Minsk II: Das endgültige Ende der westlichen Seriosität

von
Roberto J. De Lapuente am 20.02.2023 bei Neulandrebellen

Das Minsker Abkommen diente nur dem Zeitgewinn, nicht der Befriedung. So hat Angela Merkel unlängst beleuchtet. François Hollande bestätigte ihre Auslegung. Wie will die EU, ja wie will der Westen, je wieder als seriöser Verhandlungspartner auftreten?

Umfangreich behandelt wurde Angela Merkels Aussage, man habe mit den Abkommen um Minsk I und II der Ukraine Zeit verschaffen wollen, damit die militärisch nachrüste, natürlich in den »Qualitätsmedien« nicht. Viel mehr stellten sie die Aussage als eine Art Versprecher hin – wieder mal: Das wollte sie doch eigentlich gar nicht sagen, las man, weswegen das vielleicht auch gar nicht stimme. Denn eines ist doch klar: Wir, der Wertewesten, machen keine verlogenen Deals. Die anderen durchaus. Aber wir nicht!

Dass man ein solches Abkommen nur lanciert hat, um langsam aber sicher den Russen einen wehrfähigen Feind präsentieren zu können, und nicht, wie es das Abkommen eigentlich beabsichtigte, um die Region halbwegs zu befrieden, ist mehr als nur ein Bauerntrick: Eigentlich zeigen Europäische Union und der Westen im Allgemeinen damit, dass sie als Partner ausgedient haben. Man kann kein Vertrauen (mehr) zu ihnen haben. All jene Nationen, die sich der unipolaren Weltordnung entziehen wollen – und das sind nicht wenige –, können sich bestätigt fühlen: Dem Westen ist nichts heilig und jedes Mittel recht, um am Drücker zu bleiben.

»Das Verdienst der Minsker Vereinbarungen«

Merkels Aussage, dieser Ausrutscher, wurde übrigens später von ehemaligen französischen Präsidenten Hollande bestätigt. Gegenüber der Kyiv Independent sagte er Ende letzten Jahres, dass

»die Minsker Vereinbarungen […] die russische Offensive für eine Weile gestoppt«

habe. Und weiter erklärte er:

»Es war sehr wichtig zu wissen, wie der Westen diese Atempause nutzen würde, um weitere russische Versuche zu verhindern. Seit 2014 hat die Ukraine ihre militärische Position gestärkt. Die ukrainische Armee war in der Tat völlig anders als die von 2014. Sie war besser ausgebildet und ausgerüstet. Es ist das Verdienst der Minsker Vereinbarungen, der ukrainischen Armee diese Möglichkeit gegeben zu haben.«

Der Zeitgewinn war also nicht einfach nur ein Nebenprodukt, auf das man schielte: Es war das Verdienst dieser Minsker Vereinbarung, dass es dazu kam: Und damit im Grunde das Hauptanliegen dieser »Übereinkunft«.

François Hollande weiß wovon er spricht, er war seinerzeit als französischer Staatschef ganz nahe an allen europäischen Händeln beteiligt, eben auch bei der Minsker Vereinbarung. Wenn er spricht, wenn er Merkel bestätigt, dann ist das keine Ferndiagnose, bei der offen ist, ob sie zutrifft oder nicht: Es sind Einblicke, die das Geschehen von damals unter neuen Gesichtspunkten betrachten lassen.

Europa hat damals also eine Vereinbarung unterzeichnet, deren Niederschrift gar nicht so gemeint war. Es hat sich für einen Kniff, eine Betrugsmasche entschieden. Getrickst und gelogen. Und gleichzeitig hat es sich neben seinen transatlantischen Partner gestellt und laut betont, dass der Westen Werte vertrete, die nicht verhandelbar seien. Transparenz ist eine dieser Werte, Ehrlichkeit setzt man ohnehin voraus. Denn der Westen wolle der Welt Demokratie und Fairness bringen, Frieden und Perspektiven. Ein Liebesimperium quasi, das nie und nimmer auf Täuschung und Maskerade setzen würde.

Wer soll mit diesem Wissen dem Westen noch trauen?

