. Sie bestätigt, dass die Transformation der Weltordnung zum Polyzentrismus nicht nur von China und Russland getragen wird. Von daher ist es eine Illusion, man könne Russland international isolieren und zu einem großen Nord-Korea machen.


16Golbeck, Matthias (2013): Russland, die baltischen Staaten und ihre Minderheiten. Arbeitspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien, Berlin
171 Petawatt = 1.000 Terawatt
18Ganz im Gegensatz zur Sowjetzeit, als es weltweit Kommunistische Parteien gab, die mit Moskau sympathisierten.

Dennoch lässt sich unterm Strich festhalten, dass in der globalen Auseinandersetzung um die Struktur des Internationalen Systems Moskau gegenüber den USA aus einer strategischen Defensive agiert.

4.4. Die EU und ihre Machtressourcen

Seit geraumer Zeit strebt die EU einen Platz im Club der Weltmächte an. Es gibt kaum mehr ein Statement aus Brüssel, in dem nicht die Sehnsucht zum Ausdruck kommt, in der geopolitischen Champions League mitzuspielen. Um den Aufbau der Hardpower, d.h. militärische Fähigkeiten, voran­zu­treiben, wurde dazu die sog. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) intensiviert, gemein­same Rüstungsprojekte vor allem der großen Mitgliedsstaaten darunter ein Kampfflugzeug der neuen Generation und ein Panzer in deutsch-französischer Kooperation.19

Aber Wollen ist eine Sache, Können eine andere. So gibt es gute Gründe daran zu zweifeln, dass die EU Weltmacht wird. Denn sie ist kein Staat wie die USA, China oder Russland, sondern ein Hybrid aus einer Allianz von Nationalstaaten und Elementen supranationaler Staatlichkeit. Das ist eine kompli­zierte Schönwetterkonstruktion, die nicht über die Handlungsfähigkeit eines großen Nationalstaates verfügt und zudem seit einem Jahrzehnt von multiplen Krisen überrollt wird - von der Finanz- und Eurokrise, über die Flüchtlingskrise, den Brexit bis zu Corona.

Eine wirkliche strategische Autonomie, die der französische Präsident Macron in seiner Sorbonne-Rede 2017 proklamierte, wurde schon mit Bidens Amtsantritt unwahrscheinlich. Erst recht jetzt mit dem Ukraine-Krieg. Der transatlantische „Schulterschluss,“ auf den ersten Blick Wohlfühlexempel für Völkerfreundschaft, ist nüchtern betrachtet die Eingliederung der EU als subalterner Juniorpartner in das Lager der USA.

Washington ist es damit einmal mehr gelungen, eines seiner ältesten außenpolitischen Prinzipien Geltung zu verschaffen: Kooperation zwischen Westeuropa und Russland unbedingt zu blockie­ren.
Diese Doktrin war bereits die Grundlage der US-Eindämmungsstrategie im Kalten Krieg 1.0 wie sie von dem damaligen Außenminister Dean Acheson (1949 -1953) prominent vertreten wurde, später von Henry Kissinger (Außenminister im Vietnam-Krieg) und danach dem einflussreichsten Vor­den­ker der US-Geopolitik, Zbigniew Brzeziński.20 Das wurde nach dem Ende der Sowjetunion fort­ge­setzt. In den o.g. zitierten US-Verteidigungsrichtlinien heißt es dazu: „Wir müssen darauf achten, dass es keine auf Europa zentrierten Sicherheitsvereinbarungen gibt, welche die NATO untergraben könnten.“21 Das richtete sich gegen das Konzept Gorbatschows vom Gemeinsamen Haus Europa, und das auch in Westeuropa durchaus Anklang gefunden hatte. So heißt es noch in der Präambel des Minsk II-Abkommens: „Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich unverändert zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik,“ wie Hollande, Merkel, Poroschenko und Putin unterschrieben.

5. Die ukrainische Eskalationsgeschichte22

Die ukrainische Eskalationsgeschichte ist zum einen Teil der weltpolitischen Konstellation, wie sie hier skizziert wurde. Die Ukraine soll seit langem zum Außenposten in der Globalstrategie der USA ausgebaut werden. Zum anderen hat sie auch ihre eigene Dynamik. Der für die Konfliktgeschichte entscheidende Ausgangspunkt ist das in 4.3. erwähnte Problem, dass es nach dem Ende der UdSSR an der Peripherie Russlands in den 14 neu entstandenen Staaten23 russische Minderheiten mit entsprechendem Konfliktpotential gab,24 sowie in Kombination damit die US-Strategie der Eindäm­mung Russlands.

