Florence Gaub bei Markus Lanz:
Vielleicht sind Russen ja doch auch Europäer?

Dieser Artikel erschien in der

Der völkerkundliche Ausritt der Politologin Florence Gaub jüngst bei Markus Lanz war, na ja, kritikwürdig. Ein paar politisch inkorrekte Gedanken dazu.


Author - André Mielke
20.04.2022 | 06:34 Uhr

Der Unterhaltungskünstler Gordon Sumner, genannt Sting, lebte Mitte der 1980er in New York. Bei einem Freund, der sowjetisches Fernsehen empfangen konnte, lief das Moskauer Kinderprogramm. Die Sendung sei sehr liebevoll gemacht gewesen, schwärmte Sting später. Er habe sich deren Schöpfer unmöglich so vorstellen können, wie UdSSR-Insassen im Westen bisweilen gezeichnet wurden – „als graue, untermenschliche Automaten, die nur gut genug waren, um sie in die Luft zu jagen“. Aus diesem Eindruck entstand „Russians“, ein Song über das Gleichgewicht des Schreckens und die Hoffnung, dass auch auf der anderen Seite mindestens ein Herz für Kinder schlägt: But what might save us, me and you/ is if the Russians love their children too.

Die Expertin antwortete nicht das Übliche

Schön, nicht? So, nun die schlechte Nachricht: Das Gesummsel könnt ihr vergessen. Zwar sympathisieren auch die Bürger der Russischen Föderation mit ihren Leibesfrüchten, das schon. Ein wenig. Aber nicht zu sehr. Eltern russischer Soldaten etwa verfolgen das Schicksal ihrer gen Kramatorsk kampfhubschraubernden Söhne entspannter als die Helikoptermutter vom Kollwitzplatz den Schulweg ihres talentierten Theobald.

Das ist nicht meine Idee. Diesen Schluss ziehe ich aus einem völkerkundlichen Ausritt der Politologin Florence Gaub jüngst bei „Markus Lanz“. Dessen Frage war, warum es an Putins Heimatfront kaum Proteste gegen den Angriffskrieg gebe. Die Expertin antwortete nicht das Übliche – also, dass die Untertanen indoktriniert seien und bei Widerworten hinter Gittern landeten. Sondern: „Wir dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, es keine Europäer sind, jetzt im kulturellen Sinne“, dass sie „einen anderen Bezug zu Gewalt, zum Tod haben“. Es gebe „nicht diesen liberalen postmodernen Zugang zum Leben als ein Projekt, was jeder für sich individuell gestaltet“. Man habe dort eine eher geringe Lebenserwartung: „Dann geht man einfach anders damit um, dass da halt Menschen sterben.“ Die Hinterbliebenen reagieren halt – ich spitze sachte zu – etwas stumpf.

Die Lebenserwartung in der Ukraine liegt ein Jahr unter dem russischen Wert

Es geht also um den Russen an sich. Obwohl sich drei Viertel seines Volkskörpers auf dem Kulturkontinent befinden, passt er irgendwie nicht dazu. Wie das klingt. In einer deutschen Talkshow. Ich meine, es ist schon eine Weile her, dass hierzulande ähnliche Töne vor großem Publikum angeschlagen wurden. Mir steht es nicht zu, das Urteil der Fachfrau über die spezifische Rustikalität östlich siedelnder Ethnien anzuzweifeln. Sie ist Vizedirektorin des EU-Instituts für Sicherheitsstudien. Ich bin nur ein Schmierschmock und folge der Wissenschaft selbst dann, wenn sie mir vorkommt wie die Kunst der Feindbildhauerei.

Eine Frage noch: Die Lebenserwartung in der Ukraine liegt ein Jahr unter dem russischen Wert. Bedeutet das, dass den Einwohnern von Mariupol der Tod ihrer Nachkommen und Nachbarn tendenziell noch etwas schnurzer ist als den Russen die Opfer unter ihren Tätern? Im Gegenzug kann ich der in Paris wirkenden Dr. Gaub mit ostdeutscher Regionalkenntnis dienen: Obwohl die Leute dort extrem europäisch aussehen, scheinen mir postmoderne Lebenszugänge auch in der Magdeburger Börde schwächer entwickelt. Aber immerhin, die Toten werden individuell bestattet. Das passiert sogar in Vorpommern. Ich war selbst dabei und sah graue Automaten weinen. Vielleicht haben sie Gefühle.


Zusatzinformation vom Betreiber der Seite

Die betreffende Passage ist hier als Tondokument anhör- und downloadbar: