Neue Weltordnung

Wie Russland und China den Westen überholen

Von Thomas Fazi | 22. März 2022 | Makroskop

Bild: Kremlin.ru, CC BY 4.0/wikimedia.org

Im Schatten des Ukraine-Krieges ist eine radikale geopolitische Neuausrichtung im Gange, die den Niedergang der amerikanischen globalen Vormachtstellung beschleunigt. Während sich der Westen konsolidiert, entkoppelt er sich vom Rest der Welt.

Im vergangenen Jahr haben sich die Nato-Länder unter Führung der USA bemüht, den Rest der Welt zu militärischer Hilfe für die Ukraine und zu Sanktionen gegen Russland zu bewegen. Russland, so die Hoffnung, sollte isoliert werden. Beides ist im Großen und Ganzen nicht gelungen. Westliche Vertreter mögen darauf hinweisen, dass 141 von 193 Ländern eine kürzlich verabschiedete UN-Resolution unterstützten, in der Russland zum Rückzug aus der Ukraine aufgefordert wird. Zu den 32 Ländern, die sich der Stimme enthielten, gehörten jedoch Riesen wie China, Indien, Pakistan und Südafrika – die allein rund 40 % der Weltbevölkerung ausmachen.

Trotz der Versuche des Westens, den Konflikt zu „globalisieren”, haben nur 33 Länder – die etwas mehr als ein Achtel der Weltbevölkerung repräsentieren – Sanktionen gegen Russland verhängt und Militärhilfe an die Ukraine geschickt: das Vereinigte Königreich, die USA, Kanada, Australien, Südkorea, Japan und die EU. Mit anderen Worten, die Länder, die direkt unter dem Einflussbereich der USA stehen, was meist eine bedeutende US-Militärpräsenz miteinschließt.

Die übrigen Länder, die fast 90 % der Weltbevölkerung ausmachen, haben sich geweigert, diesem Beispiel zu folgen. Wenn überhaupt, dann hat der Krieg die Beziehungen Russlands zu einer Reihe wichtiger nicht-westlicher Länder gestärkt, darunter China und Indien, und die Entstehung einer neuen internationalen Ordnung beschleunigt, in der nicht Russland, sondern der Westen zunehmend isoliert dasteht.

Seit der Invasion hat China den Import von russischem Öl, Gas und Kohle enorm gesteigert, während es in die andere Richtung weitaus mehr Maschinen, Industrieprodukte und hochwertige Elektronik exportiert; der bilaterale Handel ist um mehr als 30 % gestiegen. Die beiden Länder haben sich auch zu umfangreichen Investitionen und Infrastrukturprojekten im Rahmen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit verpflichtet, der weltweit größten regionalen Gruppierung gemessen an der geografischen Ausdehnung und der Bevölkerungszahl. Zu ihr gehören auch Indien, Pakistan, der Iran und alle wichtigen zentralasiatischen Republiken. Aufgrund der westlichen Sanktionen sind sie außerdem gezwungen, sich auf den Handel zwischen Rubel und Yuan zu beschränken, anstatt den Dollar zu verwenden, was den Status des Yuan als Reservewährung gestärkt hat.

Kampf um die zukünftige Weltordnung

Anlässlich des Jahrestags der russischen Invasion im vergangenen Monat erklärte Wang Yi, Pekings ranghöchster Diplomat, China sei entschlossen, „die chinesisch-russische Freundschaft zu stärken und zu vertiefen” und „eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit in allen Bereichen zu fördern”. Noch bedeutsamer ist, dass die beiden Länder zunehmend mit einer Stimme über die Notwendigkeit einer ausgewogeneren internationalen Ordnung sprechen und ihre Zusammenarbeit ausdrücklich als eine strategische Zusammenarbeit bezeichnen, die darauf abzielt, die Dominanz des Westens in globalen Angelegenheiten zu schwächen. Vor allem China hat sich implizit die von Außenminister Sergej Lawrow vertretene Ansicht Russlands zu eigen gemacht, dass „es hier überhaupt nicht um die Ukraine geht. (...) Es ist ein Kampf darum, wie die zukünftige Weltordnung aussehen wird”.