In jungen Staaten gibt es zudem die generelle Tendenz zu starkem Nationalismus. In der Ukraine ist er besonders aggressiv, und erhielt nach dem Maidan-Umsturz offiziellen Status. Russisch wurde als Amts­sprache verboten, auch andere Minderheiten, wie die ungarische kamen unter Druck einer rigo-            


19S. ausführlicher dazu: Wahl, Peter (2022): Die Illusion von der europäischen Armee. In: Jacobin. 1.1.2022.
20Brzezinski. Zbigniew (2016): The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostrategic Imperatives. New York
21Greiner 2021, S. 164
22Wir beschränken uns hier auf die Grundzüge und wichtigsten Stationen der Vorgeschichte des Krieges. Eine detaillierte Darstellung findet sich auf der Homepage der Informationsstelle Militarismus (IMI).
23Estland. Lettland. Litauen. Belarus. Moldawien. Ukraine. Georgien. Armenien. Aserbeidschan, Kasachstan. Usbekistan. Turkmenistan. Tadschikistan. Kirgistan.
24In einigen Fällen gibt es aus ähnlichen Gründen auch Konflikte zwischen den postsowjetischen Staaten. wie der Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan.

rosen Ukrainisierung. Die geschichtsrevisionistische Erzählung vom sog. Holodorm,25 sowie die Heroi­sie­rung von Nazi-Kollaborateuren und Verantwortlichen für Judenpogrome wurden zum Natio­nal­mythos.

Der Maidan, anfangs als Protest gegen Korruption und Oligarchen durchaus nicht ohne Legitimität, geriet bald unter rechtsextreme Hegemonie und wurde rasch geopolitisch instrumentalisiert. Der dama­lige deutsche Außenminister Westerwelle und die EU-Außenbeauftragte Ashton traten auf dem Maidan auf. Am stärksten involviert waren die USA mit der damaligen Botschafterin Nuland, berühmt geworden durch ihre Verachtung gegenüber Versuchen der EU („Fuck the EU“), eigenständige Inte­ressen in der Krise 2014 zu verfolgen. Eine vernünftige politische Lösung, unter Beteiligung der fran­zö­si­schen und deut­schen Außen­mi­ni­ster, nämlich Neuwahlen binnen einiger Monate später, wurde durch den Umsturz zunichte gemacht. Dennoch erkannte der Westen das neue Regime in Kiew sofort an.

Anlass dieser Konfliktetappe war der EU-Assoziierungsvertrag. Das Land war jahrhundertelang Teil des russischen Reiches. Der Vertrag erzwingt aber eine scharfe Kappung unzähliger historisch gewach­sener Verbindungen. Ein legitimes Interesse Russland, in einem dreiseitigen Verstän­di­gungs­pro­zess auch seine Interessen eine gewisse Berücksichtigung zu gewähren, wie das das z.B. bei der Trennung Großbritanniens von der EU der Fall war, wurde von Brüssel ignoriert.

Der Gegenschlag folgte dann mit dem Unabhängigkeitsreferendum auf der Krim, rechtlich mit dem Selbstbestimmungsrecht gerechtfertigt,26 und die anschließende Integration der Halbinsel in die russi­sche Föderation. Die Regie dafür wurde in Moskau geführt. In Zentrum stand dabei das russi­sche Interesse, den Flottenstützpunkt in Sewastopol nicht in die Hände der NATO fallen zu lassen. Ein Blick auf die Landkarte zeigt auch ohne Studium an der Bundeswehrakademie, dass der Hafen der Schlüssel zur militärischen Kontrolle des nördlichen Schwarzen Meeres ist.

In einem informellen Referendum im Donbass, vergleichbar etwa der Abstimmung, wie sie Kata­lo­nien durchgeführt wurde, erklärten sich Donezk und Luhansk für unabhängig. Die Regierung Poro­schenko erklärte die Separatisten zu Terroristen und schickte Armee und rechtsextreme Frei­schärler. Russland unterstützte die Separatisten mit Waffen und Beratern, was mit einer mili­tä­ri­schen Nieder­lage Kiews endete.

Die damaligen Kräfteverhältnisse wurden dann in dem Minsker Abkommen (Minsk II) fest­ge­schrieben. Kiew blockierte von Anfang an die Umsetzung von Minsk II, und von seinen west­li­chen Garan­tie­mächten Frankreich und Deutschland kam außer Worten keine praktische Initiative. Statt­dessen gab es im Donbass einen Krieg niedriger Intensität, dem 14.000 Menschen zum Opfer fielen. In der Ukraine wird also nicht erst seit dem 24. Februar geschossen.

