Der Untergang des Abendlandes: Oswald Spengler in der heutigen Welt
Erschienen am 13. November 2022 bei expmx.com (von Morpheus)
Zeitlosigkeit des Denkens und Sehens in der Weltpolitik ist ein seltenes Zeichen
von Größe. Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“, geschrieben
vor genau einem Jahrhundert, verdient dieses Prädikat. Das Werk liest sich, als
wäre es gestern entstanden.
Der deutsche Geschichtsphilosoph Oswald Spengler schrieb 1922, dass sich die
jahrhundertealte westeuropäisch-amerikanische Zivilisation in allen
Erscheinungsformen des Lebens einschließlich Religion, Kunst, Politik, sozialem
Leben, Wirtschaft und Wissenschaft in einem permanenten und unwiederbringlichen
Niedergang befindet. Für ihn zeigte sich die politische, soziale und
ideologische Dimension dieses Niedergangs im Versagen der westlichen politischen
Klasse auf beiden Seiten des Atlantiks.
Er sah Politiker, die meist in Großstädten lebten, verzehrt von Ideologie und
Verachtung gegenüber stillen Mehrheiten und beschrieb sie als „eine neue Art
von Nomaden, die instabil in fließenden Massen zusammenschlüpfen, der
parasitäre Stadtbewohner, traditionslos, völlig sachlich, religionslos, klug,
unfruchtbar und zutiefst verachtend gegenüber dem Landsmann“. Heutzutage
entspricht die in Brüssel ansässige Führung der EU durch ihre wiederkehrende
Verachtung für die nationale Souveränität dieser Definition voll und ganz.
Spengler glaubte, dass Dekadenz in der Politik die Vorherrschaft der Ideologie
über das Handeln bedeutet. „Männer der Theorie begehen einen großen Fehler,
wenn sie glauben, dass ihr Platz an der Spitze und nicht im Zug großer
Ereignisse liegt“, schrieb er, ohne zu wissen, wie wahr dies heute ist. Gerade
sahen wir den Sturz der britischen Premierministerin Liz Truss, die die
Wirtschaft auf dem Altar der Ideologie opferte.
Das Dogma, das den sozialen Zusammenhalt und den Wohlstand zerstört, ist auch
bei der Zerstörung der Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes in
Europa präsent, wenn Politiker billige russische Energie gewaltsam verweigern
oder wenn das zwergenhafte Litauen einen Kampf mit China zur Verteidigung der
„Souveränität“ Taiwans aufnimmt. Angesichts dieser Ereignisse hätte der
deutsche Denker seine Behauptung wiederholt, dass „der politische Doktrinär
immer weiß, was getan werden muss; trotzdem ist seine Tätigkeit, wenn sie sich
einmal nicht auf das Papier beschränkt, die erfolgloseste und damit die
wertloseste in der Geschichte“.
Wenn wir dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck oder seiner Kollegin im
Außenamt Annalena Baerbock zuhören, die über das Primat der grünen Agenda
dozieren oder darüber, wie die militärische Unterstützung der Ukraine
fortgesetzt werden muss, unabhängig davon, was die Wähler denken, können wir
nicht umhin, uns an die vernichtende Frage des Schriftstellers zu erinnern:
„Ich frage mich, wenn ich das Buch eines modernen Denkers zur Hand nehme,
was er vom Tatsächlichen der Weltpolitik, von den großen Problemen der
Weltstädte, des Kapitalismus, der Zukunft des Staates, des Verhältnisses der
Technik zum Ausgang der Zivilisation, des Russentums, der Wissenschaft
überhaupt ahnt.“
Die „regelbasierte internationale Ordnung“, jenes westliche Axiom, das aus
der Euphorie nach dem Kalten Krieg entstand und zur Rechtfertigung der
US-Hegemonie verwendet wurde, erinnert uns an den Aphorismus des
Schriftstellers, dass nichts einfacher sei, „als an Stelle von Gedanken, die
man nicht hat, ein System zu begründen“. „Aber selbst ein guter Gedanke ist
wenig Wert, wenn er von einem Flachkopf ausgesprochen wird“, kommt einem in
den Sinn, wenn wir die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen oder
den EU-Außenminister Josep Borrell das immer gleiche Mantra wiederholen hören.
„Allein die Notwendigkeit für das Leben entscheidet über den Rang einer
Lehre“, etwas, das vergessen wurde, da Europa den USA in einem
Wirtschaftskrieg, der den Kontinent ruiniert, blind folgt.