Die zunehmend aggressive Haltung Amerikas gegenüber China hat unter Pekings Eliten nur den Eindruck verstärkt, sich in einem existenziellen Überlebenskampf mit Russland gegen den Westen zu befinden. Erst kürzlich erteilte Xi der US-Politik eine ungewöhnlich scharfe Rüge, in der er Washington vorwarf, eine Kampagne zur Niederwerfung Chinas zu führen: „Westliche Länder – angeführt von den USA – haben gegen uns eine Politik der umfassenden Eindämmung, Einkreisung und Repression betrieben und damit die Entwicklung unseres Landes auf eine noch nie dagewesene Weise behindert”, wurde er von staatlichen Medien zitiert.

Das ist eine deutliche Abkehr von Chinas traditionell gemäßigter Haltung. Zuvor hatte das chinesische Außenministerium ein ungewöhnlich kritisches Dokument mit dem Titel „Die Hegemonie der USA und ihre Risiken” veröffentlicht. Darin heißt es, Amerika habe sich „in die inneren Angelegenheiten anderer Länder eingemischt, eine Hegemonie angestrebt, aufrechterhalten und missbraucht, Subversion und Infiltration gefördert und vorsätzlich Kriege geführt, die der internationalen Gemeinschaft Schaden zufügen”.

Zutiefst ambivalente Sicht auf den Ukraine-Konflikt

Das Problem für die USA und den Westen besteht darin, dass diese Botschaft in großen Teilen der Welt auf Resonanz stößt. Viele nicht-westliche Länder sind der Meinung, dass die USA nicht in der Position sind, andere Länder über die Unantastbarkeit von Souveränität, territorialer Integrität, internationalem Recht und der so genannten regelbasierten Ordnung zu belehren. Sie sind sich bewusst, dass die USA diese Grundsätze schon früher verletzt haben – zuletzt mit den katastrophalen Invasionen und Bombenangriffen auf den Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien. Deshalb löst der Versuch des Westens, den Konflikt in der Ukraine als moralischen Kampf „Gut gegen Böse” darzustellen, außerhalb des Westens Unbehagen aus, insbesondere in den Ländern, die das Opfer westlicher Kolonialbestrebungen waren.

Dazu passend veröffentlichte die Washington Post im vergangenen Monat eine Reihe von Interviews mit Menschen in Südafrika, Indien und Kenia und folgerte, dass diese „eine zutiefst ambivalente Sicht auf den Konflikt haben, die weniger von der Frage geprägt ist, ob Russland mit der Invasion Unrecht hatte, als vielmehr von aktuellen und historischen Ressentiments gegenüber dem Westen”.

Für mehrere Länder geht es nicht nur darum, dass sie nicht bereit sind, ihre eigenen Interessen für die Ukraine zu opfern, sondern auch darum, gegen den Westen Stellung zu beziehen. Clement Manyathela, ein beliebter südafrikanischer Radiomoderator, brachte das wie folgt zum Ausdruck:

„Als Amerika in den Irak einmarschierte, als Amerika in Libyen einmarschierte, hatten sie ihre eigenen Rechtfertigungen, die wir nicht glaubten, und jetzt versuchen sie, die Welt gegen Russland aufzubringen. (...) Ich sehe immer noch keine Rechtfertigung für die Invasion eines Landes, aber wir können uns nicht vorschreiben lassen, wie wir mit dem russischen Vorgehen in der Ukraine umgehen. Ich habe ehrlich gesagt das Gefühl, dass die USA versucht haben, uns zu schikanieren.”

Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass Südafrika zu den Ländern gehört, die sich für eine Vertiefung der Beziehungen zu Russland entschieden haben. Während eines Besuchs von Lawrow im Januar bezeichnete die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor die beiden Länder als „Freunde” und lobte ihre „wachsenden bilateralen Wirtschaftsbeziehungen” sowie ihre „politische, wirtschaftliche, soziale, verteidigungs- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit”. Am auffälligsten war die Teilnahme Südafrikas an den Militärübungen mit Russland und China im vergangenen Monat.

Auch Indien hat sich dem Westen in der Ukraine-Frage offen widersetzt. Kürzlich gab das Land bekannt, dass sein Handel mit Russland seit der Invasion im Februar 2022 um 400 % zugenommen habe, was vor allem auf einen 700 %igen Anstieg seiner Einfuhren von Erdölprodukten zurückzuführen sei – eine Folge der Weigerung, sich an die vom Westen auferlegte Obergrenze für russische Ölpreise zu halten. Russland bleibt zudem auch Indiens größter Waffenlieferant. In dem Bemühen, diese Entscheidungen zu rechtfertigen, hat die indische Regierung die historische Bedeutung ihres Bruchs mit dem westlichen außenpolitischen Regime explizit herausgestellt: „Indem es die westliche Darstellung des Ukraine-Konflikts nicht akzeptiert, hat Indien seinen Standpunkt vertreten, und dieser Standpunkt hat Indiens Ansehen in der Welt erhöht”, schrieb Venkatesh Varma, Indiens ehemaliger Botschafter in Russland.