Die Haltung des Westens zu Minsk II ermutigte Kiew eine ihm genehme Lösung der Probleme vor­zu­be­reiten. Im Dekret Nr. 117 des ukrainischen Präsidenten vom 24.3.2021 wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um ,die vorübergehende Besetzung‘ der Krim und des Donbass zu beenden. Die Regierung wurde beauftragt, einen entsprechenden ,Aktionsplan‘ zu entwickeln.“

Die Reaktion Moskaus war jene Doppelstrategie, die der Westen schon länger für sich reklamiert: Dialog und Stärke. So forderte Putin einerseits den Stopp der NATO-Ausdehnung, keine Stationierung von Angriffswaffensystemen an den russischen Grenzen und eine Rückführung der NATO-Infrastruk-tur auf den Stand von 1997, als die NATO-Russland Akte vereinbart wurde. Zum anderen ließ er Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren.

Die USA beharrten kompromisslos auf der Verweigerung von Sicherheitsgarantien für Moskau und demonstrierten so einmal mehr, dass sie nicht bereit sind, das Prinzip der gleichen und ungeteilten Sicherheit zu akzeptieren.

Darauf folgte dann als Eskalationsstufe neuer Qualität der russische Angriff.

Putin rechtfertigt ihn mit seiner Bedrohungswahrnehmung: „Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben.“ Es kann sein, dass er das tatsächlich so sieht, es kann auch sein, dass es nur vorge­schoben ist, so wie Tony Blair vor dem Angriff der Koalition der Willigen auf den Irak behaup­tete,         


25In Anspielung auf den Begriff Holocaust wird eine Hungersnot in den 1930er Jahren, die durch die stalinistische Landwirtschaftspolitik in vielen den Agrarregionen der Sowjetunion ausbrach, zu einem absichtsvoll auf die Ukraine gezielten Völkermord umgedeutet.
26Nicht nur das Referendum brachte eine deutliche Mehrheit, auch westliche Meinungsumfragen kamen zum Ergebnis, dass die große Mehrheit der Bevölkerung zu Russland gehören will: Pew Research Center (2014): Despite Concerns about Governance, Ukrainians Want to Remain One Country. Washington. S. 6

Hussein könne innerhalb 45 Minuten Mittelstreckenraketen mit biologischen oder chemischen Spreng­köpfen abschießen.

Wie auch immer, hier stellt sich ein Grundproblem internationaler Beziehungen unter den gegen­wär­tigen Umständen: die Rolle von Bedrohungswahrnehmungen und Feindbildern. Polen und Balten fühlen sich von Russland bedroht. Israel fühlt sich vom Iran bedroht. China fühlt sich von den USA bedroht. Der Iran fühlt sich von den USA bedroht. Taiwan fühlt sich von Peking bedroht. Armenien fühlt sich von Aserbeidschan bedroht. Man kann diese Liste noch lange fortsetzen. In allen Fällen kann es sein, dass etwas dran ist, ebenso wie es möglicherweise Propaganda sein kann - oft wohl auch eine Mischung aus beidem.

Die in Abschnitt 2. und 3. skizzierten Verhältnisse führen also generell zu einem Klima des Misstrauens in den internationalen Beziehungen.27 Das kann man nicht mit Worten abbauen nach dem Motto Aber-wir-wollen-euch-doch-gar-nichts-tun, oder ist-doch-in-Wirklichkeit-nicht-so-schlimm, sondern geht nur durch Taten. D.h. hier wird die Bedeutung einer Politik vertrauensbildender Maßnahmen deutlich, die Schärfe und Spannungen aus dem System herausnehmen. Wenn Russland meint, die NATO an ihren Grenzen sei eine Bedrohung, was spricht dann eigentlich dagegen, dass die NATO sich den Grenzen fernhält? Überhaupt nichts, es sei denn die NATO verfolgt tatsächlich die Absicht, Spannungen zu erzeugen und Russland unter Druck zu setzen.

6. Kompromissfrieden statt Sieg und Rache

Zu jedem Zeitpunkt in einer Eskalationsspirale gibt es Alternativen. Die gab es zwischen Dezember 2021 und dem 24. Februar, als die Situation sich zuspitzte. Und es gibt sie auch, nachdem der Krieg begonnen hat, vorausgesetzt die entscheidenden Akteure haben den politischen Willen dazu.

Gegenwärtig fordern Teile der Friedensbewegung von ihren Regierungen Waffenlieferungen an die Ukraine und/oder scharfe Sanktionen u.ä. Schritte gegen Russland, die von den NATO-Regierungen aber ohnehin schon längst unternommen werden. Sie begeben sich damit ins Schlepptau der NATO.