In Bezug auf die Konfrontation des Westens mit China hob Spengler das
traditionelle Unverständnis westlicher Politiker für die Protagonisten des
chinesischen Denkens hervor, die mit einem 4.000-jährigen Blick auf die
Geschichte ihren Platz in der Welt verorten, verglichen mit dem westlichen engen
Zeitrahmen, der von den Ereignissen seit 1500 geprägt ist. Diese in sich
geschlossene westliche Wahrnehmung der Geschichte negiert die Weltgeschichte,
sagt er und fügt hinzu, dass die Weltgeschichte in den Augen des Westens unser
Weltbild ist und nicht das der gesamten Menschheit.
Der amerikanische Exzeptionalismus, die gefährliche Vorstellung, dass die
Werte, das politische System und die Geschichte der USA dazu bestimmt sind, die
führende Rolle der Welt zu spielen, wird infrage gestellt, wenn er darauf
hinweist, dass es so viele Moralvorstellungen wie Kulturen gibt, nicht mehr und
nicht weniger, und dass jede Kultur ihren eigenen Standard besitzt, dessen
Gültigkeit damit beginnt und endet. Eine Aussage, die die Notwendigkeit einer
multipolaren Welt erklärt.
Sosehr es politisch korrekt geworden ist, Nietzsches Ideen nach seiner
Vereinnahmung durch die Nazi-Ideologie zu kritisieren, bekräftigte Spengler,
dass Nietzsches Grundkonzept des Willens der Macht für die westliche
Zivilisation wesentlich ist, was im Einklang mit dem westlichen Glauben an die
Überlegenheit seiner Werte und der Notwendigkeit steht, sie anderen Kulturen
aufzuzwingen:
„Der westeuropäische Mensch steht hier unter dem Einfluss einer
ungeheuren optischen Täuschung, jeder ohne Ausnahme. Alle fordern etwas von den
andern. Ein ‚du sollst‘ wird ausgesprochen in der Überzeugung, dass hier
wirklich etwas in einheitlichem Sinn verändert, gestaltet, geordnet werden
könne und müsse. Der Glaube daran und an das Recht dazu unerschütterlich.“
Geld, Politik und Presse spielten in der westlichen Zivilisation eine zentrale
Rolle, erklärt Spengler. In der Politik „nährt“ Geld den demokratischen
Prozess, insbesondere bei Wahlen, wie es in den USA immer wieder der Fall ist.
Die Presse dient dem, dem sie gehört, und sie verbreitet keine „freie“
Meinung – sie erzeugt sie. „Was ist Wahrheit? Für die Menge das, was man
ständig liest und hört.“
Was die Pressefreiheit betrifft, so werden wir daran erinnert, dass jedem
erlaubt ist zu sagen, was er oder sie will. Aber die Presse ist frei, dies zur
Kenntnis zu nehmen oder nicht. Die Presse kann jede „Wahrheit“ zum Tode
verurteilen, indem sie jegliche Kommunikation darüber unterlässt – „eine
furchtbare Zensur des Schweigens, die umso allmächtiger ist, als die
Sklavenmasse der Zeitungsleser ihr Vorhandensein gar nicht bemerkt“.
Auffällige Parallelen bestehen zwischen der heutigen Armut in US-Städten und
Spenglers Beobachtung des alten Roms zur Zeit des Crassus, der als
Immobilienspekulant auch an Donald Trump erinnert. Das römische Volk wird als
„in entsetzlichem Elend in den vielschichtigen Herbergen dunkler Vororte“
dargestellt, ein Unglück, das direkt mit den Folgen des römischen
Militärexpansionismus zusammenhängt und auf die aktuellen Zustände in
Detroit, Cleveland oder Newark hindeutet.
„Der Untergang des Abendlandes“ wurde früher als Epilog des Ersten
Weltkriegs gelesen, des Krieges, der alle Kriege beendete. Hoffentlich wird es
in der heutigen Welt nicht als der Beginn neuen Unglücks gelesen.
Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache beim RonPaul Institute.
Oscar Silva-Valladares ist ein ehemaliger Investmentbanker, der in Nord- und
Lateinamerika, West- und Osteuropa, Saudi-Arabien, Japan, den Philippinen und
Westafrika gelebt und gearbeitet hat. Derzeit bietet er strategische Beratung in
Finanzfragen in Schwellenländern an.
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