Wie lange wird das so bleiben? Die jüngsten Entwicklungen tragen nicht dazu bei, dass sich das globale Gleichgewicht zugunsten des Westens verschiebt. Einerseits wird immer deutlicher, dass die NATO-Strategie in der Ukraine nicht funktioniert: Nicht nur, dass die Ukraine schwere Verluste hinnehmen muss, während der Westen nicht in der Lage ist, die ukrainische Nachfrage nach Munition und Ausrüstung zu befriedigen. Auch haben die Sanktionen nicht nur die westlichen Länder, sondern auch die Entwicklungsländer getroffen. Andererseits ist die Finanzkrise, die durch den Zusammenbruch der Silicon Valley Bank ausgelöst wurde, ein weiteres Beispiel für die Instabilität des westlichen hyperfinanzialisierten Kapitalismus.

„Der Westen wird als ein Pol einer multipolaren Welt leben müssen”

Erst letzte Woche hat das internationale Standing Amerikas durch ein historisches Abkommen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, das von China vermittelt wurde (der saudische Außenminister hielt sich übrigens in Moskau auf), einen weiteren Schlag erlitten. Im Rahmen des Abkommens hat sich der Iran bereit erklärt, die Bewaffnung der Houthis im Jemen einzustellen und damit möglicherweise den Weg für eine Lösung des seit neun Jahren andauernden Krieges im Jemen geebnet. David H. Rundell, ehemaliger Missionschef an der amerikanischen Botschaft in Saudi-Arabien, wies darauf hin, dass das Abkommen als „Wendepunkt für den chinesischen Einfluss im Nahen Osten” betrachtet wird und gleichzeitig den ohnehin schon schlechten Ruf der USA in der Region weiter untergräbt.

All diese Entwicklungen sind Anzeichen dafür, dass eine radikale geopolitische Neuausrichtung im Gange ist, die den Niedergang der amerikanischen globalen Vormachtstellung beschleunigt. Eine aktuelle globale Studie des von der EU finanzierten European Council on Foreign Relations mit dem bezeichnenden Titel „United West, divided from the rest” bestätigt diese Entwicklung: so näherten sich die USA und Europa zwar immer mehr an, entfremdeten sich aber politisch zunehmend vom Rest der Welt. Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine „markiert sowohl die Konsolidierung des Westens als auch die Entstehung der seit langem angekündigten post-westlichen internationalen Ordnung”. Und diese ist durch Multipolarität, also den starken Wunsch nach einer gleichmäßigeren Verteilung der globalen Macht auf mehrere Länder gekennzeichnet. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass es selbst dann, wenn die Ukraine den Krieg irgendwie gewinnen sollte, „höchst unwahrscheinlich” ist, dass eine liberale Weltordnung unter Führung der USA wiederhergestellt wird. Stattdessen „wird der Westen als ein Pol einer multipolaren Welt leben müssen”.

Die Studie entspricht den Ergebnissen einer Erhebung, die im Oktober letzten Jahres vom Bennett Institute for Public Policy der Universität Cambridge durchgeführt wurde und auf Daten aus 137 Ländern beruht, die 97 % der Weltbevölkerung repräsentieren. Während einige Länder der oberen Einkommensschichten in Südamerika, im asiatisch-pazifischen Raum und in Osteuropa proamerikanischer geworden sind, kam die Studie zu dem Ergebnis, dass „in einer großen Anzahl von Ländern, die sich vom eurasischen Kontinent bis in den Norden und Westen Afrikas erstrecken, das Gegenteil zu beobachten ist – Gesellschaften, die sich im Laufe des letzten Jahrzehnts China und Russland angenähert haben”. Zum ersten Mal liegen China und Russland in ihrer Beliebtheit bei den Entwicklungsländern – also bei der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung – knapp vor den USA.

Als sich Xi und Putin am vergangenen Montag zusammensetzten, um über die Zukunft der Ukraine zu sprechen, war die Bedeutung dieses Vorgangs offenkundig. China und Russland entkoppeln sich nicht vom Westen; vielmehr entkoppelt sich der Westen vom Rest der Welt.

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Thomas Fazi ist italienischer Schriftsteller, Journalist und preisgekrönter Filmemacher.