Gefragt ist dagegen eine Friedenspolitik, die „vom systemischen Charakter der internationalen Bezie­hungen und damit einem dritten Standpunkt ausgeht.28 Entscheidendes Kriterium für eine dritte, autonome Position jenseits von NATO und Russland muss sein, was das Beste für die Menschen in der Ukraine ist. Und das sind Maßnahmen, die so schnell wie möglich zum Ende des Krieges führen. Gefragt ist eine Paketlösung, deren Kern darin bestünde, die Kampfhandlungen zu beenden und die russischen Truppen zurückzuziehen, und die Russland Sicherheitsgarantien gibt und Verhandlungen zur Lösung der übrigen strittigen Fragen, wie Status des Donbass etc. beginnt.

Und es gilt, die Zeit nach dem Ende des Krieges in den Blick zu nehmen. Mit der Klimakatstrophe steht die Menschheit vor einer historisch einmaligen Herausforderung. Sie ist nur zu meistern, wenn an die Stelle von Machtpolitik, Rüstungswettlauf und Kriegen, eben Entspannung, Koexistenz und Koope­ra­tion treten.

Wir werden uns in weiteren Hintergrundpapieren mit Themen beschäftigen, die im Rahmen des vorliegenden Textes nicht oder nur andeutungsweise behandelt werden konnten. So z.B. mit den Zusammenhängen zwischen Binnenverfasstheit von Staaten und deren Außenpolitik, darunter die Imperialismusfrage, der Sicht des Globalen Südens und die Auswirkungen der Großmachtpolitik und des Ukraine-Krieges auf ihn, sowie der Rolle Chinas.



27Daher denken Militärs ja auch immer in worst-case-Szenarien.
28Wahl, Peter: Krieg und Frieden in der multipolaren Welt-Un-ordnung. In: Demirovic, Alex et al. (2021): Das Chaos verstehen. Welche Zukunft in Zeiten von Zivilisationskrise und Corona? Hamburg. S. 97

Anhang

Tabelle 1. BIP ausgewählter Länder im Vergleich. Absolut/Pro Kopf &
in Kaufkraft- und Wechselkursparitäten29
BIP absolut BIP pro Kopf
in Kaufkraftparität In Wechselkursparität in Kaufkraftparität in Wechselkursparität
Billionen USD Tausend USD
laufende Preise
1. China 29,38 18,46 20.670 12.990
2. USA 24,80 24,80 74.730 74.730
3. Indien 11,35 3,25 8.080 2.310
4. Japan 5,97 5,38 47.840 43.120
5. Deutschland 5,20 4,50 62.400 54.650
6. Russland 4,70 1,70 32.210 11.660
7. Frankreich 3,55 3,14 54.180 47.950
8. UK 3,54 3,44 52.250 50.880
9. Italien 2,80 2,27 48.520 38.170

Quelle: IWF, World Economic Outlook 2021 (October), datamapper:

https://www.imf.org/external/datamapper/datasets/WEO Aufgerufen 12.3.2022

Tabelle 2: Rüstungsausgaben - Die Spitzenreiter Mrd. USD, in konstanten Preisen (2019)30

2000 2010 2020
USA 475,2 865,3 778,2
China 41,2 129,4 252,3
Indien 30,3 50,0 72,9
Russland 23,6 49,8 61,7
UK 48,7 63,2 59,2
Saudi Arabien 30,8 53,6 57,5
Deutschland 42,4 41,0 52,8
Frankreich 45,0 48,4 52,7

Quelle: SIPRI Database: https://sipri.org/sites/default/files/Data%20for%20all%20countries%20from%201988-
2020%20in%20constant%20%282019%29%20USD%20%28pdf%29.pdf

Aufgerufen: 12.3.2022




29Meist wird das Bruttoinlandsprodukt in Wechselkursparität angegeben. Nachteil ist, dass eine Auf- oder Abwertung der nationalen Währung eine Volkswirtschaft über Nacht stärker oder schwächer aussehen lässt. KKP legt dagegen einen Warenkorb zugrunde der die inländische Kaufkraft wiedergibt. Eine volkstümliche Erklärung liefert der sog. Bic Mac Index. Die Fast-Food-Frikadelle, überall auf der Welt gleich, kostet in New York 4,50 $ in Oslo jedoch 8,50 $, in Peking 2,50$ und in Neu Dehli 1,20$ (jeweils in Landeswährung). Die Preisunterschiede entstehen durch die unterschiedlichen Herstellungskosten. Was für den Big Mac gilt, gilt für alle inländischen Produkte und Dienstleistungen, bis hin zum Kampfflugzeug.
30Auch hier gilt das in der vorigen Fußnote genannte Problem: für Länder mit einem hohen Anteil inländischer Rüstungsproduktion (vor allem China und Russland) dürften die Zahlen bei einer Erfassung in Kaufkraftparitäten deutlich höher liegen.