Aufrüstung

Wie ich die Bombe lieben lernte

Eine Kolumne von Nikolaus Blome

Die nabelpulende Aufarbeitung der deutschen Putin-Nähe lenkt nur ab vom Offenbarungseid der Bundeswehr. Es braucht Atomwaffen.

25.04.2022, 15.43 Uhr

Flugabwehrraketen Foto: Anton Petrus / Getty Images

Etliche Konservative und die neue Nationallinke haben sich unlängst sehr empört, als der ukrainische Präsident so brüsk den Bundespräsidenten auslud. Ich gestehe: Mir hat es irgendwie gefallen. Wenigstens für ein, zwei Minuten, man konnte es im Fernsehen gut beobachten, war die so oft bräsig selbstgewisse Fassade Steinmeiers erschüttert. Das war es wert, den Falschen hat es jedenfalls nicht getroffen. Mir gefällt auch, dass diese McPomm-»Umweltstiftung« von Kremls Gnaden jetzt filetiert wird und zutage tritt, wie willfährig und vor allem knalldoof Manuela Schwesig Nord Stream 2 retten wollte.

Und trotzdem beginnt der grassierende Alles-oder-nichts-Exorzismus, mir auf die Nerven zu gehen. Noch zwei Wochen, und jeder deutsche Politiker, Unternehmer oder Journalist, der in den letzten 20 Jahren mal Putins Hand geschüttelt hat, muss sich vor öffentlichen Tribunalen rechtfertigen (Disclaimer: Ich habe es Anfang 2016 bei einem Interview getan). Ja, die deutsche Politik der einbindenden Nähe zu Russland ist gescheitert, aber ich finde, das ist eindeutig schade und ebenso eindeutig die Schuld Wladimir Putins. Können wir uns darauf einigen? Oder gerät als Nächstes die Ostpolitik Willy Brandts in Bierverschiss und die Freundschaft Kohls mit Gorbatschow?

Nikolaus Blome >

Foto: Daniel Reinhardt / DPA

Jahrgang 1963, war bis Oktober 2019 stellvertretender Chefredakteur und Politikchef der »Bild«-Zeitung. Von 2013 bis 2015 leitete er als Mitglied der Chefredaktion das SPIEGEL-Hauptstadtbüro, zuvor war er schon einmal stellvertretender »Bild«-Chefredakteur. Seit August 2020 leitet er das Politikressort bei RTL und n-tv.

Die Rache der Rechthaber ist umso mehr ein Ärgernis, als dass sie den wahren Skandal vernebelt, der für die Zukunft wesentlich relevanter ist: den Offenbarungseid der Bundeswehr. Der Kanzler und die Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt, Frau Lambrecht, erklären wortreich, dass man der Ukraine aus Bundeswehrbeständen nun nichts Nennenswertes mehr zu liefern vermöge. Allein: Wenn es zu viel verlangt ist, ein Dutzend schwere Haubitzen abzutreten, mit was genau soll Deutschland im Fall des Falles verteidigt werden? Hängt an diesem Dutzend Haubitzen etwa die Landesverteidigung, mithin die Abschreckungsfähigkeit der Nato? Wenn ja, dann gute Nacht. Wer »beim Bund« war wie ich, der wendet sich mit Grausen ab. Diese Bundeswehr kann vielleicht einen hohlen Zahn füllen, aber nicht das Fulda Gap.

Der Grund: Unsere Armee befindet sich in einem Zustand flecktarngrüner Wohlstandsverwahrlosung. Jahr um Jahr bekam sie zuletzt mehr als 40 Milliarden Euro, aber sie hat nicht, was gebraucht wird, weshalb sie nicht kann, was sie können müsste. Wo ist das Geld geblieben, was hat es gekauft? Kanonen, Panzer, Flugzeuge und Munition oder warme Unterhosen waren es nicht, aber was dann? Bleistifte im Beschaffungsamt, in Kafkas Schloss zu Koblenz? Ein System, in dem 40 bis 50 Milliarden pro Jahr wirkungslos versickern können, veratmet genauso leicht auch ein auf fünf Jahre gestrecktes 100-Milliarden-Sondervermögen. Das wäre mir weit eher einen Untersuchungsausschuss wert als die Frage, ob die Stegners und Mützenichs der deutschen Sozialdemokratie noch alle Schrauben im Zaun haben, wenn sie über Russland twittern.

Deutschland sollte militärisch nicht erpressbar werden, nur weil wir uns selbst immerfort böse Absichten unterstellen.

Und machen wir uns nichts vor: In Sachen Sicherheit sind wir von den USA abhängiger als in Sachen Energie von Russland. Deshalb drängt die Zeit. Wenn Putin sich im Amt hält und Trump die nächste US-Wahl gewinnt, ist die Bundeswehr Ende 2024 weitgehend auf sich selbst gestellt – und 82 Millionen Deutsche werden sich sehr abrupt für ihre Kampffähigkeit interessieren. Donald Trump würde nämlich weder für Deutschland noch für Europa einen Atomkrieg riskieren, geschweige denn einen führen. Kein Land auf unserem Kontinent, die Nato-Mitglieder eingeschlossen, wäre noch sicher vor Putins Erpressung. Und dann?

Die Aufrüstung der Bundeswehr ist da gut und schön, aber es wird Zeit, »out of the box« zu denken, und immerhin haben in den vergangenen Wochen viele Gruppen, Parteien und Politprominente das Wörtchen »undenkbar« vorerst aus ihrem politischen Wortschatz gestrichen. Und ja, so darf nicht undenkbar bleiben, dass Deutschland sich atomar bewaffnet. Dass es mit Frankreich einen gemeinsamen Atomschirm über die EU spannt. »L’Europe qui protège«, ein »Europa, das beschützt«, wollte Emmanuel Macron und meinte zu Beginn den Schutz vor den Unbilden der Globalisierung. Dann kam Corona, und der Satz passte erst recht. Wegen Putin passt er für lange Zeit noch besser.

Ich denke nicht, dass die dunkle Seite der deutschen Geschichte es politisch erzwingt oder moralisch gebietet, für ewig auf Atomwaffen zu verzichten. Deutschland sollte militärisch nicht erpressbar werden, nur weil wir uns selbst immerfort böse Absichten unterstellen. Eine Gesellschaft wie die deutsche würde nicht geostrategisch aggressiver, wenn sie wieder eine funktionierende Armee hätte oder die Bombe.

Und so sehr meinesgleichen gewohnte Gewissheiten schätzt und sich nur ungern trennt: In der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es vorerst keine mehr. Man sollte deshalb neu abwägen, welchen Sinn der Atomwaffensperrvertrag hat, wenn die Atommacht Russland gerade ein Land massakriert, das alle Atomwaffen auf seinem Territorium einst freiwillig abgab. Hätte Wladimir Putin die Ukraine auch dann überfallen, wenn sie noch Atomwaffen hätte? Vermutlich nicht, und das will auch für Deutschland etwas heißen.

Der Bundeskanzler hat im Gespräch mit dem SPIEGEL seiner Furcht vor einem Atomkrieg Ausdruck verliehen. Wenn er damit nicht nur taktisch plänkelt, sondern sie ernst nimmt, dann braucht es erst eine Debatte und dann die Bombe für Deutschland. Denn es sind Atomwaffen, die den Atomkrieg bis heute verhindert haben.