Ja, Europa kann gar nicht darauf setzen, denn es widerspräche geradezu dem charakterlichen Wesen dessen, was Wir hier sind. Lug und Trug, Bluff und Illusion: Das sind doch die Vorgehensweisen derer, die sich von uns drastisch unterscheiden. Die Nordkoreaner und Chinesen etwa – und die Vereinigten Staaten, aber nur unter Donald Trump. Und Russland natürlich. Solche Nationen üben sich in betrügerischen Machenschaften. Aber Europa, ein Europa unter deutscher Federführung zumal: Niemals!

Nun wissen wir seit einiger Zeit, dass Minsk I und II nicht die Waffenruhe anstrebte, sondern quasi als Ruhe vor dem Sturm gemeint war. Viel berichtet wird darüber nicht, aber es scheint klar zu sein, dass der Wertewesten ohne den vermeintlich sendungsbewussten Wertebezug eine Vereinbarung unterschrieb. Wer soll diesem Westen denn noch jemals trauen?

Die Welt schaut doch heute schon skeptisch auf dieses Imperium. Ganz anders, als man uns das gemeinhin vermittelt. Die »regelbasierte Weltordnung« hat sich als kannibalistische Hackordnung enttarnt. Andere Länder streben auf, sie wollen im globalen Getümmel mitmischen, ihren Wohlstand mehren und hinterfragen ganz richtig, warum ausgerechnet der Westen weiter die Deutungshoheit für sich beanspruchen sollte. Im Zuge des Ukraine-Krieges kann man das gut beobachten. Nur 38 Länder haben im Juli 2022 Sanktionen gegen Russland verabschiedet – 38 von 191 UN-Mitgliedsstaaten!

Dabei sind die und waren, die nicht für Sanktionen stimmten, noch nicht mal auf Russlands Seite, viele ächten sogar diesen Krieg. Aber die Skepsis gegenüber einem westlichen Imperium, das selten hielt was es versprach, hat dazu geführt, dass man sich aus Prinzip von westlichen Vorgaben distanziert. Man hat genug von den wirklichen westlichen Werten, die diesen Globus dominieren. Ehrlichkeit, Offenheit, Demokratie, Transparenz und Fairness sind jedenfalls nicht gemeint, wenn der Rest der Welt an Uns denkt.

Westliche Trias: Doppelmoral, Selbstgerechtigkeit, Überheblichkeit

Die Wahrheit, die über die Minsker Vereinbarung ans Licht kam – und die so sträflich vom hiesigen Journalismus ignoriert wird – stellt ein Problem für den Westen dar: Denn der Rest der Welt sieht sich bestätigt. Mit diesem in sich nicht geschlossenen, aber doch oft gemeinsam agierenden Imperium, lässt sich nun nicht mal mehr etwas schwarz auf weiß vereinbaren: Selbst ein Papier, das den Frieden herstellen soll, hat eigentlich Kriegsabsichten in seiner Syntax.

Neu ist das für die BRICS-Staaten, Schwellen- und Entwicklungsländer nun wahrlich nicht. Sie kennen die westlichen Werte, die gemeinhin aus der Trias aus Doppelmoral, Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit bestehen. In einem Gesicht zusammengefasst sieht das aus wie: Annalena Baerbock – oder wie Ursula von der Leyen. Man weiß im Rest der Welt, dass das »We come in peace!« was anderes bedeuten kann. Und oft ja auch bedeutet hat. Peace ist in diesem Kontext eine Warnung. Nicht erst seit Minsk demnach, aber hier war es eben noch mal exemplarisch.

Die westliche Welt ist dabei sich zu isolieren. Das was sie über Russland erzählt, nämlich dass das große Reich im Osten Europas und Asien in Isolation gerät, ist das Schicksal eines Westens, dem über Jahrzehnte die Glaubwürdigkeit abhandengekommen ist.

Und genau als solches muss man den Trick von Minsk begreifen: Als Ausdruck des westlichen Versagens, sich als fairer Partner aufzuführen. Wer die Welt so dominieren will, verliert früher oder später eben das: Die Welt. Sie wird gut ohne einen Westen auskommen, der nicht verlässlich ist. Und das zu analysieren: Das wäre Aufgabe der Politwissenschaften. Die aber schweigen oder halten ukrainische Flaggen hoch und sinnieren über westliche Kampfjets, die bald über Moskau fliegen sollten. Kurz gesagt, sie hängen westlichen Werte nach: Insbesondere der Selbstgerechtigkeit.